Umwelt Das wachsende Paradies
Für viele Gelehrte existieren nur zwei Arten von Materie: lebende und tote. "Das macht das Denken so schön einfach", sagt Paul Kench.
Inseln etwa zählen gemeinhin zur Sphäre des Unbelebten, und weil der Geologe von der Universität in Auckland die Fachwelt vom Gegenteil überzeugen will, paddelt er mit seinen Schwimmflossen im smaragdgrünen Wasser des Indischen Ozeans.
Mit fünf Forscherkollegen ist Kench auf die Malediven gereist. Gemeinsam wollen sie das wahre Wesen der Tropenarchipele ergründen. Kench: "Diese Inseln sind wie ein Organismus, der wächst, sich ständig verändert und manchmal auch vergeht."
Der neuseeländische Forscher hat diesen ungewöhnlichen Körper mit Sensoren gespickt, um sein Wachstum zu vermessen. Alle wollen sehen, wie er das macht, und so tauchen sie mit ihren Masken und Schnorcheln ein in die wundersame Unterwasserwelt der Lagune. Flache, runde Formen lösen sich ab mit Zacken und merkwürdigen Kugeln, gemustert wie Gehirne. Vor ihnen liegt ein Wald aus Korallen, deren Skelette aus Kalk das Riff bilden. Die Inseln verdanken ihre Existenz dem Leben und Sterben dieser Tiere.
Inmitten der bizarren Landschaft wird ein Rohr sichtbar, so lang wie ein Unterarm. Es steckt zwischen zwei Tischkorallen. Kench hebt den Daumen, die anderen Taucher nicken: Sie haben eine der von ihm aufgestellten Sedimentfallen entdeckt. Darin sammeln sich die Kalkpartikel abgestorbener Korallen, jene Körner also, aus dem die Traumstrände des Urlaubsparadieses aufgebaut sind.
Die Menge der aufgefangenen Sedimente verrät, wie viel Sandnachschub die Korallen für das Wachstum der Inseln liefern. "Durch diese Messung", erklärt Kench nach dem Tauchgang, noch ein wenig nach Luft schnappend, "wollen wir eine möglichst exakte Bilanz hinkriegen."

Malediven: Das wachsende Paradies
Diese Frage zu klären ist nicht nur von akademischem Interesse. Wie viele andere Atollinseln gelten die Malediven als bedrohtes Paradies. Die globale Erwärmung lässt den Meeresspiegel ansteigen. Wehrlos den Fluten ausgesetzt, so das düstere Szenario, sind die Archipele dem Untergang geweiht.
"Doch diese Vorstellung ist viel zu simpel", widerspricht Kench - und dem Neuseeländer ist natürlich bewusst, welche Sprengkraft seine Aussage hat.
Ähnlich wie die Eisbären auf ihren schmelzenden Schollen sind die untergehenden Inselparadiese zu Symbolen des Klimawandels geworden. Medienwirksam hatte Malediven-Präsident Mohamed Nasheed Ende vergangenen Jahres unmittelbar vor dem Klimagipfel von Kopenhagen eine Kabinettssitzung unter Wasser abgehalten: "Wenn wir die Welt retten wollen, dann schlage ich vor, mit den Malediven zu beginnen."
In diesem aufgeheizten Klima mahnen Kench und seine Mitstreiter vor vorschnellen Schlüssen. Erst im vorigen Monat veröffentlichte Kench zusammen mit Arthur Webb von der Pacific Island Applied Geoscience Commission auf Fidschi eine Studie, deren Ergebnisse ganz anders waren als erwartet.
Die Geomorphologen hatten alte Luftaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg mit aktuellen Satellitenaufnahmen verglichen. Überraschender Befund: Die meisten der untersuchten Atollinseln sind in den letzten Jahrzehnten größer geworden oder zumindest unverändert geblieben - obwohl der Meeresspiegel bereits um zwölf Zentimeter angestiegen ist.
Sofort nach Veröffentlichung wurde die Studie in den politischen Kampf um die Erderwärmung hineingezogen. Klimaaktivisten zweifelten an der vermeintlich frohen Botschaft. Die Skeptiker des vom Menschen verursachten Klimawandels werteten sie wiederum als Beleg, dass die Aufregung um die Erwärmung vollkommen überflüssig sei.

Malediven: Traumstrand aus Skeletten
Die Wissenschaftler sind über diese Polarisierung unglücklich. "Wir nehmen den Klimawandel sehr ernst", betont Kench. "Aber um die tatsächlichen Folgen für die Atolle richtig vorherzusagen, müssen wir doch erst einmal verstehen, wie sie auf den künftigen Anstieg des Meeresspiegels wirklich reagieren."
Bislang greift die Klimafolgenforschung auf ein recht einfaches Modell zurück, und danach hätten die Inseln längst schrumpfen müssen. Trotz seiner Schwächen wird das Modell noch immer benutzt, auch in Studien für den Bericht des Uno-Weltklimarats IPCC kam es zum Einsatz. Kench und seine Mitstreiter, die ihre Atollforschungsgruppe REEForm nennen, wollen es endlich verwerfen.
Gemessen an der öffentlichen Aufmerksamkeit, ist der Wissensstand über die Dynamik der Koralleninseln erschreckend gering. Geomorphologen wie Kench, die sich mit den Wachstumsprozessen von Atollen auskennen, sind eine Seltenheit: In ihrer kleinen Reisegruppe ist die Hälfte aller weltweiten Fachleute versammelt.
Der einzige Einheimische der Expedition ist Ibrahim Naeem, Direktor der maledivischen Umweltbehörde. Der 38-Jährige führt die Forscher über die Koralleninseln. Den ersten Stopp legen sie auf einem Eiland ein, das nicht größer ist als ein Fußballfeld. Den Namen kann keiner auf dem Boot aussprechen: Bodukaashihuraa. Drei Palmen stehen auf dem unbewohnten Flecken Erde.
Begrüßt werden sie von Mückenschwärmen. Doch im Forschungsfieber nehmen das die Landgänger nicht wahr. Lohnt es sich hier, mit einem Bohrer durch das Riff zu stoßen, um eine Sedimentprobe zu nehmen? Zusammen mit dem australischen Geologen Scott Smithers macht sich Kench ans Werk.
Die beiden Forscher haben schon so manches Loch ins Atoll gebohrt. Durch die Untersuchung solcher Proben fanden sie heraus, wann die Malediven in ihrer heutigen Form entstanden sind: vor rund 4000 bis 5000 Jahren.
Die Korallen, denen die Inseln ihre Existenz verdanken, siedeln auf unterseeischen Bergstümpfen, den Überresten versunkener Vulkane. Ihre Skelette aus Kalk sind das Baumaterial der Atolle. Auf den Malediven bilden sie rundherum ein Riff, das kontinuierlich emporwächst, bis es an einigen Stellen aus dem Wasser ragt. Wellen und Strömungen zermahlen die abgestorbenen Korallen und türmen das Sediment aus den Korallengärten zu Stränden und Inseln auf.
"Stürme sind die wahren Baumeister der Inseln"
Kench, der mit seinem durchtrainierten Oberkörper mehr nach Surfer als nach Hochschullehrer aussieht, schnappt sich eine Schaufel. Er treibt sie in den lockeren Sand direkt hinter dem Strand. Die Wurzeln eines jungen Banyanbaums durchziehen den Boden. Schon nach ein paar Spatenstichen ist der Aufbau der Insel klar. Wie ein Sandwich wechseln sich graue und sandgelbe Schichten ab. Nach einem Meter hat Kench ein halbes Dutzend dieser Schichten freigelegt.
Grau, so erklärt er, seien die Reste verwitterter Pflanzen; und gelb sei Korallensand, der von einem schweren Sturm über die Insel hinweggespült wurde. "Stürme sind die wahren Baumeister der Inseln", sagt Kench. Selbst Naturkatastrophen wie der Tsunami im Jahr 2004, dem auf den Malediven mindestens 82 Menschen zum Opfer fielen, zerstörte die Inseln nicht - im Gegenteil: Der Tsunami ließ sie sogar wachsen. Kench: "An einigen Stellen messen wir bis zu 30 Zentimeter Zuwachs!"
Schon in früheren Epochen haben sich die Inseln als überaus widerstandsfähig erwiesen. Als etwa nach der letzten Eiszeit die Gletscher schmolzen, behaupteten sich die Malediven gegen die steigenden Fluten - dank der immer weiter wachsenden Korallen. Zur Zeit von Christi Geburt, so lesen es die Forscher aus den Sedimentbohrkernen, muss das Wasser sogar schon einmal höher als heute gestanden haben. "Die eigentliche Konstante im Leben der Korallenriffe ist der ständige Wandel", sagt Smithers.
Doch werden die Inseln auch den künftigen, wohl rascheren Anstieg des Meeresspiegels überleben? Mit zunehmender Erwärmung könnten die Wasserpegel jährlich um mehr als einen halben Zentimeter steigen. Am Ende des Jahrhunderts würden die Weltmeere laut IPCC damit über einen halben Meter höher als zu Beginn der Industrialisierung stehen.
Sand fürs Inselzentrum
Die steigenden Fluten spülen das Sediment immer höher hinter dem Strand auf, so die Theorie der Forscher. Sorgen bereitet ihnen eher das Innere der Inseln, wo der Korallensand nicht so leicht hingelangt. Wächst das Inselzentrum langsamer als der Rand, dann liegt es relativ zum steigenden Meeresspiegel immer niedriger. Siedeln dort Menschen, könnten ihre Häuser häufiger von Springfluten unter Wasser gesetzt werden. Durch Aufschüttung von Sand ließe sich das aber verhindern.
Nun kommt auch der Biologe Bernhard Riegl vom National Coral Reef Institute in Florida von einem Tauchgang zurück. Er hat das Korallenriff inspiziert, die Kinderstube der Atolle. "Alles hängt davon ab, wie gut die Korallen auch in Zukunft weiterwachsen", sagt der 46-Jährige. Denn mit steigender CO²-Konzentration in der Erdatmosphäre nimmt der Säuregehalt der Meere zu, was wiederum die Kalkskelette der Korallen auflöst.
Außerdem setzt extreme Hitze vielen Korallen zu. "Sie leben hier äußerst angepasst, nur ein oder zwei Grad höhere Wassertemperatur, und sie bleichen aus", warnt Riegl. 1998 etwa war ein besonders warmes Jahr, die Temperaturen im Indischen Ozean waren höher als sonst. "Am Ende waren die Korallen vieler Riffe komplett zerstört", berichtet der Biologe. Wird es als Folge des Klima-wandels im Wasser immer wärmer, könnte es schlecht um die Korallen bestellt sein.
Andererseits sind Korallen auch recht anpassungsfähig. "Dort unten habe ich eine Korallenart gesehen, die gibt es auch im Persischen Golf", so Riegl. Dort hat sie sich an wärmere Temperaturen gewöhnt. "Sie hält dort zehn Grad wärmeres Wasser aus als ihre Artgenossen hier."
Riegl hat auf seinem Tauchgang noch eine weitere interessante Beobachtung gemacht. In großer Zahl sichtete er im Korallengarten Papageifische. Die Forscher wissen mittlerweile, welchen entscheidenden Anteil die Grätentiere beim Aufbau der Tropeninseln haben.
Exkremente lassen die Insel wachsen
"Sie knabbern die Algen von den Korallen, nehmen dabei aber auch immer etwas Kalk von deren Oberfläche mit", erklärt Riegl. Wenn sie die Masse verdauen, scheiden sie den Kalk aus. Wellen spülen ihn an die Strände. Der aus Österreich stammende Forscher: "Ihre Exkremente lassen die Inseln wachsen."
Doch Papageifische landen häufig in Fischernetzen. "Viel von ihrer Zukunft haben die Menschen hier selbst in der Hand", sagt Riegl. Exemplarisch lässt sich das auf einer weiteren Insel studieren, die von dem Forschertrupp erkundet wird. Auf dem winzigen Flecken Land leben 600 Menschen, zumeist Fischer, allesamt strenggläubige Muslime. Sie haben ihre weiße Kappe auf, eilen in die Moschee in der Mitte der Insel. Der Muezzin ruft zum Freitagsgebet.
Die Forscher sind derweil Zivilisationssünden auf der Spur. "Was ist denn das da für Seegras?", fragt Kench den einheimischen Umweltbeamten und erntet zunächst ein Lächeln, dann ein Zucken mit den Schultern. Laien mögen das wuchernde Gras, dessen Blätter mit den anbrandenden Wellen hin und her wedeln, für idyllisch halten. Nicht so die strengen Wissenschaftler, die nährstoffreiche Abwässer als Ursache vermuten. "Ein hervorragender Dünger, ideal für die Pflanzen, aber schlecht für das Atoll", urteilt Webb.
Der Mann von den Fidschi-Inseln gibt eine kurze Freiluftvorlesung in Küstenmanagement: "Das Seegras fängt viel zu früh den Sand auf, der von draußen vom Korallenriff hergespült wird." Folglich erreiche der Korallensand nicht den Strand, wo er gebraucht werde, um die Insel zu stabilisieren. "Um die Malediven zu schützen", ergänzt Kench, "muss zunächst mal alles unterbleiben, was das natürliche Wachstum der Inseln gefährdet."
Von Nachteil sind Wellenbrecher, aber auch lange Hafenmauern, die den Transport des Korallensandes blockieren. Die moderne Zivilisation mit ihren Bauwerken aus Beton, die auf immer mehr Südsee-Inseln die traditionellen Holzhütten verdrängen, verträgt sich nicht gut mit dem wechselvollen Charakter der Inseln - ebenso wenig wie Urlauberhotels. "Doch das Rad der Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen", sagt Kench und empfiehlt deshalb, das Augenmerk nicht auf den Schutz des Strandes zu richten. Der wächst im Idealfall ohnehin mit den Fluten.
"Willkommen auf einer künstlichen Insel"
"Sinnvoller wäre es, das tieferliegende Innere der Insel aufzuschütten", so Kench. Wer dort unbedingt bauen wolle, sollte die Häuser auf Pfähle stellen. "Wird die Insel in einem Sturm überspült, ist nicht gleich alles kaputt."
Umweltmanager Naeem hört ungerührt zu. Auf den Malediven hat man längst andere, brachiale Maßnahmen ergriffen, um die eigene Zukunft zu sichern.
Ein Schnellboot bringt die Forscher auf eine Insel, deren kantige Form wenig gemein hat mit dem, was die Natur sonst im Indischen Ozean erschafft. Als sie sich Hulhumalé nähern, bemerken sie die stählernen Spundwände mit einer Krone aus Beton. "Willkommen auf einer künstlichen Insel", begrüßt sie Naeem stolz.
Im Bus bewegen sich die Wissenschaftler über breite Asphaltstraßen, auf denen noch gar keine Autos fahren. Vier Stockwerke hohe Mietskasernen tauchen auf, bepinselt in Orange und Grün. Alle sind sie ordentlich durchnummeriert, eine Vorstadtidylle mit frisch gepflanzten Palmen.
Familien von der übervölkerten Hauptinsel Malé sollen nach Hulhumalé umziehen. Aber Naeem rechnet auch mit einem Ansturm von entlegenen Atollen, weil die Menschen den Verlockungen einer gekachelten Küche und eines Mopeds vor der Haustür erliegen werden.
Jede Menge Platz soll es natürlich auch für all jene geben, deren Land tatsächlich untergeht. Denn auch die von Ingenieurshand geschaffene Insel kann wachsen - nicht mit Hilfe von Korallen, sondern mit Hilfe von Kränen.
Naeem: "Wenn uns das Wasser bis zum Hals steigt, ziehen wir die Spundwände einfach noch 'nen Meter höher."