Fotostrecke

Budapest: Vorbereitung auf einen Machtwechsel

Foto: KAROLY ARVAI/ REUTERS

Ungarn Der Seiltänzer von Budapest

An der Donau kündigt sich ein Rechtsrutsch an: Das Lager von Viktor Orbán rechnet mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Den Wahlkampf aber bestimmt die extreme Jobbik-Partei.

Vor der Budapester Sankt-Stephans-Basilika steht die Staatsmacht mit dem Rücken zur Wand. Drei Polizisten, postiert im Schatten eines Jugendstilpalasts, verfolgen regungslos, wie vor ihren Augen die Nationale Front marschiert.

Das Kommando auf der Straße haben an diesem Tag Mitglieder von Bürgermilizen und Neonazi-Gruppen übernommen. In Springerstiefeln, Tarnzeug oder schwarzer Kampfmontur bilden sie Sperrketten und teilen die Menge.

50.000 Menschen sind vor der Rednertribüne versammelt. Im Ostwind knattern Fahnen, rot-weiß gestreift wie die Armbinden faschistischer Pfeilkreuzler im Zweiten Weltkrieg. Aus Lautsprechern hallt das Glaubensbekenntnis völkischer Prediger.

Ungarn

"Ungarn gehört den Ungarn", vernimmt die Menge, und dass israelische Investoren samt örtlichen Erfüllungsgehilfen gerade dabei seien, sich das Land mit seinen zehn Millionen Bürgern einzuverleiben: "Der Schekel stinkt nicht, und so kaufen sie auf." Die regierenden Sozialisten, warnt ein weiterer Redner, werde man "vom Erdboden tilgen" und Zigeuner zur Auswanderung ermuntern.

"Sie sollen gehen", fordert das Volk im Chor: "Sie sollen gehen."

Es ist Wahlkampf in Budapest, Höhepunkt der politischen Jagdsaison. Mit besonders grobem Schrot feuern dabei die Vertreter von Jobbik, der 2003 gegründeten "Bewegung für ein besseres Ungarn". Fast 15 Prozent der Stimmen hat die Partei bei den Wahlen zum Europaparlament voriges Jahr geerntet. Am 11. April, in der ersten Runde der Abstimmung über Ungarns neue Volksvertretung, bei der über die Liste der Parteien entschieden wird, will Jobbik noch zulegen.

Fast gleichauf mit den Sozialisten sind die Rechtsausleger unter Gábor Vona laut Umfragen schon jetzt. Der jungenhafte Volkstribun will im EU-Staat Ungarn das Außenministerium abschaffen, der "Zigeunerkriminalität" zu Leibe rücken und den leidigen "Trubel um den Holocaust" durch Themen von heute ersetzen: den überfälligen Kampf gegen die kriminelle Politikerkaste, gegen das internationale Großkapital und den Schandvertrag von Trianon 1920, der Großungarns Ende besiegelte. Vona sagt: "Am 11. April müssen wir auf den Tisch hauen. Und die Welt wird erbeben."

Staatsmann im Wartestand

Wie ein Chor harmloser Sängerknaben klingen, verglichen mit den Krakeelern von Jobbik, im Rückblick Jörg Haider und seine FPÖ. Deren Regierungseintritt im Jahr 2000 brachte Österreich Monate diplomatischer Ächtung durch die meisten EU-Länder ein. Ob Ungarns Volksparteien aus dieser Lektion gelernt haben, ist ungewiss.

"Das Monster vor unserer Tür" drohe die Inneneinrichtung der ungarischen Demokratie zu "zertrümmern", warnt Premier Gordon Bajnai und wirbt um Schulterschluss der gemäßigten Parteien. Im Wahlkampf aber sind er und die Sozialisten, die stärkste Kraft der Nach-Wende-Zeit, so gut wie unsichtbar. Gleiches gilt für die Konservativen von der Fidesz-Partei unter Ex-Premier Viktor Orbán, 46.

Orbán, heute Oppositionsführer, winkt eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Um den Wahlsieg nicht zu gefährden, vermeidet auch er klare Worte ans Volk. Er gibt den Staatsmann im Wartestand und überlässt die Bühne den Rechtsextremen.

Deren Aufführungen sind überall zu besichtigen - auch am helllichten Tag, mitten in Budapest, der Hauptstadt jenes Landes, das einst als "fröhlichste Baracke des östlichen Lagers" galt und Reformpolitiker hervorbrachte, die 1989 durch Öffnung des Eisernen Vorhangs die Nachkriegsordnung erschütterten - ein erster großer Schritt hin zum wieder geeinten, demokratischen Europa.

"Judenschwein, Judenschwein", schallt es nun vom Donau-Ufer zum Denkmal für den Freiheitsdichter Sándor Petöfi hinüber, wo sich gerade Budapests Oberbürgermeister aufgebaut hat. Er will eine Rede halten, doch die Polizei muss ihn schützen - vor Jobbik-Parteigängern und Passanten. "In die Donau mit dir", rufen sie dem Stadtoberhaupt zu. Zwei junge Männer recken den rechten Arm zum Hitlergruß, und es ertönt, erst zaghaft, dann lauter, der Ruf: "Ins KZ, ins KZ."

Gábor Demszky regiert Budapest seit 20 Jahren. Der Ex-Dissident war ein Liberaler der ersten Stunde. Nun steht er unweit der Stelle zwischen Kettenbrücke und Parlament, wo Pfeilkreuzler im letzten Kriegswinter Tausende Juden erschossen und in die Donau stürzten. Er ringt um Worte: "Dafür haben wir nicht gekämpft, dass eine sozialistische Diktatur nun durch eine nationalsozialistische ersetzt wird", ruft er dem Mob zu.

So weit ist es allerdings noch nicht. Auch wenn in Ungarns Hauptstadt neuerdings wieder offen über das von nicht-christlichen Liberalen, Medien- und Geschäftemachern beherrschte "Judapest" geraunt wird und das Magazin "Barikád" auf seiner Titelseite eine Fotomontage drucken darf, die den Benediktinermönch und Stadtpatron Gellért zeigt, wie er von seinem Budaer Hügel aus einen siebenarmigen Leuchter statt eines Kreuzes über der Donau-Stadt schwingt.

"Der Geist ist aus der Flasche, zurückstopfen lässt er sich nicht"

Zwei Ohrfeigen brauche es, mehr nicht, und der rechtsextreme Spuk sei beendet, hat Viktor Orbán wissen lassen. Auf ihm, dem Ex-Premier, der mit seiner Partei bis zu 60 Prozent der Stimmen erwartet, lasten Hoffnungen wie Zweifel der demokratischen Ungarn. Meint der Oppositionsführer es ernst mit seiner Wandlung vom Zündler zum Feuerwehrmann?

Niemand anders als Orbán, sagt sein Biograf József Debreczeni, sei verantwortlich für die Radikalisierung im Land. Weil der 2002 abgewählte Premier in der Folge die Bühne politischer Opposition vom Parlament auf die Straße verlegt habe. "Es kam dann wie im Bandenkrieg: Plötzlich taucht eine Gang auf, die noch brutaler ist" - Jobbik. Orbáns augenzwinkerndes Einverständnis mit dem rechten Rand der Gesellschaft, sagt Debreczeni, räche sich nun: "Der Geist ist aus der Flasche, zurückstopfen lässt er sich nicht."

In der "Schlacht für eine bessere Zukunft" müssten die Ungarn geeint "das Böse besiegen", und zwar am besten unter seiner Führung, sagt Orbán selbst. Der Jurist hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten wenig Zweifel daran gelassen, dass jedes Jahr ohne ihn als Premier ein verlorenes fürs Vaterland ist.

Parlamentssitzungen schwänzte Orbán seit seiner Wahlschlappe 2002 immer wieder oder verfolgte sie schweigend. Abseits des Hohen Hauses aber schmiedete er Bündnisse für die Rückkehr zur Macht. Vor allem, nachdem im Herbst 2006 eine interne Rede des sozialistischen Premiers Ferenc Gyurcsány vor Parteigenossen publik wurde, ein Dokument schonungsloser Selbstbezichtigung: "Ich bin fast daran verreckt, anderthalb Jahre lang so tun zu müssen, als würden wir regieren. Stattdessen haben wir gelogen, morgens, abends und nachts."

Orbán sprach fortan von der sozialistischen "Lügenregierung" und nutzte den sich in wochenlangen Krawallen Bahn brechenden Volkszorn wie Surfer die Welle.

Im öffentlichen Ansehen steht der Fidesz-Führer nun wieder glänzend da, das Gemeinwesen hingegen verheerend. Ganze 15 Prozent aller Ungarn vertrauen den Parlamentariern. Nur etwas mehr als jeder Zweite befürwortet noch ein Mehrparteiensystem. Die EU-Verdrossenheit hat einen europäischen Rekordwert erreicht. Zu Sozialismus-Zeiten schon chronisch überschuldet und seit 2008 von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt, hadern die stolzen Magyaren mit ihrer Rolle als Bittsteller auf europäischer Bühne.

Nur durch einen 20-Milliarden-Euro- Kredit von Internationalem Währungsfonds, Weltbank und EU war der Staatsbankrott abzuwenden. Nachdem das 13. Monatsgehalt gestrichen, das Rentenalter um drei Jahre und die Mehrwertsteuer um fünf Prozent angehoben wurden, sind die Reallöhne im Land sogar gestiegen. Doch für künftige Wohltaten fehlen die Mittel. Orbáns jüngste Rede zur Lage der Nation sei entsprechend unverbindlich ausgefallen, spottet der "Pester Lloyd": "Die Katzen blieben im Sack", weil im Staatshaushalt "keine Mäuse" mehr zu finden seien.

Ein paar Schritte abseits vom Budapester Ferenc-Deák-Platz, wo die Jobbik-Brandredner das Volk aufwiegeln, tun sich Mietskasernen-Schluchten aus der Kaiserzeit auf. Gebündelt wie Sonnenstrahlen im Brennglas treten hier die Symptome einer durch Systemwechsel und Globalisierung aus den Fugen geratenen Gesellschaft zutage.

Da liegen auf engstem Raum, zwischen stuckverzierten Fassaden, Einzimmer-wohnungen mit Toilette auf halber Treppe neben leerstehenden Luxus-Apartments. Laptop-bewaffnete Wendegewinner treffen auf trunksüchtige Frührentner, Sperrmüll sichtende Zigeuner und orthodoxe Juden unter breitkrempigen Hüten, die zur Kazinczy-Synagoge eilen.

"Hunde, die bellen, beißen nicht"

Blühendes Multikulti und magyarische Alltagstristesse, Korruption in der Spitze und Verelendung im unteren Drittel der Gesellschaft: Was Rechten und Rechtsextremen landesweit Wähler zutreibt - in der Elisabethstadt, dem ärmsten Budapester Viertel, ist es zu besichtigen.

Der sozialistische Ex-Bezirksbürgermeister sitzt, wie auch sein Kollege und 13 Stadträte aus der angrenzenden Theresienstadt, wegen Korruptionsverdachts seit Monaten in Haft. Der Sprecher der Roma beklagt, im besten Restaurant der Gegend über sein Wels-Gulasch gebeugt, eine Katastrophe, weil "höchstens zehn Prozent" seines Volks noch Arbeit hätten. Und der Parlamentskandidat von Jobbik sammelt draußen Punkte bei den Wählern. Er sagt: "Wir sind so etwas wie die letzte Hoffnung der kleinen Leute hier."

Ein paar Häuser weiter sitzt Rabbi Robbi, wie ihn Freunde nennen, Robert Fröhlich, Oberrabbiner der größten Synagoge Europas in der Dohány-Straße. Und erklärt - Kippa auf dem Kopf, Marlboro im Mund, Blackberry im Futteral - den Vormarsch der Rechtsextremen zu einer Gefahr nicht nur für die bis zu 100 000 Juden im Land. Sondern zu einer Bedrohung "für die ganze ungarische Gesellschaft" - weil nun deutlich werde, dass es an zivilem Widerstand fehle und an einer Justiz, die die Grundfesten der Demokratie zu schützen gewillt sei.

Andererseits, sagt der Rabbi - zu viel Ehre durch Aufmerksamkeit müsse den rassistischen und antisemitischen Schandmäulern auch nicht erwiesen werden: "Hunde, die bellen, beißen nicht."

Holocaust-Überlebende sehen das anders: György Konrád kennt die Hahnenfedern, die Jobbik-Extremisten jetzt wieder an den Mützen tragen, noch von früher - von den Gendarmen, den "Hahnenschwanzlern", die 1944 seine Eltern abholten, um sie nach Auschwitz verfrachten zu lassen. Sie kamen, anders als über eine halbe Million ungarischer Juden, mit dem Leben davon.

"Freiheit schließt die Freiheit ein, nicht lernen zu wollen"

György Konrád selbst versteckte sich in Budapest. Heute, mit 77 Jahren, spottet der preisgekrönte Schriftsteller und Moralist in seiner Budaer Wohnung bitter über die Wiederkehr der Gespenster von vorgestern nach dem Sieg über den Sozialismus: "Freiheit schließt die Freiheit ein, nicht lernen zu wollen." Der ehemalige Jungliberale Viktor Orbán bemerke erst jetzt, am Ende "seiner Wanderung vom linken zum rechten Pol" der politischen Landschaft, dass dort mit Jobbik "ein kleines Monster" herangewachsen sei. "Er hat die Neofaschisten hervorgezaubert", sagt Konrád, "jetzt werden sie ihm und seiner Partei zeigen, was er selbst früher seinen Gegnern gezeigt hat: wie alt sie aussehen."

Als begnadeter Seiltänzer über der Kluft war Orbán lange unangefochten: Er hatte in jungen Jahren mutig den Abzug der Sowjetarmee aus Ungarn gefordert und danach die Rolle des Hitler-treuen Reichsverwesers Miklós Horthy von Historikern in milderes Licht rücken lassen.

Das Budapester "Haus des Terrors", während Orbáns Amtszeit eröffnet, widmet den Großteil seiner Ausstellungsfläche der sozialistischen Diktatur. Und so verstehen heute nur noch vier Pro-zent der Wahlberechtigten unter 30 Jahren den Begriff "Holocaust". Gleichzeitig nimmt die Sehnsucht nach alter magyarischer Größe zu: nach den Zeiten des tausendjährigen ungarischen Königreichs.

"Viktor Orbán ist unser Lieblingspolitiker, und wir sind sein Lieblingsblatt", sagt András Bencsik, Chefredakteur der Wochenzeitung "Magyar Demokrata" - ein Mann, der unter der zukünftigen Regierung zu den mächtigen Publizisten im Land aufsteigen dürfte.

Er zählte zu den Vätern der paramilitärischen Ungarischen Garde, die 2008 gerichtlich verboten und dann als Neue Ungarische Garde wiedergegründet wurde. Ob die schwarze Uniform der Jobbik-Truppe nicht an die SS erinnere, an die Pfeilkreuzler gar? "Ein Witz", sagt Bencsik: "Auch Schornsteinfeger tragen Schwarz." Dass Orbán, Vizevorsitzender der christdemokratischen Europäischen Volkspartei, die Nähe von Männern wie Bencsik nicht scheut, irritiert auch wertkonservative Ungarn.

"Früher oder später wird die Geduld der Mehrheitsgesellschaft ein Ende haben"

Die Orbáns Partei nahestehende Zeitung "Magyar Hirlap" druckte 2008 den Appell, jüdischen Journalisten nicht mehr zu "gestatten, in das Becken des Landes zu pinkeln und hineinzuschnäuzen". Stattdessen gelte es, die Reihen zu schließen und die Juden draußen zu halten.

Der Text stammte von Zsolt Bayer, 1988 Gründungsmitglied der Fidesz und Besitzer von "Parteibuch Nummer 5", wie er sagt, er hat noch immer das Ohr des Chefs. "Wir sahen uns anfangs als die unbefleckte Generation", sagt Bayer im Rückblick: "Wir wollten die alten Spannungen in der Gesellschaft aufheben, zwischen Hauptstadt und Provinz, auch zwischen Juden und Nichtjuden. Es ist uns nicht gelungen." Inzwischen gehe es um den Fortbestand der ungarischen Nation: "Früher oder später", sagt Bayer leise, "wird die Geduld der Mehrheitsgesellschaft ein Ende haben." Erreicht Viktor Orbán mit seiner Partei die angestrebten zwei Drittel aller Mandate, dann hat er freie Hand für wegweisende Gesetzesänderungen: Die Immunität von Abgeordneten kann aufgehoben und die Strafverfolgung eingeleitet werden. Millionen in den Nachbarländern lebender Ungarn sollen mit Pässen ausgestattet werden. Auch Reformen am Wahlgesetz werden möglich.

Orbán sagt, er träume davon, dass Ungarns "Politik in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht von einem dualen Kraftfeld bestimmt wird", vom Dauerhader zwischen Sozialisten und Rechtskonservativen also, sondern von einer Politik, die "das ständige Regieren zum Ziel hat".

Den älteren Ungarn zumindest ist dieses Ziel noch vertraut. Aus Zeiten der ruhmreichen Sozialistischen Arbeiterpartei.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren