Flüchtlingspolitik von Merkel Im Wunderland der Verzweifelten

Vor einem Jahr ließ Angela Merkel die Budapest-Flüchtlinge ins Land - und Hunderttausende folgten. Was trieb die Kanzlerin dazu? Welchen Preis zahlt sie dafür? Und welchen zahlen wir Bürger? Eine umfassende Rekonstruktion und Bilanz.
Flüchtling in Budapest am 3. September 2015

Flüchtling in Budapest am 3. September 2015

Foto: Zsolt Szigetvary/ dpa

Und dann steht sie da, Zsuzsanna Zsohár ... und stockt ... und starrt. Kann nicht fassen, was sie sieht, wie das überhaupt sein kann, ein Jahr danach. Aber da sind sie wieder: die Igluzelte. Die Müllcontainer. Die Plastiksäcke. Die Isomatten und Matratzen. Die Kinderbuggys und Plüschtiere. Nur keine Menschen, als wären die Flüchtlinge gerade nach oben zu den Zügen gerannt, den Zügen in den Westen.

Zelte, Isomatten, Plüschtiere, es sind Bilder, die Zsuzsanna in diesem Moment nicht mehr eingereiht bekommt, und mitten im Stakkato - hier war das, dort das und drüben ... - bricht ihre Stimme, schießen ihr die Tränen in die Augen. Und alles, alles kehrt ins Jetzt zurück: die Tage, an denen hier unten, im Tiefgeschoss vor dem Budapester Ostbahnhof, die Flüchtlinge kampierten. Die Tage, als Zsuzsanna zur Mutter der Gestrandeten wurde, die nicht wussten, wie sie von hier weiterkommen sollten. Tage, in denen Zsuzsanna so gebraucht wurde wie noch nie. Und die sie nie vergessen wird, weil es immer die besten Tage ihres Lebens sein werden.

Zwei, drei Sekunden, dann hat sie sich gefasst: Ist nur eine Filmkulisse. Die Zelte, die Matratzen, die Plüschtiere, ein Jahr danach dreht ein Team einen Kinofilm an diesem Platz, an dem sich im September 2015 ein Kampf um Europa entschied. Mit einem Sieg der Hoffnung, dass die Welt eine bessere wird.

Einem Sieg für Zsuzsanna. Und auch mit einem Sieg für ihn, Ayaz Morad, den Mann mit dem Plakat. Am 1. August 2016 hat er endlich, endgültig gewonnen, sein neues Leben. Aus einem Flüchtlingsheim in Frankfurt-Bonames sendet er ein Selfie, mit dem Brief vom Bundesamt - der Bescheid, dass er als Flüchtling anerkannt ist. "Danke, Gott", schreibt er dazu, und gleich nach dem lieben Gott kommt für ihn eine Frau: Danke, Merkel. Vor einem Jahr war er einer von denen, die am Budapester Sackbahnhof in der Sackgasse saßen, in diesem Tunnellabyrinth unter dem Bahnhofsplatz, einer Unterwelt aus Müll, Dreck und Urin-Gestank.

Souterrain des Budapester Ostbahnhofs am 29. August 2015

Souterrain des Budapester Ostbahnhofs am 29. August 2015

Foto: Zsolt Szigetvary/ dpa

Morad gehörte zu denen, die den "Marsch der Hoffnung" organisierten, gut tausend Flüchtlinge, die zur Autobahn aufbrachen, um zu Fuß die 175 Kilometer nach Österreich zu laufen. Ein Aufbruch, der zum Durchbruch wurde, für die Frage, ob Deutschland diese Menschen nimmt - so groß wurde der Druck. Morad lief damals an der Spitze, in der Hand ein Plakat von Angela Merkel, die sie ins Land lassen sollte. Und das in dieser Nacht vom 4. auf den 5. September auch tat. "Das ist meine Mutter", sagte er damals auf der Autobahn. Und heute? "Es ist sehr gut für mich, dass ich hier in Deutschland bin. Und Merkel ist wirklich eine Mama."

Merkel - gerade hat die Bundeskanzlerin ihre Sommerpressekonferenz gegeben, das war nicht geplant, nicht so früh, aber was blieb ihr übrig, nach den Anschlägen von Würzburg und Ansbach, begangen von Flüchtlingen? Aus der Mutter Teresa des vergangenen Sommers ist längst wieder die Realpolitikerin geworden. Sachzwänge, kleine Schritte. Immerhin, sie sagt noch mal den Satz, den sie damals, kurz vor der Aufnahme der Budapest-Flüchtlinge, über das ganze Land spannte: "Wir schaffen das." Aber es liegt kein Zauber mehr darin, kein Versprechen, nur noch die Erkenntnis, dass es nicht zu halten war.

Nicht in dieser einfachen Reinheit, die ein großes Versprechen so unwiderstehlich macht. Wir schaffen das. Vielleicht, irgendwie, später, hoffentlich. Das wird jetzt immer mitgedacht. Oder auch: "Lügenkanzlerin". Merkel droht zu verlieren, was ihr viele Jahre sicher war: die Mehrheit.

Keine Namen bitte. Nennen wir ihn: den Beamten. "Der Beamte" hat damals miterlebt, wie Innenminister Thomas de Maizière und vor allem der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, versucht haben, den Flüchtlingsstrom nach Deutschland zu stoppen. Sich gegen den Mainstream, den Merkel-Stream, auch gegen den Energiestrom der begeisterten Helfer zu stellen, diese bedingungslose Menschlichkeit der Spaliere in München, Frankfurt, Köln.

Er glaubt nicht, dass das Land besser geworden ist. "Deutschland hat sich mit seiner Flüchtlingspolitik in Europa isoliert, die Bevölkerung ist polarisiert und nicht mehr nur an den Rändern radikalisiert. Und nicht zu vergessen: Wir haben Hunderttausende Menschen im Land, von denen wir nicht sicher wissen, wer sie wirklich sind und wie sie einmal sein werden." Der Staat habe sich damals aufgegeben, als er eine Million ins Land ließ, und was sei dadurch besser geworden? Aber bitte: Dieses Gespräch habe nie stattgefunden.

Ein Jahr danach. Die Flüchtlingskrise 2015 hatte sich schon im Frühjahr abgezeichnet, und der Streit, ob Deutschland dadurch ein besseres oder schlechteres Land wurde, reicht bis heute. Aber das Zeitfenster, in dem die historischen Entscheidungen fielen, lässt sich auf 14 Tage eingrenzen. Die Tage von Budapest. Beginnend mit dem 31. August, den ersten Zügen aus Ungarn, die in München ankamen. Bejubelt von Menschen, die für die Flüchtlinge Spalier standen, ihnen zuklatschten. Dann das Wochenende vom 4. bis zum 6. September, als die nächsten Züge kommen durften, diesmal aber mit einem politischen Abfahrsignal auf höchster Regierungsebene. Und schließlich der 13. September, als sich die Bundesregierung dagegen entschied, die Grenze zu Österreich dicht zu machen, um die Einwanderung von Hunderttausenden zu stoppen. Grenzkontrollen sofort, aber Asylsuchende werden nicht zurückgewiesen - damit war klar, dass Deutschland für Flüchtlinge weiter offen blieb.

Begeisterter Empfang für Flüchtlinge in München am 5. September 2015

Begeisterter Empfang für Flüchtlinge in München am 5. September 2015

Foto: Nicolas Armer/ dpa

Wie kam es dazu? Hat die Kanzlerin aus moralischer Verantwortung eine große humanitäre Entscheidung getroffen, als sie die Budapest-Flüchtlinge aufnahm? Oder wurde sie vor vollendete Tatsachen gestellt, durch die ungarische Regierung, und ihr blieb ohnehin keine Wahl? Und wie knapp war Deutschland eine Woche später davon entfernt, seine Grenze zu schließen? Ein SPIEGEL-Team hat die Ereignisse jener zwei Wochen rekonstruiert, es ist das Protokoll einer Befreiung - der Flüchtlinge aus ihrer Misere in Budapest, der deutschen Politik aus jahrzehntealten Dogmen im Umgang mit Migranten. Das Dogma der Abschottung gegen die Armut in aller Welt. Und das Dogma, dass es kaum noch einer legal nach Deutschland schaffen darf - dafür hatte man das Dublin-System, das den EU-Staaten am Rand die Last aufbürdete.

Allerdings ist die Bundesregierung seitdem auch eine Gefangene dieser Befreiung geworden. Die Kanzlerin klammert sich öffentlich weiter an einen Mythos, der mit ihrer Politik im Jahr 2016 nichts mehr zu tun hat. Zwar macht heute nicht Deutschland die Grenze für Flüchtlinge dicht. Aber die Türkei tut es für Deutschland, die Grenze nach Syrien und die nach Griechenland. Ankara lässt sich das teuer bezahlen, politisch, finanziell. Und so haben die 14 Tage im Spätsommer wohl das Land geprägt, aber nicht die Welt verändert; die ist geblieben, wie sie ist.

Vorher

Damaskus, im Frühjahr 2015: Ismail und Majedah Ahmad haben vier Jahre Bürgerkrieg durchgehalten, am Anfang hatten sie noch Arbeit, er als Elektriker, sie in einer Apotheke. Sie hatten eine Wohnung mit vier Zimmern, einen dunkelgrünen Kia, aber dann verloren sie die Arbeit, und mit jedem Jahr Krieg etwas mehr: das Auto, die Wohnung, nun gibt es nicht mal Gasflaschen, um zu heizen. Der letzte Winter war eisig gewesen, noch einen wollen sie in Damaskus mit fünf Kindern nicht mitmachen. Die Ahmads haben keine Hoffnung, dass es besser wird; was sie haben, sind noch 8000 Dollar für einen Schleuser. Im Sommer werden sie flüchten.

Damaskus, im Frühjahr 2015: Assads Armee ist ausgeblutet, es kann nicht mehr lange dauern, dann werden sie auch den Deutschlehrer Husein Alali einziehen. Er hat hier eine schwangere Frau und eine Tochter, erst ein Jahr alt, aber er will nicht kämpfen, nicht für Assad, nicht für die Assad-Gegner, er will leben. Im Sommer wird er flüchten.

Arbil im Frühsommer 2015: Lange hatte Ayaz Morad gehofft, dass der syrische Bürgerkrieg bald vorbei sein würde; bis dahin wollte er in Arbil bleiben, im Nordirak. Er hatte Arbeit bei einer Baufirma aus Abu Dhabi, verdiente 10.00 Dollar im Monat. Aber dann rückten die IS-Truppen auf Arbil vor, die Baufirma machte zu, und was soll nun aus Morad werden? Zurück zur Familie nach Nordsyrien? Oder dorthin, wohin jetzt so viele gehen, nach Europa? Im Sommer wird er flüchten.

Nach vier Jahren Bürgerkrieg sind viele Syrer am Ende: mit ihrer Hoffnung, mit ihren Nerven, mit ihren Reserven. Ob sie in einem der Flüchtlingslager in den Nachbarländern ausgeharrt haben, wo nun auch noch die internationalen Hilfsgelder gekürzt werden, oder im syrischen Bombenterror - viele glauben inzwischen, dass sie nichts mehr zu verlieren haben außer ihrem Leben. Bevor es aber so ein Leben ist, sind sie bereit, es zu riskieren, auf der Flucht.

Es ist nicht so, dass die Bundesregierung keine Ahnung hat, was auf sie zukommt: In einem Vermerk, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Anfang August 2015 ans Innenministerium schickt, heißt es über die in Nachbarländer geflohenen Syrer, ihre Hoffnung auf eine Rückkehr sei "inzwischen vollständig zerstört". Die "beklemmende Lage" lasse sie nach Europa aufbrechen.

Dazu kommt, dass nun die Balkanroute als Fluchtweg steht, auch für Afghanen, Iraker, Pakistaner: mit einem gut ausgebautem Netz an Schleusern, mit türkischen Behörden, die damals noch weggucken, mit einer kurzen See-Überfahrt auf eine griechische Insel. "Der Brennpunkt verschiebt sich zunehmend auf die ostmediterrane Route", weg von der Nordafrika-Strecke nach Italien, melden deutsche Sicherheitsbehörden im Juli 2015 in einem internen Report.

Schon 2014 sind die Asylbewerberzahlen in Deutschland auf 202834 gestiegen, den höchsten Stand seit Mitte der Neunzigerjahre. Die Zahlen verraten bereits da, dass das deutsche Bollwerk gegen das Heer der Armen und Verzweifelten aus aller Welt zusammengebrochen ist. Dublin-Verordnung nennt sich das Bollwerk. Demnach sollen in einem Europa ohne Binnengrenzen die Randstaaten wie Griechenland, Italien oder Ungarn dafür sorgen, dass Flüchtlinge dort bleiben, wo sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben - in diesen Staaten ganz außen. Wer trotzdem weiterzieht, nach West- und Nordeuropa, wird wieder zurückgeschickt.

Lange profitierte Deutschland davon. Nun aber hat die Bundesrepublik schon seit Jahren die höchsten Flüchtlingszahlen in Europa. Die überforderten Italiener, und wohl nicht nur sie, winken Flüchtlinge durch, ohne sie zu registrieren. Und ins marode Griechenland dürfen deutsche Behörden keine Asylbewerber mehr zurückschicken, so schlecht geht es ihnen dort. Am 8. Juli zählt die Bundespolizei zum ersten Mal mehr als tausend unerlaubte Einreisen an einem Tag. Dublin, so viel steht fest, hält Flüchtlinge nicht mehr auf. Die deutsche Wohlstandsinsel hat mit der Balkanroute eine stabile Anbindung an das Leid der Welt bekommen.

Es dauert, bis Angela Merkel sich dem Problem stellt, so lange, bis es nicht mehr anders geht. Flüchtlingspolitik ist ein Verliererthema, wer konsequent sein will, gilt als unbarmherzig - spätestens, wenn das nächste Schiff untergeht; wer dagegen großzügig sein will, gilt als naiv, spätestens wenn die "Bild"-Zeitung die nächsten Asylbetrüger vorführt. Dass selbst Merkel in der Flüchtlingsfrage untergehen kann, erlebt sie am 16. Juli in Rostock. Da steht sie vor dem weinenden Flüchtlingsmädchen Reem, das gerade gefragt hat, warum sie und ihre Familie wahrscheinlich bald abgeschoben werden. Merkel müsste in diesem Moment sagen, dass Reem bleiben darf. Das wäre Merkels einzige Chance, anständig aus der Sache herauszukommen, aber das geht natürlich nicht. Denn dann müssten viele bleiben, und "wir können ja nicht alle in Deutschland willkommen heißen", erklärt sie. Und: "Das können wir auch nicht schaffen."

Sechs Wochen bevor sie ihr berühmtes "Wir schaffen das" sagt, ist sie da von einer Klarheit, dass es wehtut - selbst heute noch, wenn man das Video sieht und weiß, dass Reems Familie doch bleiben durfte.

Wenn aber nicht alle kommen und bleiben können - was tun mit den Hunderttausenden, die sich in diesem Sommer auf den Weg machen? Die Entscheidung, die Merkel fällen muss, ist die zwischen Zaun und Verteilung. Den Zaun der Ungarn an der Außengrenze will sie nicht, er lässt Europa, den Kontinent der Freiheit, wie eines dieser abgeschirmten Luxusresorts in einem Entwicklungsland aussehen. Und die Verteilung, eine gerechte Verteilung der Asylbewerber auf alle EU-Staaten, bekommt sie nicht, das haben die Osteuropäer schon im April beim EU-Sondergipfel in Brüssel deutlich gemacht. Vor allem ein Land: Ungarn.

Regierungschef Viktor Orbán ist ein rechter Populist. Aber im Juni stellt er die richtige Frage beim Treffen der EU-Staatschefs: "Schengen oder Korridor?" Korridor bedeutet: Orbán behält die Flüchtlinge nicht in Ungarn, obwohl sie dort zum ersten Mal EU-Boden betreten haben. Stattdessen lässt er sie durchlaufen nach Deutschland - so wie es später im September kommen wird. "Nein, kein Korridor", soll die führende Meinung gewesen sein, sagt Ungarns damaliger EU-Gesandter Péter Györkös, heute Botschafter in Berlin. Der Korridor verstoße gegen Dublin, und Dublin müsse weiter gelten. Orbán soll gesagt haben: "Dann brauchen wir aber den Zaun." Damit nicht alle zu ihm kommen und bleiben. Bitte keinen Zaun, war die Antwort in Brüssel. Und was dann? Kurz darauf beginnt Ungarn, den Zaun zu bauen, um die Balkanroute zu schließen. Im September soll er fertig sein. Jetzt beginnt der große Run: Alle, die kommen wollen, müssen es vorher schaffen.

Am 7. Mai hatte das Bamf, die deutsche Flüchtlingsbehörde, seine letzte Prognose für das Jahr 2015 gemeldet. 450.000 Asylbewerber. Schon Mitte Juli ist klar: Das reicht nicht. Bei einem Unions-Jour-fixe am 18. August erhöht Innenminister Thomas de Maizière auf bis zu 800.000. 800.000! "Diese exorbitant hohe Zahl werden wir unseren Bürgerinnen und Bürgern gut erklären müssen", heißt es im Sprechzettel des Ministers für ein Treffen am nächsten Tag mit den Staatskanzleichefs der Länder. Von "Herausforderungen in einer Dimension, wie wir sie bisher nicht gekannt haben", ist da die Rede. Deutschland bleibe Hauptziel der Flüchtlinge. Es drohe "die konkrete Gefahr, dass unser nationales Asyl- und Aufnahmesystem kollabiert".

Die Wahrheit ist, dass das System schon längst kollabiert ist, an der deutschen Grenze nämlich. Seit Mai kann die Bundespolizei bei so vielen Flüchtlingen nicht mehr alle zehn Fingerabdrücke nehmen. Tausende kommen ins Land, ohne dass man weiß, wer sie sind, wo sie bleiben.

Und die zweite bittere Wahrheit: Deutschland hat sich mit "Fehlanreizen", wie de Maizière das nennt, selbst zum Wunsch- und Wunderland der Verzweifelten gemacht. Dass in Berlin Kleidergeld für sechs Monate und Taschengeld für sechs Wochen im Voraus gezahlt wird, wie de Maizière klagt, so etwas gehört zum universalen Wissen in einer Zeit, in der die Flucht mit Smartphones minutengenau in die Heimatländer übertragen wird. Auch dass Asylverfahren in Deutschland mehr als ein Jahr dauern können und ein Nein am Ende kein Nein bleiben muss.

Und dann gibt es da noch diesen Tweet, den das Bamf am 25. August absetzt:

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Eigentlich war das nur die Einsicht in die Realitäten: Das Bamf, vollkommen überlastet, schafft es nicht mehr zu prüfen, aus welchem EU-Staat Asylbewerber gekommen sind, um sie dahin zurückzuschicken. Also entscheidet es bei Syrern lieber gleich selbst. Auf dem Flüchtlingstreck wird diese Notiz aus dem Verwaltungsbetrieb jedoch zur frohen Botschaft: Syrians welcome!

Merkel wird Tage später sagen, dieser Tweet habe eine "gewisse Verwirrung" ausgelöst, Ungarns Botschafter Györkös ist weniger zurückhaltend: "Als diese Nachricht erschien, haben uns die serbischen Grenzpolizisten am nächsten Tag mitgeteilt, dass auf ihrer Seite Tausende Pässe gefunden worden seien. Alle weggeworfen. Von diesem Moment an waren alle Flüchtlinge Syrer."

Was nun? Grenzkontrollen, um damit die deutsche Grenze für Flüchtlinge zu schließen? Im Innenministerium gibt es diese Überlegung, und Dieter Romann, der Chef der Bundespolizei, wird in den nächsten Wochen so deutlich wie kein anderer dafür plädieren. Mehr noch als sein Minister de Maizière wird Romann zum Gegenspieler einer Politik der offenen Arme, offenen Grenzen. "Romann wollte abriegeln", sagt "der Beamte" - nennen wir ihn weiter so. In Romanns Auftrag habe deshalb eine Arbeitsgruppe getagt. Sie spielt Was-wäre-wenn-Planspiele, für den Fall, dass die Regierung die Kontrollen an der Grenze zu Österreich beschließt.

Allerdings sollen diese Vorbereitungen hoch vertraulich bleiben. Denn eine Grenzschließung, das wäre ein Politikum, der Anfang vom Ende des Schengen-Abkommens, von freier Fahrt für freie Bürger, dem Inbegriff der europäischen Einigung. Jeder Schlagbaum steht für das Scheitern eines Traums, nicht nur der Flüchtlinge, auch der Europäerin Merkel. Was wird die Kanzlerin tun?

Es gibt heute Beobachter, die glauben, Merkel habe eine zweckrationale Entscheidung gefällt. Sie habe in den Tagen von Budapest das Tor aufgemacht, um Zeit zu gewinnen für eine Lösung. Entweder die Verteilung auf alle EU-Staaten oder den Türkei-Deal, der ein halbes Jahr später kommt. Andere glauben an eine emotionale Entscheidung: Der Lastwagen mit 71 toten Flüchtlingen am 27. August an der Autobahn in Österreich, ein paar Tage später das Foto vom dreijährigen Alan, ertrunken auf der Flucht, angespült an den Strand von Bodrum, das alles habe die sonst so beherrschte Politikerin angerührt.

Polizist trägt toten Flüchtlingsjungen Alan

Polizist trägt toten Flüchtlingsjungen Alan

Foto: STR/ AFP

"Der Beamte" hat eine andere Erklärung: Ja, Merkel habe emotional reagiert, aber nicht im Angesicht des Leids - selbst bei Reem in Rostock sei sie in der Sache knallhart geblieben. Nein, Heidenau habe den Unterschied gemacht. Merkel im Angesicht des Hasses.

Am 26. August besucht die Kanzlerin zum ersten Mal eine Flüchtlingsunterkunft, im sächsischen Heidenau. Als Merkel zu ihrem Auto zurückgeht, schreit aus dem Mob eine hysterische Frau: "Du elende Fotze", "Du blöde Schlampe", "Volksverräterin". Merkel ist in griechischen Zeitungen schon als Nazi verhöhnt worden, aber so vulgär, so niveau- und bodenlos hat sie noch nie einer beleidigt. "Das hat sie getroffen", sagt "der Beamte", "denen wollte sie es zeigen". Danach sei ihr Verhalten persönlich geworden. Irrational.

Anti-Merkel-Protestierende in Heidenau

Anti-Merkel-Protestierende in Heidenau

Foto: Jan Woitas/ dpa

Am 31. August sagt Merkel ihren berühmten Satz "Wir schaffen das." Und am 15. September: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Sondern das des Mobs. Dazwischen liegen 14 Tage, die das Land verändert haben.

Vierzehn Tage im Spätsommer

Ende August ist Budapest so etwas wie das "Casablanca" des großen Trecks aus dem Osten geworden: Tausende haben es bis hierher geschafft, haben sich durchgekämpft, bis ans Ende ihrer Kräfte. Aber jetzt sitzen sie fest, wie es von hier weiter- geht, das wissen sie nicht.

Ismail Ahmad war sicher, dass er, seine Frau, die Kinder ertrinken würden. So hoch schlugen die Wellen in der Ägäis gegen ihr überfülltes Schlauchboot, dass er die letzten Worte eines gläubigen Muslims betete, bevor er ins Paradies eingeht: "Aschhadu an la ilaha illa Allah ..." - "Ich bekenne, dass es keinen Gott gibt außer Allah". Aber dann war Allah ihnen gnädig gewesen, sie hatten es doch geschafft. Ankunft Budapest: am 29. August.

Auch Ayaz Morad, der Mann mit dem Merkel-Plakat, hatte Todesangst. Seine Schwestern, die mit ihm flohen, schöpften mit Schuhen das Wasser aus dem Schlauchboot, dann riss das Boot, Panik, "Gott hilf uns", schrien die Frauen, und tatsächlich schickte der Himmel Hilfe, einen Helikopter der griechischen Küstenwache. Ankunft Budapest: am 3. September.

Husein Alali, der Deutschlehrer, hatte es am 26. August durch eine Lücke im ungarischen Grenzzaun geschafft, über die Bahngleise bei Röszke. Doch auf der anderen Seite standen Polizisten, nahmen ihn fest, wollten ihn registrieren. Alali hatte gehört: Dann muss er in Ungarn bleiben. Aber er hat Glück, entwischt, er rennt in ein Sonnenblumenfeld. Ankunft Budapest: am 31. August.

Der Keleti pályaudvar, der Ostbahnhof, wird in diesen Tagen zur großen Wartehalle der Hoffnung und Verzweiflung. Hier stauen sich die Flüchtlinge, weil die Polizei sie nicht weiterziehen lässt, anders als die in Griechenland, Mazedonien, Serbien. Ungarns Regierungschef Orbán macht Ernst, nimmt das Dublin-Abkommen ernst - und wenn es nur darum geht, diesen Deutschen zu zeigen, wozu das führt, wenn man keine Zäune baut.

Die Ahmads kampieren in einem verkachelten Fußgängertunnel unter dem Vorplatz, sie liegen auf Pappen, ein Kampf um jeden Quadratmeter Platz. Es riecht nach Schweiß, Urin, Zigaretten, die Sommerhitze steht in den Fußgängerschächten, und mit all den Flüchtlingen staut sich hier auch ihre Enttäuschung, ihre Wut.

Doch es gibt auch Engel in dieser Hölle: Zsuzsanna Zsohár, heute 37, hatte Ende Juni eine Facebook-Gruppe gegründet, Migration Aid; Zsohár war selbst ein Flüchtling, war mit 11 Jahren mit ihrer Familie aus Ungarn nach Frankfurt geflohen; mit 17 musste sie wieder zurück nach Budapest, und seitdem, sagt sie, ist sie aus so ziemlich allem geflohen, woraus sie fliehen konnte: einem Studium, zwei Ehen. Nur nicht vor der Verantwortung, in diesen Sommertagen 2015 zu helfen.

Die Übersetzerin ruft mit ihren Freunden zu Spenden auf, sie sammeln Schlafsäcke, Windeln, Asthma-Medikamente, Plüschtiere, mehr, als sie brauchen. Sie bekommen 240 Zelte, die Fans nach einem Open-Air-Festival mit Robbie Williams in Sziget stehen gelassen haben. Sie beschaffen 100 Steckdosen für die Handys, die Nabelschnur der Flüchtlinge zu ihren Familien und die Rettungsschnur zu denen, die sie in Westeuropa erwarten.

Aber das reicht alles nicht. Tausende drängen sich Ende August im Untergeschoss, auf den Treppen, auf dem Platz vor dem Bahnhof. Sie brüllen "Germany" und "Angela Merkel", sie wollen jetzt endlich weg. "Wir sangen für ein Wunder", erinnert sich Ismail Ahmad, und, ja, dann passiert es, das Wunder. Nur nicht für ihn.

"Auf einmal hieß es, da fährt ein Zug nach München, alle rannten los, ließen ihr Gepäck einfach stehen" - Zsuzsanna Zsohár hat die Szene noch vor Augen, und tatsächlich: Ungarn öffnet das Ventil. Am 31. August, einem Montag, gehen Züge von Budapest in den Westen, erreichen Rosenheim und München. Die Ahmads aber haben es nicht geschafft; mit ihren kleinen Kindern hatten sie keine Chance. Es sind vor allem allein reisende Männer, die sich in die Züge quetschen. Und dann sperrt die Polizei den Bahnhof wieder ab.

Es ist ein erstes, kurzes Antesten: Was passiert, wenn Dublin nicht mehr gilt, wenn die Grenzen völlig offen sind. Es ist im Kleinen schon das, was dann am 5. September passieren wird, nur dass diese erste Öffnung noch nichts Grundsätzliches hat und deshalb nichts Historisches. Werner Faymann, der damalige österreichische Kanzler, beschwert sich sogar über Orbán: "Dass die in Budapest einfach einsteigen und man schaut, dass die zum Nachbarn fahren - das ist doch keine Politik." Noch ist das Durchwinken der Ungarn für ihn ein Unding, Handstreich, eine Flegelei.

Eines aber zeigt dieser Reaktionstest: In Deutschland überwiegt nicht populistische Empörung, sondern eine Vox populi der Begeisterung. Eine Euphorie, wie sie die Republik seit der Sommermärchen-WM 2006 nicht erlebt hat.

Schon am Nachmittag dieses 31. August ploppt auf dem Handy von Vaniessa Rashid eine Mail auf. Ein befreundeter Grünen-Politiker aus Österreich schreibt, er sitze gerade mit 400 Flüchtlingen im Zug nach München, ob sie dort etwas machen könnte. Rashid, 25, aus dem Grünen-Ortsverband Ramersdorf-Perlach fährt zum Hauptbahnhof, ein paar Schülerinnen, die dem Facebook-Aufruf der Grünen gefolgt sind, warten schon. Zusammen bemalen sie mit Filzstiften die erste Pappe von Tausenden, die in den nächsten Wochen mit diesen zwei Worten in Deutschland beschriftet werden: "Refugees Welcome".

Gegen 20 Uhr läuft der erste Zug ein, an Gleis 26, Flüchtlinge springen heraus, sie jubeln, rufen mit Tränen in den Augen "Thank you, Germany". Und Vaniessa Rashid jubelt zurück, klatscht, winkt; "ich hatte eine Gänsehaut wie noch nie in meinem Leben", erinnert sie sich. Es sind Bilder, die am nächsten Tag um die Welt gehen, von einem Deutschland, das sich so ganz anders zeigt als das, was man in vielen Teilen der Welt immer noch von den Deutschen denkt. Und dieser Glücksrausch der guten Tat, er steckt an, erfasst mehr und mehr Menschen: "Welcome".

Es ist das Bild vom guten Deutschen, das viele Deutsche von sich zeigen wollen; und das Bild, das nun hunderttausendfach die digitale Balkanroute hinunterjagt: Die Deutschen freuen sich, wenn Flüchtlinge kommen. Der Rausch ist neu und rein und stark, er ist noch weit entfernt von dem Kater, der ein paar Monate später in der Kölner Neujahrsnacht auf das Land wartet.

Umso enttäuschter ist Husein Alali, der Deutschlehrer: Er hat sich ein Ticket nach München gekauft, aber jetzt ist der Bahnhof wieder gesperrt, für Flüchtlinge gehen keine Züge mehr. Am Nachmittag blockieren sie die Hauptstraße, aus Protest, werden aber von gepanzerten Polizisten abgedrängt. Sirenen heulen über den Bahnhofsplatz, Schuhe und Wasserflaschen fliegen durch die Luft. Die Flüchtlinge demonstrieren jetzt jeden Tag, jede Stunde. "We love to go to Germany", und immer wieder: "Angela". Aber Angela kommt nicht.

Einen Augenblick überlegt sie, nach Budapest zu reisen, aber es gibt ein historisches, ein heroisches Vorbild für solch eine Reise, Hans-Dietrich Genschers Mission 1989 in der Prager Botschaft, einer der bewegendsten Momente der deutschen Geschichte. "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." - der Rest war Jubel. Was sollte Merkel verkünden: Noch ist sie nicht so weit, allen die Ausreise nach Deutschland zu schenken - der Rest wären Pfiffe.

Am 4. September hat Ismail Ahmad die Hoffnung verloren, dass aus Budapest ein Zug nach Österreich geht. Er hat noch etwas Geld, am frühen Morgen nimmt er mit seiner Familie ein Taxi nach Györ, 50 Kilometer vor der Grenze. Und deshalb ist er nicht mehr dabei, als an diesem Tag Ayaz Morad Geschichte schreiben wird.

DER SPIEGEL

Morad geht über den Bahnhofsvorplatz, geht vorbei an gebrochenen Menschen mit zerbrochenen Hoffnungen, kein Zug mehr, der sie hier herausholt. Irgendwann werden sie alle registriert, dann müssen sie in Ungarn bleiben. Ein Mann spricht ihn an: "Wir müssen zu Fuß gehen!" Nach Österreich. Eine Wahnsinnsidee, aber eine Idee wie gemacht für den Wahnsinn ihrer Lage. Zur österreichischen Grenze sind es 175 Kilometer. "Ja", sagt Morad. "warum nicht zu Fuß? Aber wir müssen alle zusammen gehen", sonst fängt sie die Polizei ab.

Morad läuft von Flüchtling zu Flüchtling - wer kommt mit? Er stellt sich auf die Bahnhofstreppe und macht Durchsagen: "Let us go away from here", er spricht zu den Flüchtlingen, meint aber auch die Journalisten. Die Marschierer brauchen die Öffentlichkeit, den Druck, und tatsächlich, um 13 Uhr laufen gut 1000 Leute vom Bahnhof los, im Tross viele Berichterstatter. Es erinnert an eine biblische Szene, den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Sogar ein Rollstuhlfahrer will es versuchen. Morad läuft vorn, in seiner Hand hält er ein Plakat von Angela Merkel. Er reckt es in die Kameras, und als ihn eine Journalistin der "New York Times" anspricht, sagt er: "Das ist meine Mutter. Ich glaube, sie ist die Einzige, die auf uns aufpasst."

Syrer Morad (M.) am 4. September 2015 in Budapest beim Marsch zur Autobahn

Syrer Morad (M.) am 4. September 2015 in Budapest beim Marsch zur Autobahn

Foto: Zsolt Szigetvary/ dpa

Als der Treck die Autobahn erreicht, rasen die Autos vorbei, die Polizei hält die Flüchtlinge nicht auf, sperrt aber auch die Bahn nicht ab. So schaffen die Männer, Frauen, Kinder 30 Kilometer, dann können sie nicht mehr. Viele tragen Flipflops, haben sich Blasen gelaufen, humpeln schon seit Stunden.

Als es dunkel wird, fängt es auch noch an zu regnen, und die Polizei hält die Flüchtlinge an. Wer soll ihnen jetzt noch helfen? Morad hat immer noch sein Plakat. Angela Merkel!

An diesem Freitag tagen in Luxemburg die EU-Außenminister, und unmittelbar vor dem Essen um 20 Uhr spricht Péter Szijjártó, der Ungar, seinen österreichischen Kollegen Sebastian Kurz an. Es geht um die Flüchtlinge am Bahnhof und auf der Autobahn, sie wollen nach Deutschland, was soll man machen? Orbán wolle telefonieren, mit Faymann, mit Merkel.

Kurz zieht den Deutschen Frank-Walter Steinmeier zur Seite. Es ist der Auftakt zu hektischen Telefonrunden, mit Faymann, der sicher sein will, dass die Flüchtlinge nicht alle in Österreich bleiben, wenn er sie ins Land lässt. Mit Steinmeier, der prüfen soll, ob Deutschland die Flüchtlinge aufnehmen kann, mit einer Ausnahmeregelung im EU-Recht. Mit de Maizière, dem die Bundespolizei untersteht, der aber mit 39,7 Grad Fieber im Bett liegt. Und natürlich mit Merkel.

Es gehört heute zur großen Flüchtlings-Saga, dass sich Österreich und Deutschland in einem Akt humanitärer Größe und aus freien Stücken entschlossen hätten, dem Elend ein Ende zu setzen. Dass Merkel und Faymann nicht länger hätten zusehen wollen, wie die Menschen auf der Autobahn herumirren, vor Schwäche zusammenbrechen, mitten in Europa. Dass sie Orbán die Flüchtlinge entrissen hätten, damit sie nicht weiter sein Spielball blieben. Ihm ausgeliefert.

Allerdings gibt es an dieser Version Zweifel. Zwar sprechen Merkel und Faymann kurz nach 20 Uhr miteinander, es geht in die Richtung, dass sie die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Merkels endgültige Entscheidung fällt aber offenbar erst spätabends, in der Stunde vor Mitternacht. Vorher laufen im Kanzleramt Runden mit Experten aus dem Innenministerium und dem Auswärtigen Amt. Sie warnen davor, dass so eine Entscheidung noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland ziehen würde.

Aber schon um 20.43 Uhr meldet die Agentur AP: "Ungarn will die nach Österreich marschierenden Flüchtlinge in Bussen bis an die Grenze bringen." So habe es Orbáns Stabschef János Lázár gerade im Parlament angekündigt. Um 21.15 Uhr tritt Lázár vor die Presse: Ungarn werde die Autobahn-Marschierer mit Bussen zur Grenze fahren, und die Flüchtlinge am Budapester Ostbahnhof auch.

Orbán weiß offenbar nichts von einer deutsch-österreichischen Entscheidung, als er noch vor 20.43 Uhr auf eigene Faust beschließt, die Busse mit den Flüchtlingen an die Grenze zu schicken. Lázár klagt nämlich in der Pressekonferenz, sein Premier habe versucht, den Österreicher ans Telefon zu bekommen. Der habe ihm aber erst einen Telefontermin für den nächsten Morgen angeboten. Man könne deshalb nicht sagen, wie Österreich auf die Busse reagieren werde. Fahren sollen sie trotzdem.

An diesem Abend gibt es wohl erst gegen Mitternacht einen Kontakt mit Orbán - so bestätigt das ein österreichisches Regierungsmitglied dem SPIEGEL. Dann aber hat Ungarn die österreichische und deutsche Regierung mit der Ankündigung, jetzt würden die Busse rollen, vor vollendete Tatsachen gestellt. Merkel hat demnach noch mit ihren Beratern gerungen - und auch noch mit Faymann, der die Aufnahme als eine Ausnahme tituliert wissen wollte - als sich rund 100 Busse schon sammelten.

Dazu passt, dass Merkel erst um 23.30 Uhr und nicht schon vorher versucht, CSU-Chef Horst Seehofer zu erreichen, um ihm ihre Entscheidung mitzuteilen. Seehofer geht nicht ans Telefon, und Merkel macht sich nicht die Mühe, ihn in seinem Urlaub über die Personenschützer zu erreichen. Das lässt Seehofer alle Möglichkeiten für ein Zerwürfnis, das bis heute andauert: "Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird. Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen", sagt er im SPIEGEL.

Die CSU wittert Verrat an einer konservativen Politik, die eigene Kanzlerin soll ihn begangen haben. Aber Merkel hat noch eine Chance, diesen Fehler aus Sicht der CSU wiedergutzumachen. Eine Woche später, am 13. September, steht sie vor der Entscheidung, die deutschen Grenzen für Flüchtlinge de facto wieder zu schließen, mit Grenzkontrollen.

Bis dahin taumeln Deutschland und Österreich erst mal weiter im Glück des Gönnens. Um 3 Uhr nachts fährt der Bus mit Ayaz Morad zur Grenze bei Nickelsdorf. Zu Fuß geht er hinüber, vorbei an der alten veterinärmedizinischen Station, wo vor ein paar Tagen noch der sichergestellte Todeslaster stand, in dem 71 Flüchtlinge erstickt waren. Morad hat es geschafft. Sie nicht.

Zwei Stunden später kommt auch Alali, der Deutschlehrer, in Nickelsdorf an, etwas später in Passau. "Es war sehr schön" erinnert er sich an all die Helfer, die ihm mehr geben, als er beim besten Willen essen und trinken kann. Und auch Ismail Ahmad erreicht mit seiner Familie nach einer Odyssee in der Gegend um Györ das Ziel.

Allein an diesem Wochenende schaffen es 20.000 Flüchtlinge aus Ungarn nach München. Auf der Balkanroute gibt es jetzt keinen Halt und kein Halten mehr. Wie lange aber würde es dauern, bis die Deutschen das Tor wieder schließen? Dieter Romann, der Chef der Bundespolizei, lehnt eine Anfrage des SPIEGEL für ein Gespräch ab. Er hätte sicherlich viel zu erzählen über diese Tage; so müssen es eben andere tun. "Der Beamte" zum Beispiel, der Romann damals erlebte. Oder die Doktorarbeit, die Romann 1996 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer schrieb. "Remonstrationsrecht und Remonstrationspflicht im Beamtenrecht" - ein sperriger Titel.

Aber wie Romann seine Aufgabe als Beamter sieht, der Zweifel an einer Entscheidung hat, die er ausführen muss, dazu zitiert er gleich vorn den Rechtsgelehrten Nicolaus Thaddäus von Gönner aus dem Jahr 1808: "Ich glaube, dass ein Staatsdiener, welcher einen Befehl des Regenten ... erhält, und in demselben etwas zu finden glaubt, was mit ... dem Staatsbesten unvereinbar ist, ... nicht bloß berechtigt, sondern sogar verbunden sei, in einer bescheidenen Gegenvorstellung die Gründe vorzutragen." Wenn so ein Widerspruch nicht fruchte, so Gönner, müsse der Beamte eben tun, wie ihm geheißen. Nur verantwortlich sei er dann nicht mehr.

Das beschreibt ziemlich genau die Lage, in der Romann nun nach Merkels Entscheidung steckt, die Flüchtlinge durchzulassen. Er hält sie für einen Fehler, er fühlt sich als Staatsdiener verpflichtet, das auch zu sagen. Romann, so schildert es "der Beamte", habe sich vehement für Grenzkontrollen ausgesprochen; Asylbewerber, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, Österreich nämlich, sollten zurückgewiesen werden. Die Idee dahinter ist ein Dominoeffekt: Wenn Österreich nicht mehr nach Deutschland durchleiten kann, macht Österreich seine Grenze zu Ungarn zu, die Ungarn ihre zu Serbien, Serbien zu Mazedonien, nach ein paar Wochen würde sich auf der Balkanroute herumsprechen, dass es keinen Weg nach Westeuropa mehr gibt, und die Anziehungskraft wäre erloschen.

Die Pläne, sagt "der Beamte", waren wohl schon älter: Im März 2015 hatten Linksautonome aus ganz Europa bei der EZB-Eröffnung in Frankfurt am Main randaliert. Damit war der Weg frei, um drei Monate später rund um den G-7-Gipfel im oberbayerischen Schloss Elmau wieder Grenzkontrollen einzuführen. Die Schengen-Regelung lässt das zu, befristet, und wenn die öffentliche Ordnung schwer bedroht ist. Romann, so sagt es "der Beamte", habe argumentiert, dass man die Mittel habe, die Grenze ganz zu schließen, das habe Elmau gerade gezeigt. Am Sonntag, dem 13. September, um 14 Uhr sieht das offenbar auch de Maizière so. Um 17.30 Uhr aber nicht mehr.

An diesem Tag trifft sich der Innenminister mit seinen Staatssekretären und Spitzenbeamten, und der Auftrag lautet: Einführung der Grenzkontrollen. Die Tür, seit einer Woche für Flüchtlinge weit offen, soll zugehen. Morgens um 9 Uhr bekommen Inspektionsleiter im ganzen Bundesgebiet einen Anruf: Sie sollten in ihre Dienststellen gehen und sich bereithalten, alles Weitere nach 17 Uhr.

Als die Sitzung beginnt, liegt der Einsatzbefehl für Romanns Bundespolizei auf dem Tisch; er ähnelt auffällig dem Schloss-Elmau-Papier. Romann will auch Asylbewerber zurückweisen, genau das ermöglicht diese erste Fassung des Befehls. Aber dann melden Ministeriale Bedenken an - ob die Rechtslage das wirklich erlaube. Erst Wochen später wird ein Gutachten vom Innen- und Justizministerium bestätigen: Ja, man könnte auch Asylbewerber abweisen, wenn man wollte.

Auch de Maizière hakt in der Runde jetzt nach. Und offenbar gibt es noch eine höhere Instanz - zweimal verlässt der Minister den Raum, um zu telefonieren, vermutlich mit dem Kanzleramt. Dann weist er Romann an, mit den Grenzkontrollen zu beginnen. Mit einer Änderung: Wer Asyl sage, dürfe ins Land.

So heißt es im "Einsatzbefehl Nr. 1" am Ende nur noch, die Bundespolizei solle "die Einreise von Personen" verhindern, "die nicht über die Einreisevoraussetzungen verfügen". Wer Asyl beantragt, fällt nicht darunter. Aufgabe ist demnach nur noch, den "geordneten Grenzverkehr der Massenmigration zu gewährleisten" - Behördendeutsch für Durchwinken.

Romann, so sagen es Teilnehmer der Runde, sei explodiert, dann könne man es auch gleich lassen. Er ließ sich die Weisung, so war das kürzlich zu lesen, angeblich schriftlich geben, aber eher würde zu ihm passen, wenn er im Gedenken an Nicolaus Thaddäus von Gönner selber etwas geschrieben hätte, eine Art Remonstration. Fest steht: Er setzte den Befehl am Ende so um, wie ihm das aufgetragen wurde.

"Der Beamte" zweifelt allerdings daran, dass die Bundespolizei wirklich in der Lage gewesen wäre, die Grenze komplett zu schließen. Bei "Schloss Elmau" standen die Polizisten an den Grenzübergängen; jetzt aber wäre es auch um die grüne Grenze gegangen. Wie lange hätte die Bundespolizei so eine Totalüberwachung personell durchgehalten? Und was, wenn den Polizisten nicht einzelne Grenzverletzer in die Arme gelaufen wären, sondern 500 Flüchtlinge im Pulk den Durchbruch probiert hätten, auch Frauen und Kinder. Wasserwerfer? Tränengas? In Deutschland? "Die Bilder hätte ja keiner ausgehalten", sagt "der Beamte", genauso sollen das auch das Kanzleramt und de Maizière gesehen haben, an jenem 13. September. Und damit hatten sie wohl recht.

Nachher

So gingen die beiden Wochen vorbei, 14 Tage, die das Land veränderten. Nicht Merkels erste Entscheidung, die Budapest-Flüchtlinge aufzunehmen, bestimmte die Richtung, auch wenn sie heute alles andere überstrahlt. Es war die zweite, das Land nach einer Woche nicht voll abzuschließen.

Schnell muss Merkel aber eingesehen haben, dass sie die Welt-Wohlstandspyramide nicht auf den Kopf stellen kann, nicht als deutsche Kanzlerin, zuständig für die Spitze dieser Pyramide. Die rechtspopulistische AfD, bis zum August 2015 in Umfragen unter die Fünf-Prozent-Hürde gerutscht, erreicht heute stabil um die zehn Prozent. Die Angst vor "Spannungen durch Zuzug von Ausländern" und vor "Überforderung durch Asylbewerber" liegt in einem Ranking der R+V-Versicherung, die seit 1992 die Ängste der Deutschen abfragt, inzwischen auf Platz drei und vier. Und das war noch eine Umfrage vor den Anschlägen von Würzburg und Ansbach.

Dass Flüchtlinge auch eine Chance sind und Deutschland ohne den Zuzug von 500.000 Nicht-EU-Ausländern im Jahr zu wenig Arbeitskräfte haben wird, war auf dem Höhepunkt der Krise eine oft zitierte Zahl aus einer Studie für die Bertelsmann Stiftung. Mittlerweile hat sie ihre Strahlkraft verloren. Es geht in der Diskussion stattdessen eher um schlecht ausgebildete Einwanderer, von denen oft keiner so genau weiß, wer sie sind und ob etwas von ihnen droht.

Merkels Verbündeter Faymann hat im Januar vor dem Druck der populistischen FPÖ kapituliert und Österreich ein Jahreslimit für Flüchtlinge verordnet, 37.500. In Berlin hätten sie es ahnen können. Ein langjähriger Faymann-Kenner hatte die Bundesregierung gewarnt: "Ich weiß, wie der Werner Faymann ist, in der Sekunde, wo es für ihn notwendig ist, dreht er und sagt es euch keine Sekunde vorher." Heute gilt Faymann im deutschen Kanzleramt als "Verräter".

Merkel selbst drehte aber schon vor den Übergriffen der Kölner Silvesternacht: "Wir werden die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren", ist mittlerweile von ihr zu hören, und im Januar strickte sie mit an der Illusion, dass die meisten, die gekommen sind, auch wieder gehen werden: "Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist, und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass ihr auch wieder ... in eure Heimat zurückgeht." Wir schaffen das - aber bitte irgendwann ohne euch. Damit nicht noch mehr kommen, muss ihr Türkei-Deal mit dem Despoten Erdoan halten. Der Grenzzaun zwischen Mazedonien und Griechenland. Und Orbáns Versprechen: Die Serbien-Grenze sei "luftdicht verschlossen".

Flüchtlingspolitik ist ein Geschäft der schmutzigen Kompromisse zwischen der Moral und dem Möglichen. Mit dem Türkei-Deal gilt wieder das Prinzip der schmutzigen Abschottung, von dem Merkel im vergangenen Oktober noch sagte, Abschottung sei "im 21. Jahrhundert keine Lösung, sondern eine Illusion". Das Prinzip beruht darauf, dass Deutschland nicht das Elend der Welt beseitigen kann; das war Grundsatz deutscher Politik vor der Budapest-Krise und ist es nun wieder. Was bleibt aus diesen zwei Wochen im September, ist deshalb die Erinnerung, dass man es auf einer Woge der Euphorie anders versucht und tatsächlich ein wenig Elend von der Welt genommen hat.

Mehr geht wohl nicht, und selbst dieser ehrliche, romantische Versuch bleibt jetzt nicht ohne Preis: Der Axttäter von Würzburg kam im Juni 2015 über Ungarn ins Land - das war zwar vor Merkels Entscheidung, wie nun betont wird, und dasselbe gilt für den Ansbach-Bomber. Doch so zu argumentieren ist nur eine Wette auf den Zufall, jeder weiß das. Es gibt in der Flüchtlingspolitik keine einfachen Lösungen, alles hat unerwünschte Folgen, ob man handelt oder nicht handelt, ob man hilft oder nur zusieht. Dem Guten folgt das Böse, als gäbe es eine Gleichung des Elends, die am Ende immer aufgehen muss. Auch Merkel bekommt das jetzt zu spüren.

Das alles ändert aber nichts daran, dass nun viele Menschen eine Chance auf ein besseres Leben bekommen haben. Dafür haben sie alles riskiert, diese Chance wollen sie nutzen. Ayaz Morad sitzt in seinem Flüchtlingsheim, und aus dem Warten in Budapest ist erst mal ein Warten in Frankfurt geworden. Er könnte so viel machen, wenn er schon als Flüchtling anerkannt wäre, sagt er; da hat er seinen Bescheid noch nicht, der drei Tage später kommt. Aber statt über sich will er ohnehin lieber über Merkel reden: Ja, sie sei wirklich eine Mama, sagt der Mann mit dem Merkel-Plakat, denn Merkel habe sie aus Budapest geholt, obwohl sie sich damit geschadet habe. So etwas tue nur eine Mutter. "Ich glaube, wegen uns gewinnt Merkel die nächste Wahl nicht", sagt Morad.

Ende Juli räumt Husein Alali, der Deutschlehrer, sein Zimmer 3113 in der Flensburger Agentur für Arbeit auf. Seit Februar hatte er anderen Flüchtlingen geholfen, sich in Deutschland zurechtzufinden. Jetzt kommen kaum noch neue Asylbewerber, er hat sich eine andere Stelle gesucht, bei einem Bildungsträger. Frau Bommarius, seine Vorgesetzte, schenkt ihm zum Abschied Pralinen und drückt ihn. Das ist schön, noch schöner wäre es, wenn seine eigene Frau ihn drücken könnte. Sie ist noch in Syrien. "Ich habe den C1-Sprachkurs an der Universität besucht, ich habe Arbeit gefunden, warum dauert das so lange?" Er hat Geduld, sagt er, aber bis heute hat er seinen acht Monate alten Sohn nicht gesehen. "Ich kann nicht bleiben, wenn meine Familie nicht kommt."

Die Familie Ahmad lebt in einem Asylheim in Geisenheim bei Wiesbaden. Eine bessere Welt, das war für Ismail Ahmad eine sicherere Welt, und was könnte sicherer, solider, beständiger wirken als eine rustikale deutsche Sitzgruppe, selbst wenn sie secondhand ist und etwas abgeschabt. Ismail Ahmad ist noch nicht als Flüchtling anerkannt. Er darf nicht arbeiten, sagt er, und die Tage fließen so dahin, ziemlich zäh. Aber seine Kinder gehen zur Schule, sie lernen Rechnen, Schreiben, auf Deutsch. "Wir erziehen sie dazu, dieses Land zu lieben" - auf dem Tisch liegt ein Stift, mit dem man sich Schwarz-Rot-Gold in einem Strich ins Gesicht malen kann.

In Syrien leben noch Freunde, die auch gern nach Deutschland kommen würden, aber es nicht mehr schaffen. Der Weg ist jetzt so schwierig, dass die Schleuser immer höhere Preise verlangen, und Garantieschleusungen zum Festpreis gibt es auch nicht mehr. "Ihr habt es richtig gemacht", sagen die Freunde am Telefon. Die Ahmads: immerhin eine Familie, die nicht zweifelt, ob die Entscheidungen in diesen 14 Tagen deutscher Geschichte die richtigen waren.

Von Riham Alkousaa, Sven Becker, Nina Brnada, Anna Clauß, Jürgen Dahlkamp, Walter Mayr, Ralf Neukirch, Jan Puhl, Christoph Schult und Wolf Wiedmann-Schmidt

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