Artensterben in Deutschland Als gäbe es kein Morgen

Unberührte Landschaften voller zirpender Grillen und singender Vögel - das war einmal. Deutschland leidet unter einem dramatischen Artenschwund. Doch noch könnte die Vielfalt zu retten sein.
Getreidefeld mit Wildkräuterpflanzen

Getreidefeld mit Wildkräuterpflanzen

Foto: Maria Feck/DER SPIEGEL

Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit, an deines Gottes Gaben; schau an der schönen Gärten Zier und siehe, wie sie mir und dir sich ausgeschmücket haben.
Paul Gerhardt (1653)

Rachel Carson begann ihre Ökoapokalypse mit einem "Zukunftsmärchen": "Es war einmal eine Stadt", schrieb sie 1962 in "Der stumme Frühling", "in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben schienen."

Inmitten des Landes, "wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben", lag diese Stadt. Entlang ihrer Straßen wuchsen "Lorbeerrosen und Erlen, hohe Farne und wilde Blumen".

Doch alsbald hatte die Vielfalt ein Ende: "Eine schleichende Seuche" tauchte auf, "über allem lag der Schatten des Todes". Keine Bienen summten mehr, keine Vögel sangen, "Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald".

Carsons Bestseller verdammte den Einsatz synthetischer Pestizide, führte zum Verbot von DDT und gilt als Geburtsstunde der modernen Umweltbewegung. 55 Jahre ist das her. Doch die Warnung der Biologin ist aktueller denn je.

Nicht nur in den Getreidegürteln der USA oder auf den Sojafeldern Südamerikas, sondern direkt vor der Haustür, in Deutschland, ist das Vogelkonzert fast verstummt, bleibt der Sommer weithin ohne Grillenzirpen und Schmetterlings-Torkelflug.
Fast zwei Drittel der natürlichen Lebensräume sind hierzulande in Gefahr.

Um etwa 80 Prozent ist die Biomasse der Fluginsekten mancherorts zurückgegangen. Rund 40 Prozent der Tagfalter sind bedroht, ein Drittel der Ackerwildkräuter wird rar, und knapp drei von vier Vogelarten der offenen Landschaft sind gefährdet oder gar ausgestorben.

Ausgerechnet das Land der Naturromantiker verliert seine Vielfalt. "Um mich summt die geschäftige Bien', mit zweifelndem Flügel wiegt der Schmetterling sich über dem röthlichten Klee", dichtete Friedrich Schiller im "Spaziergang" - vorbei. "Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich" - das war einmal.

Während der Naturschutz einzelne Erfolge bei charismatischen Arten wie Wolf, Wildkatze oder Schwarzstorch feiert, gleicht die Agrarlandschaft, die etwa 50 Prozent von Deutschlands Landfläche ausmacht, einer Ökowüste. Längst hat sich der Deutsche an blütenleere Feldraine gewöhnt, an Landschaften ohne Moore, Auen, Hecken und unberührte Wälder.

Seit Jahrzehnten gibt es das Bundesumweltministerium, Fachbehörden für Umwelt und Natur, die Grünen in mehreren Landesregierungen. Doch sie alle haben nicht verhindert, dass die Natur hierzulande jeden Tag die Fläche von rund 90 Fußballfeldern an Verkehr und Siedlungsbau verliert; dass sich die über Jahrhunderte gewachsene, vielfältige Kulturlandschaft in eine monotone Energielandschaft mit großen Schlägen aus Mais und Raps für die Bioenergie verwandelt, durchsetzt von Windparks und Solaranlagen.

"Praktisch alle Tier- und Pflanzengruppen in der Agrarlandschaft sind von einem eklatanten Schwund betroffen", warnt Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz (BfN). Jessel empfiehlt eine "Kehrtwende" in der Landwirtschaft, um der Krise zu begegnen. Denn über die Ursachen des Naturverlusts gibt es keinen Zweifel. Eine über Jahrzehnte fehlgeleitete EU-Agrarpolitik hat Deutschlands Bauern von ehrbaren Pflegern der Vielfalt zu Landschaftsausräumern gemacht.

Weil sie schleichend verläuft, nimmt kaum jemand die Katastrophe wahr. Doch mit jeder Art, die verschwindet, mit jedem Lebensraum, der vernichtet wird, löst sich eine weitere Masche aus dem Netz des Lebens, von dessen Funktion Landwirtschaft, Ernährung und Gesundheit abhängen.

Was entsteht, ist ein Land im ökologischen Ungleichgewicht, schlecht gewappnet für eine prekäre Zukunft. Noch spielt der Klimawandel keine Rolle beim hiesigen Artenschwund. Künftig jedoch zählt jede Art, jedes Ökosystem, wenn es darum geht, die ökologischen Folgen der Erderwärmung abzufedern.

Vor zehn Jahren verabschiedete die damalige schwarz-rote Bundesregierung die "Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt". Demnach sollte der Rückgang der Biodiversität bis zum Jahr 2010 gestoppt werden. Ein Rohrkrepierer.

"Die Agrarpolitik muss endlich ihre Verantwortung für den Naturschutz wahrnehmen", fordert Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) jedoch scheint das Drama zu ignorieren. Im Grünbuch seines Ministeriums zur Zukunft der Landwirtschaft spielt die Artenvielfalt kaum eine Rolle. Kanzlerin Angela Merkel schweigt, anstatt die Angelegenheit zur Chefsache zu erklären und in Brüssel für eine Reform der EU-Agrarpolitik zu kämpfen.

Damit vergibt die Bundesregierung eine Chance: Deutschland könnte ein Vorbild für die Versöhnung von Landwirtschaft und Ökologie sein. Wie bei der Energiewende könnte das Land mutig voranschreiten in eine Agrarwende, die beidem gerecht wird, der Produktion von Lebensmitteln und dem Erhalt der Artenvielfalt.

Woran liegt es, dass dieses so wichtige Umweltprojekt einfach nicht gelingt? Wer blockiert eine wahrhaft nachhaltige Landwirtschaft?

Eine Sommerreise soll Antworten liefern.

DAS ARCHIV DER KERBTIERE befindet sich im Obergeschoss der alten Krefelder Schule. Martin Sorg führt die Treppe hinauf, öffnet einen der zahllosen Pappkartons und entnimmt eine Probenflasche. "D/NRW/Krefeld Spey, Malaise-Falle, Leerung 18, 5.8. - 12.08.1990" steht darauf.

"So sah es früher bei uns aus", sagt Sorg und mustert die Insekten im Inneren der Flasche, ein wirres Knäuel vielgliedriger Körper, Beine und Antennen. "Damals hat sich so eine Literflasche mancherorts in zwei Wochen gefüllt, heute benutzen wir Flaschen, die nur noch halb so groß sind."

Sorg und seine Kollegen vom Entomologischen Verein Krefeld zählen Insekten. Seit 1985 stellen sie sogenannte Malaise-Fallen aus feiner Gaze auf. Was ins Netz geht, landet in 82-prozentigem Äthylalkohol in der zweiten Etage des Hauses in der Innenstadt von Krefeld.

Biomasse flugaktiver Insekten in Alkohol in einer Schale, gefangen im Juli 2017 im Naturschutzgebiet in NRW

Biomasse flugaktiver Insekten in Alkohol in einer Schale, gefangen im Juli 2017 im Naturschutzgebiet in NRW

Foto: Maria Feck/DER SPIEGEL

"Archiv zur Entomologie am Niederrhein" steht am Eingang. Drinnen befinden sich Vitrinen mit alten Mikroskopen. Bücherregale mit Fachliteratur füllen die Räume, vor allem aber braune Schubladenschränke. Glänzende Laufkäfer, einzeln mit Stecknadeln fixiert, finden sich darin, bräunliche Nachtfalter, zartflügelige Schlupfwespen und Schwebfliegen. Etiketten nennen Art, Fundort, Funddatum.

Millionen Insekten ruhen in der Krefelder Sammlung. Es ist eine einzigartige Schatztruhe der Entomologie, die den Blick in die Vergangenheit erlaubt.

Mit erschreckenden Ergebnissen: 2013 berichteten die Forscher in einem Fachbeitrag, dass im Naturschutzgebiet Orbroich im Norden von Krefeld die Biomasse der Fluginsekten zwischen 1989 und 2013 um fast 80 Prozent zurückgegangen sei.

Seither muss sich Sorg erklären. "Wir stehen im Zentrum einer hochemotionalen Diskussion", sagt er. Die Medien wollen wissen, wer schuld ist am Insektenschwund. Die Grünen nutzen die Zahlen im Wahlkampf. Der Bauernverband schimpft, die Daten seien wenig aussagekräftig, weil sie nur von wenigen Standorten stammten. Doch die Krefelder Forscher haben inzwischen weitere Proben vorläufig ausgewertet. Die Biomasse der Fluginsekten ist demnach überall stark gesunken.

"Mit den Insekten geht es steil bergab", bestätigt der Agrarökologe Teja Tscharntke von der Universität Göttingen, "es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das mittelfristig ändert."

Und wer wollte auch daran zweifeln? Nur die Älteren erinnern sich noch an Autoscheiben, verklebt von Insekten, an Gärten voller Bienen, an Straßenlaternen, die nachts von zahllosen Motten umkreist wurden.

Die Folgen sind dramatisch. Insekten machen 70 Prozent aller Tierarten in Deutschland aus. Sie sind Nahrungsgrundlage für viele Vögel, Fledermäuse und Amphibien. Sie tragen dazu bei, die Böden fruchtbar zu halten. Sie helfen als Nützlinge in der Landwirtschaft.

Foto: DER SPIEGEL

Und vier von fünf in Deutschland heimischen Blütenpflanzen werden durch Insekten bestäubt. Raps, Sonnenblumen, Ackerbohnen, Gurken, Äpfel - 70 Prozent der wichtigsten Nutzpflanzen profitieren von der Insektenbestäubung. Erdbeeren etwa, die nicht von Tieren bestäubt werden, sind leichter, glänzen nicht und verderben schneller. Langfristig, warnt Agrarökologe Tscharntke, könnte gutes Obst zum "Luxusgut" werden.

Schuld ist der Verlust an Lebensräumen, "die Ursache Nummer eins für den Artenrückgang", sagt Tscharntke. Die Äcker reichen oft bis an die Straßen, es gibt kaum noch bunt blühende Randstreifen. Zwischen den Kulturpflanzen blitzt zumeist roher Boden, durch Mittel wie das umstrittene Herbizid Glyphosat vom Bewuchs befreit.

Zudem mindert die massive Düngung das Wachstum seltener, für Insekten wichtiger Ackerwildkräuter, die magere Böden brauchen. Am Rand der Felder und auf den wenigen Brachen wachsen vor allem Allerweltsgräser wie Knäuelgras oder Lieschgras, die den blütenbesuchenden Kerbtieren nichts bieten können.

Hinzu kommt: Tiere wie auch Pflanzen werden vergiftet. Früher seien die Pestizide erst bei konkret drohendem Befall aufgebracht worden, sagt Tscharntke. Heute werde das Saatgut häufig schon bei der Herstellung mit den Stoffen "gebeizt".

Besonders problematisch sind die sogenannten Neonicotinoide. Saatgut, das mit ihnen behandelt ist, wächst zu Pflanzen heran, deren Saft, Pollen und Nektar den Giftstoff enthalten. 80 bis 98 Prozent der Neonicotinoide können im Boden zurückbleiben, gelangen schließlich in Tümpel und Flüsse. Sie vergiften Honig- und Wildbienen, Ameisen, Schlupfwespen oder die Larven von Eintagsfliegen.

Schon winzige Mengen an Neonicotinoiden verursachen Vergiftungen und Verhaltensänderungen. Honigbienen finden nicht mehr in ihre Stöcke zurück. Hummeln bringen weniger Jungköniginnen hervor, die dem Volk das Überleben sichern.

Durch den Insektenschwund werden auch andere Tiere weniger. Niederländische Forscher zeigten, dass in Regionen mit hohem Neonicotinoid-Einsatz die Zahl insektenfressender Vögel am stärksten zurückgeht.

Ohnehin sind Vögel die auffälligsten Opfer der Landschafts- und Artenkrise. In der EU ist die Zahl der Brutpaare in der Agrarlandschaft zwischen 1980 und 2010 um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Besonders hart trifft es Bodenbrüter wie Feldlerchen, Braunkehlchen, Kiebitze oder Rebhühner, die keine Brut- und Rastplätze mehr in der Landschaft finden oder deren Gelege bei Ernte oder Mahd zerstört werden.

Kampfläufer, Schlangenadler, Blauracke, Wiedehopf, Triel - wer kennt sie noch? Im 19. Jahrhundert, berichtet der Ornithologe und Arzt Karl Schulze-Hagen, waren diese Arten nicht nur regelmäßige Brutvögel in Deutschland. Sie seien auch in geradezu "unvorstellbar hoher Individuenzahl" vorgekommen.

Schert die Bauern der Verlust der Artenvielfalt? In der Agrarausbildung spielt Naturschutz immer noch kaum eine Rolle. Traditionell geht es den Landwirten darum, dem Boden den größtmöglichen Ertrag abzuringen. Immerhin, bei manchen Agrarkonzernen setzt gerade ein Umdenken ein. Ob aus Einsicht oder Sorge um Image und Geschäft, Nachhaltigkeit gewinnt an Bedeutung.

EIN BAUERNHOF im schleswig-holsteinischen Hügelland bei Eckernförde: "Landwirt - der wichtigste Beruf auf der Erde" steht auf einem Plakat an der Scheune des Betriebs Rothenstein. Drinnen haben sich etwa 25 Gäste versammelt: Bauern aus der Gegend; ein Mann vom Kieler Landwirtschaftsministerium; Vertreter von Bauernverband und von Naturschutzverbänden.

Konventionelles Maisfeld mit Getreideacker

Konventionelles Maisfeld mit Getreideacker

Foto: Maria Feck/DER SPIEGEL

Markus Röser lehnt an einem der Stehtische und nippt an einem Filterkaffee. Röser ist Pflanzenschutzexperte bei BASF. Der Chemiekonzern und Pestizidhersteller hat zum "Praxistag FarmNetzwerk Nachhaltigkeit" geladen.

BASF unterstützt 53 konventionelle Bauernhöfe in Deutschland, Österreich und Belgien dabei, die Artenvielfalt zu fördern. Und Röser ist der Mann, der zwischen Naturschützern und Bauern vermitteln soll.

"Unsere Aufgabe ist es, Ökonomie und Ökologie in Einklang zu bringen", sagt der Agrarexperte. "Lebensräume und Arten verschwinden", räumt er ein, "Pflanzenschutzmittel spielen dabei mit Sicherheit auch eine Rolle." Andererseits: "Dort, wo man produzieren kann, wollen wir auch die Möglichkeit zum Produzieren geben."

"Wir haben immer noch vor allem den Auftrag, für die Ernährung zu sorgen", sagt der Industriemann. Damit ist Röser ganz auf Linie der Agrarfunktionäre. Vorn tritt nun Werner Schwarz vom Bauernverband Schleswig-Holstein ans Mikrofon. "Biodiversität kann auch auf großen Betrieben stattfinden", sagt Schwarz.

Doch gleich danach, wie zur Beruhigung: "Auf der Fläche werden wir weiterhin die Reinkultur nötig haben."

Was das heißt, ist anschließend auf der Führung zu sehen. 210 Hektar sind in Rothenstein unter dem Pflug. Das Getreide steht wie eine Eins. Kein Unkraut stört die "Reinkultur". Wo sind die "Maßnahmen zur Förderung der Artenvielfalt"? Ein Biologe ist angereist, um die Sache zu erläutern.

Schmale "Blühstreifen" zeigt er alsbald an manchen Feldrändern, mit Wildblumen besät, um Bestäuber anzulocken. Einige "Feldsteinhaufen" sind angelegt, auf denen sich Reptilien aufwärmen können.

Und es gibt nun "Feldlerchenfenster" auf dem Gelände - rund 20 Quadratmeter große, bewuchsarme Inselchen inmitten der Äcker, die es den Lerchen ermöglichen sollen, zwischen dem dichten Getreide den wärmenden Boden zu erreichen.

Im Fluggesang stehen einige der Vögel hoch über der Gruppe in der Luft. Trr-lit, triip, trieh macht es da, mit Trillern, Rollern und feinen Glissandi. Das ist schön und klingt nach Sommer. Doch reicht das aus, um die Vielfalt zu retten?

Programme wie jenes der BASF oder auch das vergleichbare "F.R.A.N.Z"-Projekt (Für Ressourcen, Agrarwirtschaft & Naturschutz mit Zukunft) der Michael Otto Stiftung und des Deutschen Bauernverbandes können Erfolge aufweisen. Tatsächlich steigt die Zahl der Lerchen auf den Testflächen. Mehr Wildbienen zählen die Biologen, mehr Laufkäfer und Spinnen.

Doch die Maßnahmen wirken wie Flickwerk, als wollte man einzelne Maschen eines Netzes neu knüpfen, während es an anderer Stelle schon wieder auseinanderfällt.

Es ist eine Ausweitung der verfehlten EU-Agrarpolitik mit anderen Mitteln. Auch Brüssel versucht, die konventionelle Landwirtschaft auf Ökologie zu trimmen. Der Versuch ist erkennbar gescheitert.

Die EU fördert ein System, das allein auf Effizienz setzt. Durchschnittlich 40 Prozent des Einkommens bekommt jeder der rund 275.000 Bauernhöfe in Deutschland quasi geschenkt. Rund 300 Euro zahlt Brüssel pro Hektar bewirtschaftetes Land.

Über 90 Prozent der Landwirte entscheiden sich für das Baukastenprinzip der chemischen Industrie. Mit genug Dünger und Pestiziden nämlich lässt sich fast jeder Acker in eine produktive Monokultur verwandeln. Die Ernte ist garantiert, das Einkommen auch. Das ist bequem und sicher - nur für die Natur ist es verheerend.

Zwar müssen die EU-Landwirte seit 2015 fünf Prozent ihrer Fläche als sogenannte ökologische Vorrangflächen ausweisen, Teil der "Greening"-Auflagen der EU. Dafür reicht es jedoch, für einige Zeit sogenannte Zwischenfrüchte anzubauen, also mal etwas anderes als Weizen, Mais oder Raps. Der Effekt für den Naturschutz ist fast gleich null.

Eine "weitgehend wirkungslose und gleichzeitig zu teure Fehlentwicklung" nennt Beate Jessel vom BfN das Greening. Jährlich 1,5 Milliarden Euro würden dafür in Deutschland aufgewendet, der Anteil an für den Naturschutz wertvollen Flächen habe sich dadurch jedoch "nur minimal um ein Prozent erhöht".

"Das ist alles Kosmetik", sagt auch der Agrarexperte Markus Wolter vom World Wide Fund For Nature (WWF), "an die großen Themen geht die EU nicht ran." Der Naturschutz habe in der Fläche zunehmend Probleme, sagt Wolter: "Mit ein paar Blühstreifen kommen wir da nicht weiter."

Geht es auch anders? Wolter glaubt daran. Nordöstlich von Berlin liegt das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Mehr als 14.000 Hektar werden hier ökologisch bewirtschaftet. Eine Modellregion für die Zukunft?

DIE BLÜMCHEN leuchten gelb und blau. Acker-Gauchheil, Johanniskraut und Kleine Wolfsmilch heißen sie. "Und schauen Sie!", ruft Frank Gottwald, beugt sich hinab und zeigt auf ein Gewächs mit zartrosa Blüten: "Acker-Zahntrost, stark gefährdet, doch hier steht das ganze Feld voll damit."

"Auf diesem Betrieb gibt es über 20 Ackerwildkräuter, die auf der Roten Liste stehen", schwärmt Gottwald. "Das ist der absolute Traum", sagt der Biologe, "fast überall im Getreide wachsen hier Acker-Lichtnelke und Feld-Rittersporn."

Hans-Martin Meyerhoff ( Landwirt und Betriebsleiter Ökohohof Gut Temmen) mit Frank Gottwald (Biologe)

Hans-Martin Meyerhoff ( Landwirt und Betriebsleiter Ökohohof Gut Temmen) mit Frank Gottwald (Biologe)

Foto: Maria Feck/DER SPIEGEL

Mit dem Geländewagen ist er an diesem Sommertag hinaus auf die Ländereien von Gut Temmen gefahren, einem Biobetrieb in der Moränenlandschaft des Biosphärenreservats. 3460 Hektar werden hier bewirtschaftet, davon stehen 2780 Hektar unter dem Pflug. 1500 Rinder weiden auf den Wiesen. 300 Schweine wachsen heran. Es gibt einen Hofladen mit Wurst und Fleisch, Pferdeställe und Gästezimmer. Subunternehmer veranstalten Planwagenfahrten und vermehren Wildsamen.

Gut Temmen ist ein Großbetrieb. Rund 40 Mitarbeiter beschäftigt Betriebsleiter Hans-Martin Meyerhoff. "Das primäre Ziel für mich war immer, Gewinne zu machen", sagt Meyerhoff, der hier seit 1998 den Biolandbau leitet. Der Ökovisionär ist kein Träumer, sondern Geschäftsmann. Dennoch ist das hier eine andere Welt als die der konventionellen Landwirtschaft.

Künstlicher Mineraldünger und synthetische Pestizide sind in der Biolandwirtschaft verboten. Dadurch ändert sich alles.

Auf Gut Temmen stammt der Dünger aus dem eigenen Mist und aus einer "Mistkooperation" mit einem nahen Hühnerbetrieb. Zudem baut Meyerhoff Rotklee und Luzerne als "Vorfrüchte" an, beides sogenannte Leguminosen, die über Knöllchenbakterien in ihren Wurzeln Stickstoff aus der Luft binden und so den Boden düngen.

Zur "Unkrautunterdrückung" nutzt Meyerhoff "Bodendecker" mit "phytosanitärer Wirkung". Nur selten setzt er zugelassene Spritzmittel wie Wirkstoffe aus dem Neembaum oder Pyrethrine ein, um "nicht auch die Nützlinge umzuhauen".

Man müsse "eine gewisse Toleranz gegenüber Unkräutern" entwickeln, sagt Meyerhoff. Tatsächlich ragen die Köpfe vieler Disteln aus der Wintergerste, doch die Ausfallkosten seien "überschaubar".

"Wir denken in Fruchtfolgen über mehrere Jahre", sagt Meyerhoff. Hafer pflanzt er zum Beispiel zusammen mit Erbsen und Leindotter. Flachs sät er als Mischkultur mit Gerste. "Wenn wir die Böden gesund hinkriegen, haben wir mit vielen anderen Sachen überhaupt keine Probleme mehr", erzählt der Experte für Ökolandbau.

Was auf diese Weise entsteht, ist ein Kulturland, das komplexer, vielfältiger ist als das auf konventionellen Höfen. Ein Mosaik von Lebensräumen hat sich auf Gut Temmen erhalten und herausgebildet, das zahllosen Arten Unterschlupf bietet.

In einer Studie haben der Biologe Gottwald und Kollegen vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg konventionelle und ökologisch bewirtschaftete Felder miteinander verglichen. Die Vielfalt der Ackerwildkräuter ist demnach auf Ökoäckern bis zu neunmal höher. Kornblume, Lämmersalat oder Feld-Rittersporn wachsen dort sogar bis zu 20-mal häufiger.

"Schon ökologischer Landbau an sich garantiert eine hohe Artenvielfalt", sagt Gottwald. "Hier auf Gut Temmen versuchen wir, Pflanzen und Tieren noch mehr Raum zu geben." 20 Meter breite Blühstreifen rund um einige der Tümpel des Betriebs erlauben Moorfrosch, Rotbauchunke, Kammmolch und Knoblauchkröte das Wandern. Die Amphibien locken wiederum Weißstorch und Schreiadler an.

Manche Wiesen werden hier so spät gemäht, dass sogar das rare Braunkehlchen eine Chance hat. Die Gelege des Vogels fallen normalerweise der Mahd zum Opfer.

Gut Temmen nimmt am Projekt "Landwirtschaft für Artenvielfalt" teil, für das der WWF mit Edeka und dem Ökoanbauverband Biopark kooperiert. 62 Biohöfe beteiligen sich aktuell und produzieren besonders artenfreundlich.

DIE AGRARWENDE - warum kommt sie nicht überall? Was würde geschehen, wenn sich die Politik an dem Leitbild eines naturverträglichen Landbaus orientieren würde, wie es Naturschützer schon lange fordern?

Bauernpräsident Joachim Rukwied sorgt sich im SPIEGEL-Streitgespräch um Wettbewerbsfähigkeit und beklagt die "Komplexität des Welthandels" (siehe rechts). Tatsächlich benötigt der Biobauer fast die doppelte Fläche, um den gleichen Ertrag zu erwirtschaften. Doch ist der Wettbewerb im Agrarsektor nicht ohnehin eine Illusion?

"Wenn wir die EU-Landwirtschaft mit jährlich 56 Milliarden Euro subventionieren, dann kann man nicht mehr von fairen Weltmarktpreisen reden", sagt Martin Häusling, Abgeordneter der Grünen im Europaparlament: "Wir zahlen dem Bauern die Hälfte seines Einkommens; da können wir auch eine Gegenleistung erwarten."

Häusling fordert ein sofortiges Verbot von Neonicotinoiden und Glyphosat sowie eine Pestizidabgabe, damit die Folgekosten des Gifteinsatzes "nicht mehr auf die Gesellschaft abgewälzt werden".

Auch bei der Überdüngung müssten die Verursacher, zum Beispiel über eine Stickstoffabgabe, "zur Rechenschaft" gezogen werden. Insgesamt, so steht es im "European Nitrogen Assessment", verursacht die Überdüngung in der EU Schäden für Gesundheit, Ökologie und Klima von 70 bis 320 Milliarden Euro jährlich.

Auch deutsche Fachbehörden drängen auf einen tiefgreifenden Wandel. "Der intensive Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel ist ökologisch nicht nachhaltig und gefährdet unsere Tier- und Pflanzenwelt", konstatiert das Umweltbundesamt. Es gelte, den Pestizideinsatz zu "minimieren".

BfN-Präsidentin Jessel rät, die EU-Fördergelder nicht mehr wie bisher nach dem "Gießkannenprinzip" zu zahlen, sondern "zielgerichteter für den Erhalt der Böden, der biologischen Vielfalt und für den Grundwasserschutz" einzusetzen.

Auch bei der Energiewende empfiehlt Jessel ein Umsteuern. Bioenergie dürfte nur noch aus Rest- und Abfallstoffen gewonnen werden, nicht mehr aus eigens dafür angebautem Mais oder Raps.

"Landwirte sollten viel mehr honoriert werden, wenn sie naturverträglich wirtschaften", sagt die BfN-Chefin. Subventionen müssten an "gesellschaftliche Leistungen" geknüpft werden.

Doch die Bundesregierung scheint beratungsresistent. Kanzlerin Merkel erwähnte die Artenkrise mit keinem Wort, als sie Ende Juni auf dem Deutschen Bauerntag sprach. Stattdessen versprach sie den Landwirten, dafür zu sorgen, dass diese auch weiterhin das Pflanzengift Glyphosat benutzen dürften.

"In welchem Deutschland wirst du einmal leben?", fragt Merkel mit sanfter Mutti-Stimme in einem aktuellen CDU-Wahlspot zu einem Bild eines Ungeborenen. Hohle Worte. Die Regierung unternimmt zu wenig, um die natürlichen Ressourcen für die Zukunft zu sichern. Ein starker Staat müsste viel entschiedener eingreifen, wenn die Bauern die biologische Vielfalt ruinieren.

"Wir stehen nun an einem Scheidewege", schrieb Rachel Carson vor 55 Jahren: "Doch ist es nicht gleich gut, wohin wir uns wenden."

Der seit Langem eingeschlagene Weg sei "trügerisch bequem, eine glatte moderne Autobahn, auf der wir mit großer Geschwindigkeit vorankommen". Doch an ihrem Ende "liegt Unheil".

Der andere Weg sei weniger befahren, "doch er bietet uns die letzte und einzige Möglichkeit, ein Ziel zu erreichen, das die Erhaltung unserer Erde sichert".

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