Attentat in Las Vegas Die US-Bürger und ihre Waffen - eine tödliche Liebe

Ein Sturmgewehr ist in Nevada so leicht zu kaufen wie eine Waschmaschine. Wieso wird der Wahnsinn nicht gestoppt?
Cowboystiefel vor dem Konzertgelände in Las Vegas

Cowboystiefel vor dem Konzertgelände in Las Vegas

Foto: Las Vegas Sun / Las Vegas Sun / Polaris / Studio X

Las Vegas ist zu jeder Zeit ein zutiefst amerikanischer und seltsamer Ort, aber nie war er deprimierender als in diesen Tagen. Drinnen, in den fensterlosen Katakomben der Kasinos, versuchen sich die Zocker, Touristen, Tagungsteilnehmer an business as usual. Draußen herrscht lärmende Stille. Der berühmte "Strip", die Vergnügungsmeile, ist zur Hälfte gesperrt. Kein Auto fährt, nur die Limousinenkarawane von Präsident Donald Trump rollt am Mittwoch durch ein Spalier aus Blaulichtern.

Zehn Minuten dauerte das Massaker an Konzertbesuchern, das hier Sonntagnacht stattfand, am Ende waren 58 Menschen tot und über 500 verletzt. Es war ein Kugelhagel wie im Krieg, mehrere Hundert Schuss pro Minute soll der Täter abgegeben haben. Es starben Lastwagenfahrer, Finanzberater, Wrestlingcoaches, Fischer und Lehrer, Paare, die ihren Hochzeitstag feierten, sechsfache Familienväter, Mütter, die mit ihren Kindern bei dem Konzert waren; Menschen aus dem ganzen Land.

Ein Blutbad, ausgerechnet in Las Vegas, diesem Ort des durchkommerzialisierten Amüsements, diesem Monument des Exzesses, angeschwollen von 500.000 auf über zwei Millionen Einwohner in den vergangenen drei Jahrzehnten. Endlose Kolonnen von Junggesellenabschieden ziehen jeden Abend durch die Straßen, unzählige Konferenzen füllen die 125.000 Hotelzimmer. Tausende Gelegenheiten, Geld zu verprassen, beim Black Jack, bei Sterneköchen, mit 1000-Dollar-Prostituierten.
Auch Stephen Paddock war ein Spieler, der stundenlang vor Slotmaschinen saß und nur die Hand bewegte. Oder Videopoker spielte, dieses unemotionalste aller Spiele. Der mit hohem Einsatz so zockte, dass er am Ende rausging ohne großen Verlust, ein Profi, methodisch, kühl, kalkulierend. Und der genau so tötete.

Drei Tage vor der Tat mietet sich Paddock in eine Suite im 32. Stock des Mandalay Bay ein, dieses Klotzes am südlichen Ende des Strips, 3309 Zimmer, 12.500 Quadratmeter Kasino, die Fenster golden, ein herrlicher Blick über die Wüste und die schimmernde Stadt. Und auf das Countrymusik-Festival gegenüber, ein Menschenmeer mit 22.000 Besuchern.

Paddock hängt das Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür, schafft in Koffern 23 Schusswaffen ins Zimmer, darunter wohl eine Kalaschnikow und ein AR-15-Sturmgewehr, die meisten nachgerüstet, sodass sie so schnell feuern wie vollautomatische Gewehre. Das Teil, das man braucht, um Waffen derart umzubauen, "Bump Stock" genannt, gibt es ab 99 Dollar. Dazu Stative, Zielfernrohre, mehrere Tausend Schuss Munition.

Dann schlägt Paddock zwei Fenster ein und beginnt am Sonntag, 22.05 Uhr, mit dem Morden. Auf Videos ist zu hören, wie das gespenstische Tack-tack-tack der Schussfolgen das Konzert des Countrysängers Jason Aldean beendet, wie Menschen schreiend Schutz suchen. Nach etwa 25 Minuten, bevor die Spezialkommandos endlich eindringen, tötet sich der Täter, mit einem Schuss in den Mund. Im Hotelflur hatte er Kameras installiert, er sah die Polizisten wohl kommen.

Paddock war 64, Amerikaner, weiß, zweimal geschieden, kinderlos, ein Einzeltäter nach allem, was man bisher weiß. Auch der "Islamische Staat" meldet sich, will die Tat für sich vereinnahmen; Paddock sei zum Islam konvertiert. Das FBI sieht dafür bislang keinen Anhaltspunkt. Aber auch kein anderes Motiv. Seine Freundin, die eine Woche vor der Tat auf die Philippinen gereist war, zeigt sich erschüttert und ratlos.

Seit etwa 30 Jahren war Paddock ohne Vollzeitbeschäftigung, hatte aber angeblich zwei Millionen Dollar auf dem Konto, verdient mit Immobiliendeals. Er lebte in einer Rentnerwohnsiedlung, 90 Autominuten von Las Vegas entfernt. Die Stadt zieht solche Gestalten an, es gibt hier einen Mikrokosmos aus Berufszockern, viele verbringen jeden Tag Stunden an den Spieltischen.

All die Leute, die jetzt befragt werden, schildern den Täter als unhöflich, kalt, ein Soziopath offenbar. Sein Vater war ein Bankräuber, brach aus dem Gefängnis aus, war in den Siebzigerjahren auf der Liste der meistgesuchten Verbrecher des FBI, beschrieben dort als "Psychopath". Aber ist das allein schon eine Erklärung? Angeblich hat er seine Freundin schlecht behandelt, erzählen manche. Paddock war bislang nie aufgefallen, "nur irgendein Typ", so sagt es sein Bruder Eric. Und fragt: "Woher zum Teufel hatte er automatische Waffen?" Eine rhetorische Frage, Waffen sind in den USA so leicht zu kaufen wie Waschmaschinen, erst recht in Nevada, wo man noch nicht mal einen Waffenschein braucht, die Waffen nicht registriert werden und jeder so viele besitzen darf, wie er will. Kaufen kann man sie zum Beispiel hier, im "Gun Store", nur wenige Kilometer östlich vom Ort der Katastrophe: Ein Waffenparadies, so groß wie ein Baumarkt, in den Glasvitrinen stapeln sich Glocks, Sig Sauers, Smith&Wessons, an den Wänden hängen Uzis und Colts M16. Und zwei Tage nach dem Grauen rollen schon wieder die Laster mit Werbebannern: "Battlefield Vegas - schieß mit einer vollautomatischen AK-47", 29 Dollar. Wahnsinn.

Die Amerikaner und ihre Waffen: eine tragische Liebe. Der Wilde Westen ließ sich nur mit dem Colt erobern, die Briten ließen sich mit dem Karabiner vertreiben und die Indianer mit der Winchester unterjochen. So wurde Waffenbesitz zum Freiheitsmythos, in der Verfassung festgeschrieben, mit allen Mitteln zu verteidigen.

Waffen sind Ideologie; Logik und Fakten werden dabei ausgeschaltet. Dabei sterben mehr Amerikaner an Schussverletzungen als bei Verkehrsunfällen. In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurden mehr Zivilisten durch Waffengewalt getötet (1,6 Millionen) als US-Soldaten in allen Kriegen der vergangenen 230 Jahre (1,4 Millionen).

Wie immer nach einem Blutbad werden nun all diese Zahlen präsentiert, gibt es wieder all die Rufe nach schärferen Waffengesetzen. Es sind ja nicht nur die großen Massaker, sondern auch all die kleinen, wenn der Gefeuerte den Chef abknallt, der Fünfjährige seine Geschwister erschießt und Männer ihre Ehefrauen. Täglich werden zehn Kinder durch Schusswaffen verletzt oder getötet.

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Aber die Waffenlobby ist die wahrscheinlich mächtigste Vereinigung im Land, und die zynische Logik dieser Ereignisse geht für sie so: Nun gelte es, mehr Waffen zu kaufen, um sich zu schützen. In den Tagen nach dem Massenmord schnellten die Aktienkurse der Waffenhersteller nach oben, in Erwartung steigender Absätze.

Es sind nicht nur Cowboys in Texas, die das so sehen, sondern auch Liberale in Kalifornien, mit der Smith&Wesson im Safe. Nur so kommen solche Zahlen zustande: mehr als 300 Millionen Waffen, 50 Prozent mehr als 1993. Wer wagt schon, sich dagegenzustellen? Sicher nicht Trump, treuer Unterstützer der Waffenlobby NRA, von der er im Wahlkampf mehr als 30 Millionen Dollar erhielt. Kein Wunder, dass er versprach: "Ich werde absolut niemals das Recht einschränken, Waffen zu tragen." Zu Beginn seiner Amtszeit nahm er eine Bestimmung seines Vorgängers Barack Obama zurück, dass beim Waffenkauf psychische Vorerkrankungen von den Behörden abgefragt werden müssen. Und im Kongress wurde gerade ein Gesetzentwurf eingebracht, der den freien Verkauf von Schalldämpfern zum Ziel hat.

Nach dem Massaker war Trump seltsam zurückhaltend, anders als nach den von Muslimen verübten Angriffen von Orlando und San Bernardino. Nun sei keine Zeit für politische Debatten, sagte er am Mittwoch in Las Vegas, der Trauerflor flatterte im Wüstenwind. Nun sei Zeit für Gemeinsamkeit, das Land müsse zusammenfinden. Doch es gab noch nie einen Präsidenten, der sein Land so spaltete.

Waffen sind Mord, stoppt diesen Wahnsinn, ruft die eine Hälfte des Landes. Waffen sind Freiheit, wagt nicht, unseren Lifestyle zu beschränken, schreien die anderen zurück. Wenn nun nach strengeren Gesetzen gerufen wird, dann nur entlang ideologischer Linien, Demokraten sind dafür, Republikaner dagegen. Halbwegs ernsthaft wird allein diskutiert, nun die "Bump Stocks" zu verbieten, jene Teile, mit denen Paddock seine Waffen noch tödlicher machte. Es ist ein reflexhafter Streit, giftig und aggressiv. Niemand hört dem anderen mehr zu in diesem Land.

Das war längst nicht immer so. Die NRA unterstützte Ende der Sechzigerjahre noch den Gun Control Act zur Regulierung von Waffenbesitz. Ronald Reagan, konservative Ikone, setzte sich für härtere Gesetze ein, 1991 schrieb er in der "New York Times": "Jedes Jahr werden 9200 Amerikaner mit Handfeuerwaffen ermordet. Diese Gewalt muss gestoppt werden." Und nun? Fällt die sogenannte Alt-Right, die alternative Rechte, über die Eltern von Kindern her, die 2012 beim Massaker an einer Grundschule in Newtown erschossen wurden: Die Tragödie habe nie stattgefunden, das seien Fake News der Liberalen.

Was vom Attentat am Ende bleiben wird, ist das Trauma der Überlebenden. "Ich werde lange brauchen, um das zu verkraften", sagt Mary aus Michigan, Mitte sechzig, sie war im Mandalay-Bay-Kasino, als Panik ausbrach. Nun sitzt sie wieder vor einem einarmigen Banditen im leeren Hotel und weint leise. "Ein bisschen Spaß wollten wir, und dann dieser Wahnsinn." Und wie lange wird Las Vegas brauchen, um sich zu erholen? Vielleicht ein paar Wochen, kaum länger, die Hotels sind ausgebucht, die Stadt wächst weiter und weiter. Schlimm war es nur nach der Finanzkrise, aber Boom und Exzesse sind längst zurück, auch weil es sich hier so anfühlt, als lasse sich der anderswo siechende amerikanische Traum noch realisieren, der Aufstieg aus dem Nichts. Wenn nicht mit harter Arbeit, dann wenigstens mit Glück beim Videopoker.

Aber für das Land wird der 1. Oktober eine weitere Narbe hinterlassen, eine von vielen zunehmend schlecht verheilenden Wunden, weil die Amerikaner sich nicht darauf einigen können, wie sie zu behandeln sind.

Der Präsident ist dabei keine Hilfe. Vier Stunden lang ist er in Las Vegas, besucht die Opfer, lobt die Polizei. Aber was ist mit den politischen Konsequenzen, strengeren Waffenkontrollen, was wird sich ändern? "Darüber werden wir heute nicht reden", ruft er den Reportern zu, steigt in die Air Force One und donnert davon, in einer weiten Schleife hinweg über das Mandalay Bay Hotel und den Strip, wo sich schon wieder die Zocker drängeln.

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