SPIEGEL-Gespräch "Der Kreml blockiert jede Alternative zu Putin"

Russlands Oppositionsführer Alexej Nawalny über die Proteste gegen Korruption, die Politisierung einer neuen Generation und Putins Außenpolitik.
Kreml-Kritiker Nawalny

Kreml-Kritiker Nawalny

Foto: Denis Sinyakov/ DER SPIEGEL

Ende März rief Russlands bekanntester Oppositioneller Nawalny, 40, zu landesweiten Protesten gegen Korruption auf. Zehntausende gingen auf die Straße. Danach wurde er für 15 Tage inhaftiert, es war für ihn nicht das erste Mal. Seit Montag ist er wieder frei, einen Tag später empfängt er den SPIEGEL zum Gespräch im Büro seiner "Stiftung zur Bekämpfung der Korruption" in einem Moskauer Businesscenter. Nawalny ist gut gelaunt und gibt sich kämpferisch. Kurz darauf wird er wieder durch die Provinz reisen, um für seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2018 zu werben. Für den 12. Juni hat er erneut zu landesweiten Kundgebungen aufgerufen.

SPIEGEL: Herr Nawalny, Sie sind gerade aus der Haft entlassen worden. Wie haben Sie die Zeit dort erlebt?

Nawalny: Man muss sich das Gefängnis vorstellen wie ein schmutziges Wohnheim, wo man nichts anderes tut als schlafen und lesen. Wir waren zu viert in der Zelle. Die anderen waren gewöhnliche Leute - einer hatte sich mit dem Nachbarn geprügelt, ein anderer einen Polizisten beleidigt. Keine politischen Häftlinge wie ich, die werden sorgfältig voneinander getrennt, selbst beim Hofgang.

SPIEGEL: Haben Sie mit den anderen Häftlingen trotzdem über Politik diskutiert?

Nawalny: Tagelang. Alle hatten von mir gehört, alle wollten reden. Schon die Polizisten, mit denen ich nach meiner Festnahme im Bus saß, hatten meinen Film über Premier Dmitrij Medwedew gesehen. Sie fragten, was alle immer fragen: Warum man mich nicht umgebracht habe, und warum ich nicht längst in Haft säße.

SPIEGEL: Sehr viele junge Leute haben sich Ende März den Kundgebungen angeschlossen, zu denen Sie aufgerufen hatten. Viele hat das überrascht - man hielt diese Generation für unpolitisch.

Nawalny: Mich hat das überhaupt nicht überrascht! Erstens habe ich schon vorab auf Vkontakte gesehen ...

SPIEGEL: ... einer Art russisches Facebook ...

Nawalny: ... wie jung die Leute sind, die zu den Demos kommen wollten. Und zweitens war mir klar, dass der politische Druck auf Schüler und Studenten das Gegenteil bewirkt. In Brjansk wurden Schüler gewarnt, an den Demos teilzunehmen, es gab eine Diskussion mit einer Schuldirektorin darüber, die mitgeschnitten und millionenfach angeschaut wurde. Russland hat seit den Neunzigerjahren eine Studentenbewegung gefehlt, so wie es sie in Ost- und Westeuropa gab. Bei uns gab es eine solche Bewegung zuletzt zur Zarenzeit.

SPIEGEL: Aus welchen Gründen sind diese jungen Menschen auf die Straße gegangen?

Nawalny: Die Armut! Das ist jedenfalls ein wichtiger Faktor. Seit fünf Jahren schon sinkt der Lebensstandard.

SPIEGEL: Davon merkt man in Moskau wenig.

Nawalny: In Tomsk habe ich die jungen Leute gefragt, wer weniger als 20.000 Rubel verdient, das sind 330 Euro. Wir alle, haben sie geantwortet. Und das in einer Universitätsstadt, die früher vom Öl lebte! Es heißt oft, ich würde die Besserverdiener vertreten. Sicher, wer gut ausgebildet und wohlhabend ist, der unterstützt eher mich als Wladimir Putin. Aber das heißt nicht automatisch, dass die anderen gegen mich sind.

SPIEGEL: Was unterscheidet die Demonstranten von heute von jenen, die 2011 gegen die Fälschung der Parlamentswahlen auf die Straße gingen?

Nawalny: Der Hauptunterschied ist die Geografie: Jetzt wird an Orten demonstriert, wo das zuvor nie der Fall war, in Dagestan, in Tatarstan und Baschkirien. Ansonsten gibt es nicht viele Unterschiede. Die sozialen Medien, die uns als Einziges geblieben sind, um miteinander zu kommunizieren und unsere Kritik zu artikulieren, haben ein jüngeres Publikum, das ist alles.

SPIEGEL: Ihr Film über die angeblichen Reichtümer von Medwedew wurde auf YouTube 18 Millionen Mal angeschaut. Medwedew hat den Film "Blödsinn" genannt und mit einem "Kompott" aus allerlei Vorwürfen verglichen.

Nawalny: Was für ein kläglicher Auftritt. Einen Monat hat er gewartet, und alles, was ihm einfiel, war das Wort "Kompott"!

SPIEGEL: Werden die Vorwürfe für Medwedew Konsequenzen haben?

Nawalny: Seine politischen Perspektiven sind nun beschädigt. Angeblich soll er erst mal eine Woche lang gesoffen haben, und so sah er auch aus.

SPIEGEL: Medwedew hat Sie nicht verklagt - aber dafür will das jetzt der Milliardär Alischer Usmanow tun, dem Sie vorwerfen, er habe Dmitrij Medwedew eine Residenz im Wert von fünf Milliarden Rubel geschenkt.

Nawalny: Das tut Usmanow sicherlich nicht aus freien Stücken. Offenbar hat man ihn gebeten, mich zu verklagen.

SPIEGEL: Offiziell tut der Kreml so, als bekämpfe er die Korruption. Gerade wurde der fünfte Gouverneur in Folge verhaftet.

Nawalny: Die Gouverneure werden verhaftet, um mir etwas entgegnen zu können. Außerdem muss Putin die eigene Elite terrorisieren. Er fürchtet seine Umgebung mehr als irgendwelche Proteste; es gibt da Leute, die sind mindestens so kritisch wie ich, weil sie aus der Nähe sehen, dass das System nicht funktioniert. Die will er zum Schweigen bringen.

SPIEGEL: Wird Präsident Putin bei der Wahl 2018 erneut kandidieren?

Nawalny: Natürlich! Putin will der Zar sein in diesem neuen Russischen Reich, das er wieder errichtet. Ich glaube, er ist wirklich besessen von dieser Idee.

SPIEGEL: Wird man Sie zur Wahl zulassen?

Nawalny: Wir wollen sie zwingen, mich zu registrieren, so wie 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl. Damals haben wir mit einem Boykott gedroht. Und dann war der Kreml der Meinung, besser lässt man Nawalny teilnehmen - der bekommt ja höchstens acht oder neun Prozent.

SPIEGEL: Stattdessen haben Sie beachtliche 27 Prozent erreicht, und fast wäre es zu einer Stichwahl gekommen.

Nawalny: Soviel ich weiß, haben im Kreml deshalb mittlerweile jene die Oberhand, die gegen meine Kandidatur sind. Die sagen: Weiß der Teufel, wie das Wahlergebnis wird, wir haben uns ja schon einmal getäuscht. Außerdem haben sie Angst vor dem, was ich alles sagen könnte, wenn man mich antreten lässt. Seit 17 Jahren verlaufen Wahlen in Russland nach demselben Muster: Niemand kritisiert Putin, niemand führt eine echte Wahlkampagne, alles geht still in zwei Monaten über die Bühne. Der Kreml blockiert jede Alternative zu Putin. Er will keinen Kandidaten, der durchs Land reist und Russlands Probleme laut anspricht.

SPIEGEL: Warum hat denn die Opposition bei diesem Spiel so lange mitgemacht?

Nawalny: Waren Sie mal im neuen Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg? Da hängt in der Ausstellung ein Stimmzettel der Präsidentenwahl von 1996 - und da stehen genau dieselben Namen drauf wie heute. KP-Führer Sjuganow, der Liberale Jawlinski, der Rechtspopulist Schirinowski. Nur Boris Jelzin wurde durch Putin ersetzt. Kein Oppositioneller hat je die Verantwortung für seine Wahlniederlagen übernommen.

Proteste in Russland (am 26. März in St. Petersburg)

Proteste in Russland (am 26. März in St. Petersburg)

Foto: Dmitri Lovetsky/ AP

SPIEGEL: In Ihrem Wahlprogramm fordern Sie eine Sonderabgabe für Oligarchen, die Verdoppelung der Gesundheitsausgaben, einen Mindestlohn von 25.000 Rubeln. Das klingt so, als wären Sie nach links gerückt.

Nawalny: Sagen wir: Es klingt nicht so, wie man es von unseren liberalen Oppositionellen gewohnt ist. Da erwartet man leider einen manischen Libertären, der Oligarchen toll findet, sich nicht für die Probleme der Rentner interessiert und meint, die unsichtbare Hand des Marktes werde alles regeln.

SPIEGEL: Sehr konkret ist Ihr Programm nicht. Wie wollen Sie all das finanzieren?

Nawalny: Russland hat gigantische, sinnlose Ausgaben für Armee und Polizei. Wir belegen einen der ersten Plätze in der Welt, was die Zahl der Polizisten angeht - aber bei der Zahl der Morde gehören wir auch zu den Ersten. Außerdem sind fast 30 Prozent des Haushalts geheim! Niemand weiß, was mit diesen Geldern passiert. Bei staatlichen Ausschreibungen werden jedes Jahr 1500 Milliarden Rubel geklaut. Der Kampf gegen die Korruption würde also gewaltige Summen freisetzen.

SPIEGEL: Noch vor sechs Jahren waren Sie in nationalistischen Kreisen aktiv. Sogar viele Ihrer Anhänger finden es unappetitlich, mit wem Sie sich damals verbündet haben. War das Taktik oder Überzeugung?

Nawalny: Ich habe zwischen 2005 und 2011 viel getan, um den liberalen und den nationalistischen Flügel der Protestbewegung zusammenzubringen. Das stimmt. Und ja, ich bin weiterhin gegen die visafreie Einreise aus Zentralasien nach Russland.

SPIEGEL: Warum sind die Proteste von 2011/2012 eigentlich gescheitert? Was hat die Opposition damals falsch gemacht?

Nawalny: Es gibt kein Rezept, mit dem man das Regime in ein paar Monaten stürzen könnte. Das ist ein historischer Prozess, den wir nicht steuern können. Meine beste Kundgebung im Jahr 2010 hatte 1500 Teilnehmer. Heute gilt eine Kundgebung von weniger als 30.000 Menschen als Fehlschlag. Da hat sich etwas entwickelt, trotz aller Rückschläge. Aber der wichtigste Grund für das Scheitern war die gewaltsame Zerschlagung der Proteste. Wenn wir das Regime von 2012 vergleichen mit dem von 2017, dann kommt es einem so vor, als würde man über zwei unterschiedliche Länder reden. Wir leben jetzt in einem Land mit tausend politischen Häftlingen. Einem Land, in dem es jede Woche neue Prozesse gibt, in dem Leute in Haft kommen, weil sie irgendwas im Internet gelikt haben.

SPIEGEL: Einige der Menschen, die mit Ihnen zusammen an der Großkundgebung im Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz teilnahmen, sitzen noch immer im Lager. Trotzdem haben Sie im März zu einer nicht genehmigten Demonstration aufgerufen. Können Sie das verantworten?

Nawalny: Mir ist bewusst, dass ich Verantwortung trage - für meinen Bruder, der im Gefängnis ist, und für die Inhaftierten von Mai 2012. Das ist kein schöner Gedanke. Aber über meinen Bruder haben immerhin die Zeitungen auf ihren Titelseiten berichtet. Wenn heute irgendein Blogger in der Provinz in Haft kommt, dann besuchen ihn keine Journalisten, Anwälte oder Menschenrechtler, weil es inzwischen zu viele solcher Fälle gibt. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir weiter für politische Veränderungen kämpfen.

SPIEGEL: Viele fragen sich, warum Sie selbst in einem so repressiven System noch frei herumlaufen und sogar teure Wahlkampagnen führen können. Wer finanziert Sie?

Nawalny: Wir legen alles offen. Meine "Stiftung zur Bekämpfung der Korruption" ist nach russischen Maßstäben gut ausgestattet, mit umgerechnet 750.000 Euro Jahresetat. Aber die Einzelspenden liegen im Schnitt bei nur bei 11,50 Euro.

SPIEGEL: Persönlich verdienen Sie gut, wie man an Ihrer Einkommenserklärung sieht. Der russische Staat musste Ihnen 2016 rund 50.000 Euro Entschädigung zahlen, dazu hatte ihn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Wo kamen die restlichen 90.000 Euro her?

Nawalny: Das sind Einnahmen aus meiner juristischen Praxis. Man hat mir zwar mei

ne Anwaltszulassung entzogen, aber ein paar Mandaten sind mir geblieben.

SPIEGEL: Wer lässt sich denn von einem prominenten Kreml-Feind beraten?

Nawalny: Als Jurist bringe ich meinen Mandanten eher Nachteile. Aber die, die mich weiter engagieren, tun das auch, weil sie mich unterstützen.

SPIEGEL: Befürchten Sie nicht, dass Sie benutzt werden könnten?

Nawalny: Mich benutzt keiner. Aber natürlich wird das benutzt, was ich tue. Wenn ich Igor Setschin angreife ...

SPIEGEL: ... den Chef des staatlichen Ölkonzerns Rosneft und Gegner Medwedews ...

Nawalny: ... dann hilft das jemand anderem. Und wenn ich Medwedew angreife, gibt es gleich einen Haufen Leute, die das toll finden. Wobei ich leider nicht mal weiß, ob ich ihn schwäche oder stärke! Vielleicht wollte Putin vor einem Monat Medwedew entlassen, aber wie soll er das nach meinem Film noch tun? In einem undurchsichtigen System kann alles irgendwie benutzt werden. Das kann ich nicht ändern.

SPIEGEL: Während Sie im Gefängnis saßen, sind Russland und die USA wegen Syrien auf Konfrontationskurs gegangen. Was halten Sie von Putins Syrienpolitik?

Nawalny: Russland sollte sich der Internationalen Koalition gegen den "Islamischen Staat" anschließen. Es ist absurd, dass wir in einem Krieg zwischen Sunniten und Schiiten aufseiten der Schiiten eingreifen, obwohl fast alle russischen Muslime Sunniten sind. Um Baschar al-Assad zu helfen, handelt Putin uns große Probleme ein.

SPIEGEL: Dabei sah es zunächst so aus, als hätte Putin in Donald Trump einen Unterstützer seiner Syrienpolitik gefunden.

Nawalny: Ich habe nach Trumps Wahlsieg in einem Video erklärt, warum es mit Trump keine Freundschaft geben wird. Die Widersprüche der Systeme sind zu groß. Und Putin braucht einen Feind. Er will der Führer der antiamerikanischen, antieuropäischen Welt sein. Da kann er nicht mit ihren Staats- und Regierungschefs befreundet sein, er muss stattdessen Skandale und Widerstand erzeugen.

SPIEGEL: Mit Angela Merkel bleibt ihm mindestens eine Gegnerin. Ohne sie gäbe es die EU-Sanktionen gegen Russland nicht. Wie sollte sich Russland dazu verhalten?

Nawalny: Wir sollten die Minsker Vereinbarungen erfüllen. Der Hauptgrund für die Sanktionen ist, dass Russland ein Tabu verletzt hat: Es hat einen Krieg in Europa losgetreten. Die Krim ist ein Problem, aber der schmerzlichste Teil der Sanktionen ist mit dem Krieg im Donbass verbunden. Sobald Russland reale Schritte unternimmt, damit dort nicht mehr geschossen wird, wird dieser Teil der Sanktionen entfallen.

SPIEGEL: Bei Ihren Auftritten sagen Sie: Meine Außenpolitik besteht darin, dass endlich bessere Straßen gebaut und höhere Löhne gezahlt werden. Das klingt so, als wollten Sie dem Thema ausweichen.

Nawalny: Ich weiche nicht aus. Aber ich finde, und darin unterscheide ich mich von Putin, dass Russland sich nicht isolieren sollte. Alles, was in unserem Land geschieht, wird mit Syrien oder der Ukraine begründet. Aber wenn die eigenen Bürger nur 300 Dollar verdienen, dann wird das nichts mit der außenpolitischen Macht. Fangen wir doch mal an, unser eigenes Land zu kolonisieren. Wenn ich meinen Bruder im Gefängnis besuche, fahre ich durch den am dichtesten besiedelten Teil des europäischen Russlands - und sehe Kilometer um Kilometer keinen Menschen. Das wäre doch mal eine tolle Möglichkeit, seine Kräfte einzusetzen.

SPIEGEL: Sie sind das bei Weitem bekannteste Gesicht der Opposition, Ihre jungen Mitstreiter schauen zu Ihnen auf. Steigt Ihnen diese Rolle manchmal zu Kopf?

Nawalny: Ich ermuntere alle meine Mitarbeiter, selbst zu kandidieren. Aber es ist in diesem System extrem schwierig geworden, ein prominenter Oppositionspolitiker zu werden. Ich habe gar keine Rivalen mehr, mit denen ich debattieren könnte. Dabei brauche ich Konkurrenz. Und die Leute werden auch bald genug von mir haben. Die sagen: Nawalny, immer nur Nawalny, wir wollen jemand Neues sehen.

SPIEGEL: Herr Nawalny, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Nawalny, SPIEGEL-Redakteure (Christian Esch und Christian Neef im Moskauer Büro von Nawalnys Stiftung): "Wir legen alles offen"

Nawalny, SPIEGEL-Redakteure (Christian Esch und Christian Neef im Moskauer Büro von Nawalnys Stiftung): "Wir legen alles offen"

Foto: Denis Sinyakov/ DER SPIEGEL

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