
SPIEGEL-Gespräch "Die Moderne ist eine Haltung"
SPIEGEL: Herr Ingenhoven, vor 13 Jahren haben Sie den Wettbewerb für den neuen Hauptbahnhof in Stuttgart gewonnen. Zu sehen ist davon wenig. Stattdessen treffen sich die Gegner Ihres Entwurfs zu Montagsdemonstrationen und skandieren Ihren Namen, als gelte es, Ihren Skalp zu fordern. Haben Sie schon mal daran gedacht, alles hinzuschmeißen?
Ingenhoven: Nein, natürlich nicht. Aufgeben ist keine Option für mich. Das wäre anders, wenn ich von dem, was ich da tue, weniger überzeugt wäre. Ich habe mich auch viele Jahre nicht zum Projekt "Stuttgart 21" geäußert, ich hatte das Gefühl, meine Energien für die eigentliche Arbeit aufsparen zu müssen.
SPIEGEL: Gefällt Ihnen noch, was Sie vor über einem Jahrzehnt entworfen haben?
Ingenhoven: Ja. Sehr.
SPIEGEL: Ihren Gegnern missfällt fast alles. Da Sie den Bahnhof, der bisher ein Sackbahnhof ist, unter die Erde legen, entsteht überirdisch ein Platz. Die Lichtaugen, die Sie für diesen Platz entworfen haben, werden als "futuristische Pickel" verlacht. Außerdem provoziert Ihr Plan, die Seitenflügel des jetzigen Bahnhofsgebäudes abzureißen, heftigen Widerspruch. Das muss Sie doch frustrieren.
Ingenhoven: Nein, es frustriert mich nicht, ich verstehe manches nur nicht. Ich habe 1997 einen offenen, fairen Wettbewerb gewonnen, die Begeisterung war groß. Dann gab es noch ein Planfeststellungsverfahren. Das wurde 2005 mit einer Genehmigung abgeschlossen. Es konnten Eingaben gemacht werden. Es war also ein durch und durch demokratischer Prozess. Man wird doch dann irgendwann mit dem Bauen beginnen dürfen. Und das tun wir jetzt ja auch.
SPIEGEL: Dennoch empfinden viele Stuttgarter das Projekt als von oben verordnet. Die Gegnerschaft positioniert sich mit Begriffen wie Runder Tisch oder Montagsdemo als Bürgerbewegung von unten.
Ingenhoven: Die Leute haben ja das gute Recht, das Montagsdemonstration zu nennen, aber um es mal sehr ernst auszudrücken: Ich empfinde diesen Verweis auf die Demonstrationen in Leipzig vor der Wende als Missbrauch einer der vielleicht überzeugendsten Bewegungen, die es auf deutschem Boden überhaupt gegeben hat. Insofern würde ich anstelle meiner Gegner bescheidener sein. Ich würde schlicht sagen: Ich bin gegen den Abriss des Nordflügels. Das ist völlig in Ordnung, das kann man ja sein. Man darf aber bei allem Ärger, den wir jetzt haben, nicht vergessen, dass wir 1997, als wir den Wettbewerb für uns entschieden haben, jede Volksabstimmung gewonnen hätten.
SPIEGEL: Warum ist die Stimmung gekippt?
Ingenhoven: Wenn ein Projekt neu ist, wenn es überzeugend ist, sind die Leute angetan. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Bedenken kommen hoch. Dann die politische Dimension: Es standen einige Landtags- und Kommunalwahlen an. Wenn man sich als Politiker von anderen unterscheiden muss, dann nutzt man ein solches Projekt für seine Zwecke.
SPIEGEL: Die Grünen sprechen sich schon lange gegen "Stuttgart 21" aus. Aber wenn nicht einmal eine ökologisch geprägte Partei für ein Bahnhofsprojekt zu gewinnen ist, das mehr Menschen dazu bringen soll, mit der Bahn zu fahren, wen wollen Sie dann noch überzeugen?
Ingenhoven: Ich glaube nicht, dass die Grünen ursprünglich gegen das Projekt waren. Aber sie sind ja eine populäre Partei in Stuttgart und ambitioniert, einmal den Bürgermeister zu stellen. Sie meinen wohl, es wäre besser, zum Lager der Gegner zu gehören. Als ich den Wettbewerb gewann, war ich 37 Jahre alt und habe scherzhaft gesagt, schön, dass ihr einen jungen Architekten ausgesucht habt, ich werde wohl noch erleben, dass der Bahnhof fertig wird. Das war als Scherz gemeint. Jetzt werde ich darüber wohl eher 60 werden. Schon herb.
SPIEGEL: Zehn Jahre Baustelle mitten in der Stadt - können Sie nicht verstehen, dass das den Leuten nicht passt?
Ingenhoven: Das verstehe ich gut, einerseits. Andererseits haben wir doch eine schöne Perspektive vor Augen. Wenn der Bahnhof unter der Erde liegt, erweitert sich die Fläche der Innenstadt um 20 bis 30 Prozent. Wir haben jede Chance, einen nachhaltigen neuen Stadtteil zu entwickeln. Ich finde es schade, dass ich mich - nicht nur in Stuttgart - konfrontiert sehe mit einer Situation, in der es schwierig geworden ist, städtebauliche Veränderungen durchzusetzen. Also alles, was mit Mühen einhergeht, mit Baulärm, mit Sperren von Teilen einer Stadt. Je älter unsere Gesellschaft wird, desto weniger kann sie Einschränkungen akzeptieren.
SPIEGEL: Aber ist das nicht eine verständliche Überforderung? Die Menschen haben das Gefühl, dass zu viel Liebgewonnenes abgerissen wird und wenig Überzeugendes an dessen Stelle tritt.
Ingenhoven: Ja, ich verstehe das auch. In der Nachkriegszeit ist eine Menge abgerissen worden, was man nicht hätte abreißen müssen. Doch dass es jetzt bis dahin geht, die Dinge, die lange weg sind, wiederhaben zu wollen, das finde ich problematisch. Die Frauenkirche in Dresden sollte ein Ausnahmefall bleiben. Ich habe verstanden, dass man die wiederhaben wollte, das hatte einen großen emotionalen Mehrwert. Aber nun ist sie zum Tor geworden, durch das die Retro-Kohorte reitet. Überall wird rekonstruiert.
SPIEGEL: Wieso sollte das eine Projekt einen emotionalen Mehrwert haben und andere nicht?
Ingenhoven: Es ist ein Ausdruck des Scheiterns, dass die Generationen, die heute als verantwortlich gelten, es wagen, die Vergangenheit wie eine Trickkiste zu behandeln, aus der sie mal dieses, mal jenes herausziehen.
"'Stuttgart 21' ist ein emotionales Feuerwerk"
SPIEGEL: In Stuttgart tobt ein Kampf um das Vorhandene. Sie planen den Teilabriss des alten Bahnhofsgebäudes des Architekten Paul Bonatz, das 1927 fertiggestellt wurde. Das ist ein ganz anderer Fall als die Rekonstruktionen.
Ingenhoven: Vollkommen richtig, das Ding steht da. Aber ich würde mir wünschen, dass die Gegner sich intensiver damit auseinandersetzten, was wir mit dem Gebäude tun. Alles das, was Sie und ich unter Bahnhof verstehen - Zeitungen kaufen, Tickets besorgen, Reisen buchen -, findet später im alten Hauptgebäude statt. Ich hänge sicher einer anderen Architektur-Auffassung als Paul Bonatz an, aber ich bin ein Fan von diesen großen, kraftvollen Räumen, die er da geschaffen hat.
SPIEGEL: Historische Architektur hat für viele eine identitätsstiftende Funktion. Es ist offenbar sehr viel schwerer, über die Ästhetik der Moderne eine solche Identität zu schaffen. Sie gelten in Stuttgart als "kalter Modernist". Sind Sie das?
Ingenhoven: Nein. Gerade "Stuttgart 21" ist ein emotionales Feuerwerk. Es ist eine Gebäudeform, die wir damals mit Frei Otto entwickelt haben, der für die Sommerspiele 1972 das Münchner Olympiastadion mitentworfen hat - auch so ein modernes, aber emotionales Gebäude. Unsere Konstruktion versucht, ihre Poetik durch einen naturähnlichen Entwurfsprozess zu erlangen, nicht durch Dekoration.
SPIEGEL: Dennoch fehlt den Leuten das Vertrauen in die Moderne. Warum?
Ingenhoven: Unsere Väter haben so viel Neues gebaut. Und wenn man viel Gleiches tut und dabei womöglich Fehler macht, dann ist der Fehler natürlich groß, und er ist schwer zu korrigieren.
SPIEGEL: Das meiste wirkt austauschbar.
Ingenhoven: Natürlich. Und der Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Städte konnte ja auch nicht eingebunden sein in eine ansonsten gewachsene Stadt. Aber man darf nicht vergessen, dass das eine Ausnahme war. Jede Generation baut normalerweise drei bis fünf Prozent einer Stadt. Unsere Vätergeneration hat aber bis zu 60 Prozent einer Stadt gebaut. Und dadurch gibt es so ein Misstrauen gegenüber der Moderne. Für mich ist die Moderne aber kein Stil, sie ist eine Haltung, der man sich verpflichtet, weil sie fortschreitende Erkenntnis, Emanzipation, Authentizität und vieles mehr ermöglicht. Und dass man sich als Teil dieser Welt in der Jetzt-Zeit empfindet und nicht als jemand, der permanent nostalgisch ist.
SPIEGEL: Wir leben in einer Welt, in der das Chaos der Stile herrscht. Am besten drückt sich das in der sogenannten Blob-Architektur aus, die bis an die Grenzen der entwerferischen Möglichkeiten geht, mit enormen Ausbeulungen, und die damit die Vielfalt der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines Stils zeigt.
Ingenhoven: Das ist in der Tat seltsam, dass man jeden historischen Schnipsel erhalten will und trotzdem befördert, dass diese durchgeknallten Sachen gebaut werden. Dass beide Phänomene parallel existieren, kann ich mir nur so erklären, dass unsere Gesellschaft vor allem die exaltierten Events zulässt: Ich baue mir jetzt das Schloss neu, oder ich gönne mir den verrücktesten Architektenentwurf.
SPIEGEL: Möglicherweise zwingt uns die Krise, bescheidener zu werden. Der Hamburger Bürgermeister Ole von Beust gesteht, dass er heute dem Bau der teuren Elbphilharmonie nicht mehr zustimmen würde, das Berliner Schloss wird aus Kostengründen nun doch nicht gebaut.
Ingenhoven: Es war ja am Ende eher noch grotesker mit dem Schloss: ein Schloss ohne Kuppel und ohne Fassade. Ich habe mich ja früh an der Schloss-Debatte beteiligt und statt des für mich illegitimen Wiederaufbaus einen Central Park vorgeschlagen, in den dann wirklich nachhaltig gewollte Museumsbauten integriert werden. Jetzt ist die Gelegenheit, diese Debatte neu zu beleben. Ich freue mich, dass kommende Generationen nun in der Mitte Berlins eine Chance zur Gestaltung haben. Irgendwann kommt die richtige Idee für diesen Ort.
SPIEGEL: Was ist für Sie Schönheit?
Ingenhoven: Die schönsten Formen sind diejenigen, die im Lot sind. Bei den Dingen, die in der Natur vorkommen, ist fast alles notwendig. Aber es scheint uns selber in den Dingen, die wir erfinden, oft schwerzufallen, von den Unsinnigkeiten und dem Dekor Abstand zu nehmen. Das Dekor macht ja Dinge erst mal akzeptabler, es überbrückt etwas, eine zeitliche oder eine funktionale Distanz. Dennoch braucht man es nicht. Ich finde einen Paraglider schön oder ein Segelflugzeug oder ein America's-Cup-Segelboot. Sie würden die Menschen, die das konstruieren, nicht unter Todesdrohung dazu kriegen, irgendetwas an Bord zu haben, was sie nicht brauchen, nie, nie, nie.
SPIEGEL: Weil es bei den Dingen, die Sie da nennen, um Schnelligkeit geht. Aber schon bei einem Auto ist es egal, wie viel Chrom dran klebt.
Ingenhoven: Aber selbst hier sieht man, dass es in der ästhetischen Entwicklung eine Phase gab, in der es zu dem wurde, was es eigentlich sein sollte. Zuerst war das Auto eine Überbrückung. Man wollte von der Kutsche zum Auto. Natürlich ist man nicht direkt zum perfekten Typus gesprungen, das hat Jahrzehnte gedauert. In den Sechzigern oder Siebzigern gab es dann die Autos, die dieses Dekorative, dieses Standesdarstellende nicht mehr hatten. Für mich ist dieser Typus damit zu einem Höhepunkt gekommen. An den - jetzt mal bösartig gesagt - ostasiatischen Mercedes-Varianten hängen tatsächlich wieder so viele Kilogramm Chrom wie es das 40 Jahre lang nicht gegeben hat, weil für viele dort das Thema Auto relativ neu ist.
SPIEGEL: Was bedeutet Ihr Prinzip der Notwendigkeit, übertragen auf Bauten?
Ingenhoven: Ein Gebäude muss mir erlauben, dass ich auch zehn Jahre nach seiner Fertigstellung darin leben, lieben, leiden kann. Und in diesen übertriebenen Blob-Gebäuden ist mir halt sehr viel im Wege. Die sind enorm deterministisch. In gewisser Weise ist das Stuttgarter Bahnhofsgebäude von Bonatz ein Beispiel für ein gelungenes Gebäude, weil der Entwurf sogar in unserem Fall noch als Bahnhof nutzbar ist. Jede deterministische Architektur, die sich so enorm helfen lässt durch überproportionierte Tragwerke, ist nicht nur unnachhaltig, weil sie zu viel Aufwand betreibt für das, was sie erreichen will, sondern sie ist auch unnachhaltig, weil sie eben diese festgelegten Räume hat, in denen andere Nutzungen sehr selten sinnvoll stattfinden können.
SPIEGEL: Die Veranstalter der Expo in Shanghai nehmen für sich in Anspruch, eine Nachhaltigkeits-Expo geschaffen zu haben. Dort sind aber gerade sehr viele sogenannte Blob-Gebäude zu sehen. Ein Widerspruch?
Ingenhoven: Für mich fängt der Widerspruch schon viel früher an. Eigentlich finde ich das Motto der Expo sehr schön: eine bessere Stadt, ein besseres Leben. Das ist wirklich das, worüber wir nachdenken müssen. In naher Zukunft wird die überwältigende Mehrheit der Menschheit in großen Städten leben. Aber die Art, wie die Weltausstellung gemacht ist, leuchtet mir nicht ein. Eine Expo dürfte heutzutage keine Leistungsshow der Länder sein, keine Ansammlung von Pavillons, das ist doch 19. Jahrhundert. Es wäre hilfreich gewesen, wenn sich bestimmte Länder dieser Selbstdarstellung verweigert und stattdessen ein Projekt unterstützt hätten, von mir aus in Shanghai, zum Erhalt eines Teils der Altstadt oder zum Umbau der Stadt. Gerade in Asien passiert ja so vieles, was nie und nimmer die Zukunft der Stadt sein darf.
SPIEGEL: Die asiatischen Metropolen werden aber die Städte der Zukunft sein.
Ingenhoven: Aber bitte nicht so. Ich komme gerade aus Singapur, dort gehen Sie aus einem Flughafen raus, in dem vielleicht 16 Grad sind, kaum Luftfeuchtigkeit, völlig wahnsinnig, und stoßen draußen auf eine Wand aus Hitze und Feuchtigkeit. Dann gehen Sie in die Innenstadt, da gibt es ein paar alte Häuser. Interessanterweise sind die genau richtig gemacht worden. Die Veranden sind alle raus aus der steilen Sonne. Und das können sie mit wenigen Metern Dachüberstand selbst in einem zweigeschossigen Gebäude erreichen. Und diese Sonne, die immer scheint, könnten Sie mit Fotovoltaik zur Energiegewinnung nutzen. Was aber tun die Leute? Die bauen flache Fassaden ohne überhängende Dächer und produzieren drinnen für ein Heidengeld ein Kunstklima. So wie Singapur jetzt ist, das können wir auf Dauer nicht bezahlen, das schaffen wir nicht.
SPIEGEL: Mit solchen Widersprüchen leben Sie doch selbst. Sie predigen die verdichtete, durchmischte Stadt und wohnen doch hier in Düsseldorf außerhalb des Zentrums in einem wunderbaren grünen Park mit eigenem kleinen Wald in einem sehr gläsernen Haus, in dem nur Familie Ingenhoven lebt. Können Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren?
Ingenhoven: Es geht. Wenigstens hat hier auch vorher schon ein Haus gestanden. Wir haben keine Bebauung hinzugefügt, sondern ersetzt. Und wir haben einen Stangenwald vor der Haustür vorgefunden, den wir durch Beforstung zu einem gesunden Wald gemacht haben. Ich gebe ja zu, es ist eine schwierige Debatte. In Deutschland muss man nicht unbedingt in die Stadt ziehen, wir haben ja Platz. Und man darf ja auch sagen, dass man, wenn man mit sieben Personen in einem Haus lebt, auch einen anderen Platzbedarf hat. Meine Frau und ich haben fünf Kinder. Ich finde es unrealistisch zu glauben, dass Menschen, die viele Kinder haben, mit Begeisterung in die Innenstädte ziehen und da auf dem heißen Pflaster Samba tanzen. Das ist etwas, was man tut, solange man keine Kinder hat oder wenn sie nicht mehr zu Hause leben. Das scheint mir ein sinnvoller Zyklus zu sein.
SPIEGEL: Herr Ingenhoven, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.