
Demokratie: Die Revolution, die keine war
Demokratie Die Revolution, die keine war
Die Frage, ob das Internet zu einer besseren Welt führt, stellt sich wieder neu in diesen Wochen, nachdem das tunesische Volk seinen Diktator stürzte und das ägyptische den seinen zu verjagen sucht.
In Tunesien benutzte die Jugend Facebook, um Videos weiterzuleiten von Demonstrationen und Polizeigewalt oder um sich zu Protestmärschen zu verabreden. Auch in Ägypten setzten die Menschen Facebook ein, um Berichte, Gerüchte und Nachrichten über die Lage im Land zu verbreiten. Sie speisten Bilder und Videos ein, im Sekundentakt, aus Kairo, aus Suez, aus Alexandria, und wurden von Tausenden verlinkt, auf den sozialen Netzwerken Facebook und Twitter.
In atemraubendem Tempo schickten sie immer neue Ikonen des Protests in die Welt: einen Mann, der sich den Polizisten mit ihren Schlagstöcken allein entgegenstellt. Einen anderen, der ein Porträt von Husni Mubarak herunterreißt, angefeuert von einer Menschenmenge. Jünglinge, die auf leeren Straßen Steine gegen Polizisten werfen.
Dann zog das Regime den Stecker. Es schaltete das Internet ab, in der Nacht auf Freitag, so groß war die Angst. Noch nie war ein Land so weit gegangen. Doch die Menschen mussten nicht mehr mobilisiert werden. Sie strömten auch so auf die Straßen.
Kein Medium kann in einer Krisensituation so schnell Nachrichten vermitteln wie Facebook oder Twitter. Soziale Netzwerke erzeugen das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, auch in Washington, Paris oder Berlin. Sie schaffen eine Intensität und Direktheit, mit der nicht einmal das Fernsehen konkurrieren kann.
Es muss etwas mit dieser Erfahrung zu tun haben, dass westliche Kommentatoren seit Jahren immer die gleiche Frage stellen, wenn ein Volk rebelliert, so wie vor anderthalb Jahren in Iran: die Frage, ob das Netz den Aufstand nicht nur sichtbarer mache, sondern vielleicht selbst befördere.
Erlebte Tunesien eine "Facebook-Revolution", wie manche schrieben, eine "Twitter-Revolution", gar eine "WikiLeaks-Revolution"? Oder war es ein Aufstand, für den die Zeit ohnehin reif war, und der auch ohne Internet stattgefunden hätte?
Der Erfolg der tunesischen Revolution fällt in einen Moment, in dem die Euphorie über das revolutionäre Potential des Netzes abgeklungen ist. 2009 glaubte die Welt noch, eine "Twitter-Revolution" in Iran beobachtet zu haben. Seither sind die skeptischen Stimmen stärker geworden.
Kann das Internet den politischen Wandel fördern? Darüber debattieren Wissenschaftler und Blogger schon lange. Letztlich geht es um eine noch größere Frage: Ist das Internet gut oder schlecht für die Freiheit in der Welt?
Der Internet-Vordenker Evgeny Morozov erfand im April 2009 den Begriff "Twitter-Revolution", als er über einen Volksaufstand in Moldau schrieb. Heute gehört er zu den größten Kritikern solcher Labels, die demokratischen Wandel als Siegeszug westlicher Technologie darstellen. Vor zwei Jahren schrieb er noch: "Werden wir uns der Ereignisse, die sich in Chisinau nun ereignen, nicht der Farben der Flaggen wegen erinnern, sondern wegen der Technologie, die benutzt wurde?"
"Die Revolution wird getwittert werden"
Heute sagt er: "Das ist kein Moment meiner Karriere, auf den ich besonders stolz bin." Karriere. Das hört sich seltsam an aus dem Mund von jemandem, der erst 26 Jahre alt ist. Morozov stammt aus Weißrussland, ein Mann mit starkem Akzent und einer eckigen Brille. Er arbeitet an der US-Universität Stanford und ist einer der profiliertesten Theoretiker, wenn es um Internet und politischen Wandel geht. Er hat zu dem Thema gerade ein Buch veröffentlicht - es heißt "The Net Delusion"(*), der Netzwahn.
Morozov ist ein Bekehrter, und es war vor allem die gescheiterte Revolution in Iran, die seine Sicht veränderte. Als die grüne Bewegung nach den gefälschten Wahlen im Juni 2009 auf die Straßen von Teheran zog, zeigten sich westliche Kommentatoren begeistert über die Rolle, die soziale Netzwerke dabei gespielt hätten. Erstmals waren Videos und Bilder direkt aus Iran in den Westen gelangt, etwa die Handy-Aufnahmen vom getöteten Mädchen Neda, das zu einem Symbol der Proteste werden sollte.
"Die Revolution wird getwittert werden", jubelte der US-Blogger Andrew Sullivan vom Magazin "Atlantic" und gab damit die Tonlage vor. Während die eine Seite mit Kugeln feuere, feuere die andere "Tweets" ab, schrieb Nicholas D. Kristof in der "New York Times". Die "Los Angeles Times" titelte: "Der neue Alptraum aller Tyrannen: Twitter." Der frühere US-Sicherheitsberater Mark Pfeifle schlug Twitter sogar für den Friedensnobelpreis vor.
Dabei gab es in Iran nie eine Twitter-Revolution. Das legte die US-iranische Journalistin Golnaz Esfandiari ein Jahr später in "Foreign Policy" dar. Die meisten prominenten iranischen Twitterer hätten sich während der Proteste im Ausland befunden, schrieb sie. "Die gute, alte Mundpropaganda" sei bei weitem das einflussreichste Medium gewesen, um Demonstrationen zu organisieren, nicht Twitter. Sie fragte, warum sich von den westlichen Journalisten keiner gewundert habe, dass Menschen, die in Iran Proteste organisieren wollten, auf Englisch statt auf Farsi twitterten.
In seinem Buch zitiert Morozov eine Untersuchung von al-Dschasira, nach der in der Zeit nach den Wahlen nur rund 60 Leute tatsächlich aus Teheran twitterten.
Waren die westlichen Medien auf ihre eigene Begeisterung hereingefallen? Und was bedeutet es für die Eignung sozialer Netzwerke, Menschen zur Teilnahme an Protesten zu motivieren?
Im vergangenen Herbst vertrat Malcolm Gladwell im "New Yorker" die These, sie taugten dazu nicht. Als Gegenbeispiel nannte er die Bürgerrechtsproteste der 1960er Jahre. Er zitierte Untersuchungen, wonach Aktivisten, die an Sit-ins teilnahmen, untereinander eine starke persönliche Bindung gehabt hätten. Je höher die Bindung, desto größer sei die Entschlossenheit gewesen, sich dem Risiko auszusetzen, an Protesten teilzunehmen.
Facebook dagegen zeichnet sich durch Unverbindlichkeit aus. Man ist befreundet mit Freunden, mit denen man vielleicht gar nicht befreundet ist. Deswegen ist eine Nachricht, die jüngst aus England kam, zwar tragisch, aber nicht erstaunlich: Eine Frau hatte trotz ihrer mehr als 1000 Facebook-Freunde keinerlei Hilfe erhalten, als sie ihren Selbstmord ankündigte.
Auf Facebook hätten "Freunde" eben nur schwache persönliche Bindungen, so Gladwell. Deswegen lasse sich nur virtuelle Partizipation erreichen. Soll heißen: Die Suche nach einem Knochenmarkspender unterstützt man womöglich mit einem Klick, bekennt sich vielleicht mit einem weiteren Klick zu einer Haltung - es fällt leichter, eine Sache zu unterstützen, aber man muss ja auch kaum etwas dafür tun.
Das Netzwerk spielte eine wichtige Rolle für die Organisation der Proteste
Doch wie war es nun in Tunesien? Natürlich war der Auslöser der Proteste nicht das Internet. Es war Mohammed Bouazizi, ein arbeitsloser 26-jähriger Mann in Sidi Bouzid im Landesinneren, der sich als Straßenverkäufer durchschlug, bis die Behörden seinen Karren beschlagnahmten. Daraufhin beging er eine Verzweiflungstat. Er kippte sich Benzin über den Kopf, zündete sich an und setzte so das ganze Land in Flammen.
Mohammed Bouazizis Selbstmord trieb die Jugendlichen seiner Stadt auf die Straße. Die Proteste weiteten sich aus, Fotos und Videos wurden über Facebook verbreitet, aber auch über al-Dschasira, und erreichten so die Mittelklasse-Jugend in den Städten. Auch für sie besaß die Geschichte von Mohammed Bouazizi eine hohe Symbolkraft, sie erkannten in seiner Tat ihre eigene Frustration. Und so folgten unzählige von ihnen den Aufrufen zu Demonstrationen, die über Facebook verbreitet wurden.
Es gibt keinen Zweifel, dass das Netzwerk eine wichtige Rolle für die Organisation der Proteste spielte. Das Regime erkannte die Gefahr. Anfang Januar bemerkten laut "Atlantic" Mitarbeiter im Facebook-Hauptquartier in Kalifornien, dass die tunesischen Internetprovider die Passwörter ihrer Nutzer abfingen. Facebook richtete eine Reihe von Abwehrmaßnahmen ein, um seine tunesischen Kunden zu schützen - unter anderem verschlüsselte Verbindungen.
Ist Tunesien das Beispiel, das Malcolm Gladwell widerlegt? Oder Ägypten, wo eine arabische Facebook-Gruppe zu Ehren eines Polizeiopfers mit 400 000 Mitgliedern eine der Keimzellen des aktuellen Widerstands war?
Es scheint, als könnten soziale Netzwerke durchaus eine Rolle spielen, wenn eine Bevölkerung zur Revolution bereit ist. Das bestreite er keineswegs, sagt Morozov: "Es ist simpel: Soziale Netzwerke machen es einfach, an Informationen zu kommen, und sie erleichtern kollektives Handeln." Die entscheidende Frage allerdings sei: Wäre es auch ohne Internet zu den Aufständen gekommen? "Wenn die Antwort ,Ja' ist, dann war der Beitrag des Internets gering", so Morozov.
Es sind die Bezeichnungen, die ihn stören. "Facebook-Revolution". Er sagt, damit würden unterschiedliche politische und soziale Ausgangslagen in verschiedenen Ländern verwischt. Und es werde suggeriert, dieselbe Technologie könne dasselbe Resultat immer wieder erzielen.
Morozov wendet sich gegen eine Ideologie, die er selbst als "Cyber-Utopismus" bezeichnet. Er meint damit unter anderem seinen Antipoden Clay Shirky, Professor an der New York University. Shirky schrieb neulich in "Foreign Affairs", wenn die USA weltweit den unzensierten Zugang zum Internet förderten, stärke dies die Zivilgesellschaft in autoritären Staaten. Das könne langfristig zu politischem Wandel führen.
Sollte Shirkys These stimmen, würde das heißen, dass das Internet im Kern eine Kraft des Guten ist. Dass es für die Verbreitung von westlichen Werten sorgt, wo immer es nicht behindert wird.
US-Außenministerin Hillary Clinton sprach im Januar 2010 in einer Rede von einem ähnlichen Konzept: von der "Internetfreiheit", seither eine Priorität der US-Außenpolitik. Clinton kritisierte Regime wie in China, Vietnam oder Saudi-Arabien dafür, dass sie das Internet zensierten. Sie sprach von einem "Informationsvorhang", den es niederzureißen gelte: "Die Freiheit, Zugang zu solchen Technologien zu bekommen, kann Gesellschaften transformieren", so Clinton.
Diese Vorstellung ist es, die Morozov bekämpft. Zum einen, sagt er, sei es ein Fehler, das Internet, Facebook oder Twitter mit amerikanischen Werten gleichzusetzen. Das liefere autokratischen Regimen nur neue Vorwände zur Zensur.
Es sei eine unglückliche Fortsetzung der Rhetorik des Kalten Krieges, als man glaubte, Radio Free Europe und ins Land geschmuggelte Faxmaschinen könnten den Ostblock befreien. Morozov sieht im Internet kein reines Werkzeug des Guten. Er fürchtet es vielmehr als Gefahr für die Freiheit.
In Iran etwa habe das Regime nach der Niederschlagung der Proteste im Internet Jagd auf seine Gegner gemacht. Die Staatsorgane veröffentlichten im Internet Twitter-Bilder von Demonstranten - mit der Bitte um Identifizierung.
Die größte Gefahr, so Morozov, sei nicht allein die Internetzensur, wie China sie kennt. Autokratische Staaten hätten längst viel intelligentere Methoden entwickelt, um ihre Bürger zu kontrollieren.
Russland etwa kennt keine formale Internetzensur - dennoch hat die Regierung im Internet einen Überwachungsapparat geschaffen und steht hinter Hackerattacken auf unliebsame Webseiten. Trotz der fehlenden Internetzensur gibt es im russischen Netz keine lebendige Oppositionsbewegung. So gesehen könne sich "China Russland zum Vorbild nehmen", sagt er. Das klingt nach einer düsteren Welt, nicht nach einer besseren Welt.
Und doch fanden in Tunesien und Ägypten gerade Volksaufstände statt, und in beiden Fällen hat das Internet sie befördert.
In beiden Ländern sind die Armut und der Frust der Jugend groß. Beide litten seit Jahrzehnten unter einer Diktatur. Nicht das Netz, nicht das Handy und nicht das Satellitenfernsehen heizten den Volkszorn an. Es waren die Verhältnisse, die die Menschen auf die Straße trieben.
Nicht alles, was im Internet stattfindet, hat auch mit dem Internet zu tun. Es gibt keine Facebook-Revolutionen, genauso wenig, wie es Handy-Revolutionen und Flugblatt-Revolutionen gibt.
Es gibt nur Revolutionen von Menschen, die sich befreien wollen.