Debattenbeitrag Der Erfolg der AfD - ein deutlich demokratischer Vorgang

Berliner Reichstagsgebäude
Foto: Paul Langrock / DER SPIEGELNassehi, 57, ist Professor für Soziologie an der Universität München und seit 2012 Herausgeber der Zeitschrift "Kursbuch".

Nein, eine Staatskrise ist es nicht, was uns gerade ins Haus steht. Aber vielleicht ist es ernster. Die Krise liegt tiefer, sie ist weniger offensichtlich als eine veritable Staatskrise: Den Parteien ist der Kontakt zu Wählerinnen und Wählern verloren gegangen. Aber was ist der Grund dafür?
Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern ein komplizierter Mechanismus, der es ermöglicht, in Alternativen zu denken. Ob das Programm der Demokratie sich durchgesetzt hat, lässt sich nicht allein an Institutionen, Wahlen und Verfahren bemessen, sondern auch daran, ob die Öffentlichkeit es aushält, dass es mehr als eine politische Wahrheit geben kann. Sieht man auf Länder wie Russland oder die Türkei, auf das meritokratische China, aber auch auf manche postkommunistischen Länder, fehlt genau das: Abweichungstoleranz. Stattdessen wird dort die Verachtung der allzu komplizierten Demokratie genährt, die zu eindeutigen Entscheidungen nicht in der Lage sei. Aber gerade diese Eindeutigkeit - um nicht zu sagen: Alternativlosigkeit - hat in Deutschland zur Delegitimierung der gegenwärtigen Politik geführt.
Für jemanden wie mich, in den Siebzigerjahren politisch sozialisiert, war es eine identitätsbildende Erfahrung, dass man auf dem Schulhof genau sagen konnte, wer die Guten und wer die Bösen waren. Und dass man selbst für die einen zu den Guten und für die anderen zu den Bösen gehörte, war zwar ziemlich simpel - doch es hat immerhin dafür gesorgt, dass sich die politischen Weltanschauungen nicht zufällig, nicht ästhetisch, nicht nur graduell, sondern prinzipiell unterschieden.
Die Hochzeit der westlichen Demokratien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht unbedingt eine Phase der besten politischen Lösungen. Aber es war die Hochzeit etablierter Konflikte und Alternativen, die man nicht besonders erklären musste. Diese Zugehörigkeiten wirkten identitätsbildend; man wusste, von wem man sich abgrenzen konnte. Und sie waren so stabil, weil die politischen Differenzen mit den Lebenslagen ganzer Bevölkerungsgruppen korrespondierten. Es machte nicht nur einen politischen Unterschied aus, ob man Sozialdemokrat war oder konservativ. Es machte einen Unterschied aus, weil sich diese Bekenntnisse an Grundproblemen der eigenen Lebenslage festgemacht haben.
Darin sind auch die großen Traditionen der großen Parteien in Deutschland begründet. Man darf nicht geringschätzen, wie es der Union gelungen ist, ein moralisch angeschlagenes und verunsichertes Bürgertum mit dem pluralistischen Westen zu versöhnen. Und die grandiose Leistung der Sozialdemokratie war es, soziale Aufwärtsmobilität nicht nur zu versprechen, sondern auch tatsächlich zu ermöglichen. Wie jene das konservative Bürgertum an die Moderne geführt hat, hat diese die Arbeiterschaft mit der bürgerlichen Demokratie versöhnt. Die Formulierung und die Repräsentanz dieser Konflikte durch die Volksparteien bildete - kaum glaublich von heute aus - 80 bis 90 Prozent der Wahlstimmen ab. Noch die Gründung der Grünen 1980 setzte an solch einer definierbaren Lebenslage an: bei jenen Kindern der Sechzigerjahre, denen die konservativ-bürgerlichen oder leistungsorientiert-sozialdemokratischen Tugenden zu eng geworden waren - und deren sozialmoralisches Milieu gegenwärtig besonders selbstgerecht erscheint.
Was ist heute anders? Man pflegt zu sagen: Die Welt ist komplizierter und unübersichtlicher geworden. Und das stimmt auch. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn ein basaler Mechanismus gilt immer noch: Politische Identität braucht die Differenz, das Sich-Abarbeiten an einer Alternative, das Aushalten mehrerer politischer Wahrheiten. Wer mit der Demokratie anfängt, muss damit weitermachen. Man schreibt das nicht gern: Aber der Erfolg der AfD ist ein deutlich demokratischer Vorgang. Er ist entstanden, weil den Unzufriedenen bis zum Auftauchen dieser Partei so etwas wie Entscheidungsalternativen fehlten. Dass diese Alternative sich aus dem Arsenal der schmutzigen Sprache bedient, hat auch eine demokratische Logik: Es werden Alternativen simuliert, die bei genauem Hinsehen keine sind, aber gerade weil sie keine sind, besonders provokativ und mit wenig Begründungsaufwand behauptet werden können.
Was man den Parteien vorwerfen muss, ist nicht, dass die Sondierungsgespräche bisher eher unprofessionell verliefen und keine Koalition ergaben. Was man ihnen vorwerfen muss, ist das Versäumnis, sich ihre potenziellen Milieus genauer anzusehen.
Dazu müsste etwa die Union präziser bestimmen, was der Bezugsrahmen des Konservativen einmal war. Man kann es wohl auf die Formel bringen, die Schwäche des Menschen in Rechnung zu stellen und die Zumutung von Veränderungen ernst zu nehmen. Dass das mit den klassischen Mustern des Bewahrens klassischer Ungleichheiten und Autoritäten nicht mehr möglich ist, liegt auf der Hand. Wie aber geht es dann?
Für die erste Einsicht steht in geradezu genialer Weise Angela Merkel. Aber der zweite Schritt ist noch nicht vollzogen. Deshalb ähnelt vieles, was man an der AfD sehen kann, früheren Semantiken und Überzeugungen wenigstens am rechten Rand der Union. Die Aufgabe wäre, in einer globalisierten Welt den Pluralismus mit den Bedürfnissen nach Beständigkeit zu versöhnen. Dabei geht es nicht unbedingt um klassische konservative Inhalte wie klassische Geschlechterrollen, homophobe Ressentiments oder gar Fremdenfeindlichkeit. Aber um Kalkulierbarkeit und traditionsfähige Identitätsangebote geht es sehr wohl.
Und Sozialdemokraten müssen das große Thema der Versöhnung von Arbeit und Leben völlig neu definieren. Vielleicht stehen hier die radikalsten Veränderungen an. Die Wirtschaft wird sich radikal verändern - Arbeitsformen werden weniger kontinuierlich sein, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern richten sich nicht mehr nach dem Vorbild des Lebensvertrages aus. Hier gibt es ganz neue staatliche Anforderungen, um die Kontinuität von Lebensformen gegen die Diskontinuität einer dynamischen Wirtschaft zu verteidigen - übrigens nicht gegen die Wirtschaft, sondern in völlig neuen Modellen. Vielleicht ist sogar das bedingungslose Grundeinkommen noch zu sehr an der klassischen Versorgungsidee orientiert.
Im Politikfeld Migration sind wahrscheinlich die größten Fehler gemacht worden. Trotz vieler Versuche von den Grünen bis Rita Süssmuth ist es lange vor der Flüchtlingskrise nicht gelungen, die Frage nach legaler Einwanderung systematisch zu diskutieren. Erst vor diesem Hintergrund scheint mir die radikale Reaktion auf die Flüchtlingskrise erklärbar. Der stärkste Feind des demokratischen Mechanismus, alternative Modelle gegeneinanderzustellen, ist tatsächlich das Gefühl, dass niemand die Dinge im Griff hat. Hier ist das größte Einfallstor für antidemokratische "Alternativen". Die Parteien müssen tatsächlich klar und kontrovers diskutieren und auch Fragen stellen, die manche für illegitim halten - etwa zu Grenzen, Auswahlprozessen und Kapazitätsfragen.
Es flüchten ja nicht jene, die unsere Arbeitsmärkte brauchen, nicht einmal diejenigen, denen es in ihren Heimatländern am schlechtesten geht. Welcher politische Akteur traut sich, hier jene vorhandenen (!) Milliarden in die Hand zu nehmen, mit denen man potenziellen Flüchtlingen eine Perspektive in den eigenen Ländern vermitteln kann, statt sie mit Gewalt daran zu hindern, den in so schrecklicher Weise oft tödlichen Weg nach Europa anzutreten?
Auch als abwägender Wissenschaftler will man inzwischen ausrufen: Kapiert doch endlich den Mechanismus politischer Legitimation! Geht das Risiko des Unterscheidens ein und holt die Konflikte in die Politik zurück! Andere haben es in Europa bereits vorexerziert: Wo das Unterscheiden unterlassen wird, wo man sich in der eigenen Folklore einrichtet, wo man sich mit den alten Konfliktlinien zufriedengibt, verschwinden politische Spieler von der Bildfläche, ohne die man sich Politik zuvor gar nicht recht vorstellen konnte. Man muss nur auf die Niederlande schauen, nach Frankreich oder Italien: Klassische politische Kräfte sind dort tatsächlich untergegangen. Das muss nicht in jedem Fall schlecht sein - aber aus der Sicht des vergleichsweise stabilen Parteiensystems in Deutschland wäre das einen Gedanken wert: Die bloße Tatsache, dass man noch existiert, ist keine Bestandsgarantie.
Es geht also einerseits um handfeste Probleme einer sich schnell wandelnden Gesellschaft, andererseits aber auch um den demokratischen Mechanismus selbst. Dieser funktioniert allein als Politik in Alternativen, in zivilisierten Konflikten und deutlichen Interessenkonstellationen. Nur so lassen sich komplexe Probleme der Gesellschaft als politische Positionen darstellen, die wiederum Entscheidungen erfordern. Nicht, um ein für alle Mal gelöst zu werden, sondern um neue Situationen zu schaffen, in denen wiederum neue Problemlagen entstehen.
Vielleicht muss man es in mathematischen Begriffen ausdrücken: Solange wir diese Fragen nur arithmetisch behandeln, denken wir nicht in Alternativen. Die Arithmetik interessiert sich für Zahlen und Summen, für bestimmbare Größen, also dafür, ob's rechnerisch reicht. In dieser Denkungsart sind 80 bis 90 Prozent inzwischen zu gut 50 Prozent für eine "große" Koalition zusammengeschmolzen. Es braucht aber politische Algebra: das Rechnen mit Unbekannten, das Zusammenfügen von Unterschiedlichem und eine Rechenart, die auf unterschiedliche Lösungen für das gleiche Problem kommen kann. Das wäre eine Mathematik lebendiger Demokratie.