
Schiefe Türme: Gerangel der Geneigten
Rekorde Gerangel der Geneigten
Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen", verkündet Jesus Christus bei Matthäus Kapitel 16, Vers 18 und entpuppt sich damit als umsichtiger Statiker und Fürsprecher fester Fundamente. Was indes erstaunt: Das Wort "schief" kommt in der Luther-Bibel nicht vor.
Gerade dieser Begriff aber geht Dorfpfarrer Frank Wessels aus Suurhusen selten aus dem Sinn. Über abgekippte Stufen stolpert der Ostfriese zur Kanzel. Seine Gemeinde betet vor verdrehten und verbogenen Backsteinmauern.
Dramatisch verquer steht es um den Glockenturm, der aussieht, als wollte er sich jeden Augenblick vom Kirchenschiff losreißen und wegtorkeln. Sein Neigungswinkel liegt bei 5,19 Grad - mehr als beim berühmten Vetter in Pisa.
Vom Bibelwort "Was krumm ist, soll gerade werden" will Wessels gleichwohl nichts wissen. Er ließ das Gebäude als "schiefsten Turm der Welt" ins Guinness-Buch der Rekorde eintragen. Seitdem gibt sich der Ort nahe der Waterkant kosmopolitisch. "Pro Jahr kommen rund 10.000 Besucher, sogar aus Südkorea oder Indien", freut sich der Pfarrer. Doch neuerdings muss Suurhusen um sein architektonisches Alleinstellungsmerkmal bangen.
Unter Bürgermeistern ist ein Streit entbrannt, ob der Friesendom seinen Titel zu Recht trägt. Auch andere Bauten weisen extreme Verzerrungen auf.
Beispiel Dausenau in Rheinland-Pfalz: In dem malerischen Ort steht ein Wehrturm, der 5,24 Grad aus der Senkrechten driftet. Das Gemäuer wird allerdings seit langem nicht mehr benutzt. Auf seiner Krone wächst Gras. Den Einheimischen gilt das Bollwerk gleichwohl als Sensation. Restaurants an seinem Fuße bieten Rouladen und Sauerbraten feil.
Nur zu gern würde Dorfchef Jürgen Linkenbach die Immobilie zur schrägsten des Erdenrunds küren lassen. Sein Antrag wurde von der Guinness-Redaktion jedoch im vorigen September abgewiesen. Begründung: Der Trutzbau in Dausenau sei nur eine vergammelte Ruine, das zähle nicht.
Doch es gibt weitere gefährliche Konkurrenten. Einer davon erhebt sich im Schweizer Skiparadies St. Moritz. Maurer zogen dort im Spätmittelalter einen schlanken, 33 Meter hohen Glockenturm hoch. Als Bauplatz wählten sie eine Geröllplatte, die zentimeterweise talwärts ruckelt.
Der Turm rutscht mit.
Das Kirchenschiff von "St. Mauritius" war bereits vor 100 Jahren so verbeult, dass man es einebnen musste. Auch der Tower neigte sich vor einigen Jahren bis auf ungeheure 5,4 Grad. Dann griffen die Gemeindeväter ein, unterfingen den Koloss mit hydraulischen Stahlplatten und kurbelten ihn auf 5,08 Grad hoch.
Zwar neigt sich der Alpen-Schiefling schon wieder, teils auch "schlagartig", wie das Bauamt beteuert. Doch durch den Hubakt ist das Wahrzeichen von St. Moritz vorerst aus dem Rennen.
"Ein Dorado für Spannungsrisse und Setzungen"
Mehr Gefahr droht den Suurhusenern deshalb von Wettbewerbern aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Ostfriesland hat sehr nasse, torfige Böden. Von Emden bis Aurich sind an Turnhallen, Gutshöfen und Stadtverwaltungen die Wände verdreht und eingedellt. "Ein Dorado für Spannungsrisse und Setzungen", nennt Detlef Böttcher die Region. Ständig rückt der "Sachverständige für konstruktive Denkmalpflege" mit Zollstock und Hammer aus, um einstürzende Altbauten zu prüfen.
"Die Friesen gründeten ihre Häuser oft auf Eichenpfählen, die sie bis zu 20 Meter tief in den Grund schlugen", erläutert er. Im Zuge von Sielbau- und Entwässerungsmaßnahmen sank der Grundwasserspiegel immer weiter ab. Folge: Die Stämme verrotteten.
Besonders hart traf es die vielen kleinen mittelalterlichen Kirchen in Ostfriesland. "Über 70 Prozent von ihnen sind aus dem Lot", verrät Böttcher. Einige davon hat der Experte vermessen und neue Rekordwerte ermittelt:
- Der Glockenturm im Friesendorf Barstede ist um 6,16 Grad abgeknickt.
- Der von Midlum weist sogar eine Kippstellung von 6,74 Grad auf. Das Fundament sieht aus, als hätte es Otto Waalkes errichtet.
Dass den Rekordbau hinterm Deich kaum jemand kennt, liegt am zuständigen Kirchenratsvorsitzenden Udo Aalderks, 64. Seit Monaten schon will der gelernte Landmaschinenmechanikermeister, der nur Platt spricht und tagsüber Traktor fährt, bei Guinness einen Rekordantrag stellen. Sein Problem: "Wie geit dat bloß mit die Fumulare?"
Doch selbst wenn der Ostfriese alle bürokratischen Hürden nehmen sollte, könnte man ihm die Krone der Krummheit verweigern. Der Glockenturm von Midlum ist nur 14 Meter hoch - ein Hutzelbau. Trotz der Extremneigung seiner Wände ragt die Spitze nur etwa 1,60 Meter aus der Ideallinie.
Manche Forscher suchen deshalb nach anderen Maßstäben, um die Schrägheit von Türmen zu bewerten. Ihrer Meinung nach sollte nicht der bloße Neigungswinkel den Ausschlag geben, sondern die absolute Spanne, mit der der Turm aus der Lotrechten ragt.
Wer oben steht, schwebt im Nichts
Und da kann ein anderes Gemäuer auftrumpfen. Es ist 53 Meter hoch und steht im thüringischen Bad Frankenhausen. Sein Dach zu erklimmen, ist nur Hartgesottenen zu empfehlen. Volle 4,45 Meter ragt der Turm aus der Senkrechten. Wer oben steht, schwebt gleichsam im Nichts.
Eigentlich könnte sich der Kurort am Kyffhäuser über das vermurkste Sanktuarium freuen - es lockt Touristen an. Leider knickt der Trumm immer weiter ab. Betoninjektionen und massenhafter Einsatz von Stahl konnte ein Absacken nur verlangsamen.
In schlechten Zeiten gab der Turm pro Jahr sechs Zentimeter nach. Weich wie Zwieback ist der Untergrund. Aus Hohlräumen pumpen die Stadtväter Heilwasser, was die Standfestigkeit weiter schwächt.
Bereits für diesen Sommer war der Abriss der ehrwürdigen Kirche "Unserer Lieben Frauen am Berge" geplant.
Doch Bürgermeister Matthias Strejc konnte jetzt einen Aufschub durchsetzen. Vorletzte Woche legte er ein neues Rettungskonzept vor und erwirkte eine Galgenfrist. Das Konzept sieht vor, die Turmbasis mit einem Stahlkorsett zu umfassen, aus der zwei 20 Meter lange Stützarme herausragen. Die Kosten liegen bei rund 1,7 Millionen Euro.
Schon träumt Strejc davon, das "schiefste Standesamt der Welt" zu eröffnen. Auch will er nach erfolgreicher Sanierung bei den Guinness-Leuten hart durchgreifen und eine Korrektur des Rekords verlangen. Suurhusen soll vom Thron gestoßen werden.
Große Worte, doch die Kasse ist leer. Eine Spendenaktion zur Erhaltung des Turms von Bad Frankenhausen im Internet verläuft schleppend. Jeden Monat kippt der Sakralbau um weitere zwei Millimeter seinem Abgrund entgegen.
Wenn keiner eingreift, fällt er um.