
Konrad Zuse: Rassenforschung am Rechner
Zeitgeschichte Rassenforschung am Rechner
Mitten im Wohnzimmer steht ein zwei Meter hohes Gerüst mit blinkenden Lämpchen. Hunderte blaue Relais-Schalter trommeln den Takt, klack-klack, klack-klack, klack-klack.
Die Zeit wird knapp. In einer Woche soll der wohl langsamste Computer der Welt fertig sein.
"Ich muss mich ganz schön beeilen", sagt Horst Zuse, 64. Er hat einen Lötkolben in der Hand, der Boden ist übersät mit Kabeln. Selbst nachts und am Wochenende arbeitet er.
Normalerweise lehrt der weißhaarige Herr als Dozent an der TU Berlin; doch in diesen Tagen ist er hauptamtlich als Sohn eines deutschen Genies tätig. In seiner Berliner Dachgeschosswohnung baut Horst Zuse jenen Apparat nach, den sein Vater 1941 entwickelte: die Z3, die erste frei programmierbare Rechenmaschine der Welt.
Der eigenwillige Bauingenieur wäre am 22. Juni 100 Jahre alt geworden. Sein Sohn reist quer durchs Land zu Festakten und Podien zu Ehren des Pioniers. Das Bundesfinanzministerium steht Pate für eine Zuse-Sonderbriefmarke, die seit vorigem Donnerstag verkauft wird, sowie für eine Sammlermünze aus Silber (Stückpreis 15 Euro) mit der Randschrift "Visionär zwischen null und eins".
Seit den Siebzigern als der Erfinder des Computers anerkannt
Jahrzehntelang blieb Zuse die Anerkennung verwehrt, denn kurz vor Weihnachten 1943 wurde die Z3 bei einem Luftangriff zerstört. Sein Patentantrag blieb unbearbeitet liegen. Schließlich baute Zuse den zerstörten Rechner im Jahre 1961 noch einmal - alles vergebens. Das Bundespatentgericht lehnte seinen Antrag 1967 ab, "mangels Erfindungshöhe". Damals galten Amerikaner als Erfinder des Computers.
"Diese Diskussion ist heute erledigt", sagt Horst Zuse. "Seit den Siebzigern ist der Vater weltweit als der Erfinder des Computers anerkannt."
Sein Ur-Computer lief mit einer Taktung von rund 5 Vorgängen pro Sekunde, milliardenmal langsamer als ein handelsüblicher PC heute. Doch Anfang der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts war dies eine technische Sensation. Zum Zuse-Mythos gehört auch, dass er die ersten Rechenmaschinen im Wohnzimmer seiner Eltern in Berlin zusammenlötete. Seine Begründung: "Ich war zu faul zum Rechnen."
Seine Freunde bastelten ihm Bauteile mit der Laubsäge, seine Schwester steuerte Geld bei, ein Onkel alte Ufa-Filmrollen, in denen der Code mit Löchern eingestanzt wurde - ein sehr deutsches Start-up anno 1936, ein Familienidyll.
Zuse selbst stellte sich als eher unpolitischen Visionär dar. Als der Krieg begann, entging er dem Frontdienst, weil er beim Flugzeughersteller Henschel arbeitete. Als Statiker berechnete er Flügelprofile für Gleitbomben. Später schrieb er: "Aber ich lebte vollkommen in der gerade erschlossenen Welt der neuen Ideen." In seiner Freizeit baute er Rechenmaschinen. Zwar demonstrierte er die Z3 Vertretern verschiedener Dienststellen; doch bevor der Rechner von den Nazis genutzt werden konnte, wurde er zerstört. Alles ganz harmlos also?
Zeit für eine kritische Neubewertung
Ausgerechnet im Jubiläumsjahr werfen Historiker nun die Frage auf: Stand der Computerpionier den Nazis näher als bisher bekannt? War die Rüstungsindustrie stärker an der Finanzierung seiner Tüfteleien beteiligt als angenommen?
Auch Wilhelm Füßl steht unter Zeitdruck. Der Leiter des Archivs am Deutschen Museum in München bereitet zum 100. Geburtstag eine Zuse-Sonderausstellung vor. Während der Katalog schon gedruckt wird, durchstöbert er weiter einen weitgehend ungehobenen Schatz: den Zuse-Nachlass, den die Witwe 2006 dem Deutschen Museum überlassen hat - 26 Regalmeter pralles Leben, Fotos und Skizzen, Tagebucheinträge, Rechnungen, Manuskripte, vieles davon in Kurzschrift.
Schon nach erster Sichtung der Dokumente fällt ein neues Licht auf den Computerpionier. Eine frühe Fassung seiner Autobiografie ist vollgekritzelt mit Streichungen und Änderungen. "Zuse hat sehr bewusst an seinem sauberen Bild gearbeitet", sagt Füßl. "Er hat vor allem vieles weggelassen."
Der Forscher zeigt einen Brief, den Zuse als Student an einen ehemaligen Lehrer schrieb: "Wenn Sie es selber noch nicht gemerkt haben, so werden Sie vielleicht lernen, dass man von Reichstagswahlen, Parlamenten, politischen Parteien Deutschlands Rettung nicht erwarten darf."
"Zuse argumentiert immer wieder nahe an nationalsozialistischen Ideologien", sagt Füßl. Er kramt ein grünes Zettelchen hervor, das noch für Aufsehen sorgen dürfte. Es ist eng beschrieben mit stenografischen Notizen aus dem Jahr 1942: Zuse erwägt darin, die "Verwandtschaftsbeziehungen von zwei beliebigen Menschen A, B zu berechnen" - unter anderem für die "Ahnenforschung" sowie die "Systematische Rassenforschung".
"Wir wollen den Mensch hinter der Maschine verstehen"
Stärker als bisher angenommen war der Bauingenieur Teil der NS-Rüstungsindustrie. Seine Rechner galten als wichtig für den "Endsieg", seine Firma war ein "Wehrwirtschaftsbetrieb". Das Luftfahrtministerium bestellte 1943 einen Rechner per Kriegsauftrag mit der Dringlichkeit "SS" ("Sonderstufe"). Dokumente belegen: Rüstungsbetriebe und NS-Institutionen finanzierten Zuses Computer mit über 250 000 Reichsmark. Bei Kriegsende brachte er seinen neuesten Rechner Z4 in Sicherheit: in einem Schuppen im Allgäu.
Ständig entwickelte er Nachfolgemodelle, über 250 Stück wurden bis 1969 verkauft. Erst als die Computer nach Erfindung der Mikrochips schrumpften, verlor Zuse den Anschluss. Bereits 1964 musste er seine Firma verkaufen, 1967 ging sie an Siemens.
Statt an Rechnern bastelte Zuse fortan am eigenen Mythos. In seiner Autobiografie "Der Computer, mein Lebenswerk" schwärmte er von seinem Stabil-Baukasten, von seiner Liebe zum Malen und zur Schauspielerei.
"Dieses Buch bestimmt leider noch immer die Zuse-Forschung", kritisiert Füßl, "aber jetzt ist es Zeit für eine kritische Neubewertung."
Ihm gehe es nicht darum, "Zuse ans Kreuz zu nageln", sagt der Münchner Archivleiter. "Wir wollen aber den Mensch hinter der Maschine und dem selbstgestrickten Mythos verstehen."
Behutsam zieht Füßl einen offiziellen Kriegsauftrag hervor. Auf der Rückseite hat Zuse 1948 penibel den Gesundheitszustand seiner Tochter notiert: Sie ist schlecht ernährt, statt Medizin gibt es "Einläufe mit Kartoffelmehl". Der junge Vater hatte befürchtet, "dass das kleine Würmchen es nicht überstehen werde".