Winz-Häuser gegen Wohnungsnot My Home is my Schuhschachtel

Miniaturhaus "Tiny100" in Berlin-Tiergarten
Foto: Jürgen Schrader / DER SPIEGELUm sich an diesem Tag im März anzusehen, wie sich Van Bo Le-Mentzel modernes Wohnen vorstellt, fährt man mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Prinzenstraße in Berlin-Kreuzberg und läuft dann noch fünf Minuten bis zu einer Bretterbude, die am Carl-Herz-Ufer genau einen Parkplatz blockiert. Drinnen versucht Le-Mentzel gerade erfolglos, ein Feuer im Ofen zu entfachen. "Kennst du dich damit aus?", fragt er.
Le-Mentzel, 40, wohnt hier nicht, er hat den schlichten Schuppen namens "Tiny100" aber erfunden und zu Demonstrations- und Werbezwecken am Landwehrkanal aufbauen lassen. "Schau dich ruhig um", sagt der Deutsche, der in Laos geboren wurde. Also: Bauch einziehen, seitwärts am qualmenden Ofen vorbei, schon steht man in einem Duschbad, das für übergewichtige Menschen schnell zur Klemmfalle werden kann.
Nach der Inspektion des "Wellnessbereichs", wie der Architekt das Sanitärkabuff ohne einen Anflug von Ironie nennt, klettert der Besucher über die Holzleiter zur Schlafkoje hinauf. Oben angelangt, kann man die Beine - unter Zuhilfenahme der Arme - unter eine dort angebrachte Holzplatte schieben, die als Schreibtisch dienen soll. "Fürs Homeoffice", sagt Le-Mentzel, der inzwischen mithilfe eines Passanten das Feuer in Schwung hat bringen können.
Menschen, die an durchschnittliche deutsche Wohnverhältnisse gewöhnt sind, drängen sich spätestens bei den komplexen Bewegungsabläufen auf dem Hochbett einige Fragen auf: Geht das? Kann man länger als unbedingt nötig in einer Butze wohnen, die mit 6,4 Quadratmetern ungefähr so groß ist wie die Fläche, die in Deutschland einem Häftling zusteht? Und wenn ja - genügen dann knapp 13 Quadratmeter für ein Paar und 26 für eine vierköpfige Familie? Was macht es mit Menschen, wenn sie so wohnen?
Architekt Le-Mentzel, der es als Gründer der Berliner "Tinyhouse University" und Erfinder von "Hartz-IV-Möbeln" schon zu gewisser Bekanntheit gebracht hat, meint es ernst mit dem Hüttchen, das er mittlerweile umparken musste; es steht jetzt auf einer Wiese beim Bauhaus-Archiv im Stadtteil Tiergarten. Sobald Le-Mentzel ein passendes Grundstück gefunden hat, will er mit Unterstützung eines Investors ein Mietshaus bauen und darin bis zu 200 Mikroapartments vom gleichen Grundriss anbieten, allerdings ohne Ofen.

Testbewohner eines Tinyhouse
Foto: Georg MoritzDamit nicht nur Singles dort unterkommen können, sollen Einheiten zusammengelegt und dann als Paar- oder Familienwohnung genutzt werden. "Die 100 Euro Miete, die für ein Einzelapartment inklusive Heizkosten und Internetzugang fällig würden, kann man locker auch mit Flaschensammeln verdienen", sagt Le-Mentzel.
Das Konzept ist radikal und erinnert an Bilder von Wohnkäfigen aus Hongkong, Tokio oder anderen Megacitys Ostasiens. Und die Idee passt zum Zeitgeist, denn in Deutschland tüfteln inzwischen viele Studenten, Architekten und Immobilienentwickler an der Frage herum, wie man möglichst viele Menschen auf engem Raum unterbringen kann - freilich mit unterschiedlichen Motiven.
Le-Mentzel und andere Vordenker der aus den USA stammenden Tinyhouse-Bewegung möchten ein bisschen die Welt retten; sie halten radikale Raumreduktion für die klügste Antwort auf Wohnungsmangel, Obdachlosigkeit, Flüchtlingszuzug, Flächenverbrauch, Landflucht und Horrormieten. Immobilienunternehmen treibt ein weniger philanthropischer Gedanke: Sie machen aus der Platznot in den Städten eine Tugend, indem sie möglichst viel Geld aus möglichst wenig Raum ziehen wollen.
Das Leben auf 6,4 Quadratmetern würde den Menschen in die Zeiten der industriellen Revolution zurückwerfen: Während heute jeder Deutsche durchschnittlich über 44 Quadratmeter verfügt, hausten damals Mutter, Vater und Kinder auch schon mal auf 20 Quadratmetern - also auf Arealen, die etwas größer waren als eine Einzelgarage. Einige der Familien besserten ihre Finanzen zusätzlich durch die Beherbergung von "Schlafgängern" auf, die sich keine eigene Bleibe leisten konnten.
Die Vorstellungen vom individuellen Raumbedarf gingen in den verschiedenen Kulturen der Welt natürlich schon immer weit auseinander, sagt die Hamburger Wohnpsychologin Antje Flade, 75. In Regionen, in denen Großfamilien eine wichtige Rolle spielten, werde ein enges Zusammenleben eher akzeptiert als dort, wo das Wohlstandsniveau hoch ist und man dem individualistischen Lebensstil huldige. Es sei daher falsch und wohl auch gefährlich, den Menschen in Deutschland Flächen anzudienen, wie sie im Arbeitermilieu des 19. Jahrhunderts üblich waren. "Erlebte Enge macht aggressiv", sagt Flade.
Allerdings hält sie es auch für ausgeschlossen, dass sich moderne Menschen ohne extreme Not längerfristig auf derlei Wohnarrangements einlassen - selbst dann nicht, wenn sie im hippsten Teil der Stadt liegen. Konzepte wie das von Le-Mentzel würden sich daher wohl allenfalls bei Partygängern bewähren, die gelegentlich mal in der Stadt feiern und ihren Rausch ausschlafen wollen.
Tatsächlich deuten auch die bisherigen Erfahrungen darauf hin, dass Mikroapartments der deutschen Gesellschaft nur als Zeitwohnsitz zu vermitteln sind. Immobilienunternehmen wie GBI oder I-Live bieten in Metropolen wie München, Frankfurt oder Köln schon seit einigen Jahren Miniwohnungen an, häufig etwa 20 Quadratmeter und damit mindestens dreimal so groß wie das "Tiny100". In der Regel sind es Studenten und Wochenendpendler, die einziehen, und viele bleiben nicht länger als ein oder zwei Jahre.
Anderswo in der modernen Welt macht man ähnliche Erfahrungen, und wenn die Butzen so knapp geschnitten waren wie Le-Mentzels Entwurf, ging die Sache auch schon richtig schief. Zum Beispiel in Tokio, wo ein Wohnhaus voller Neun-Quadratmeter-Apartments über die Jahre eine gänzlich neue Funktion bekam: Mittlerweile werden viele der Kabinen als Lagerraum genutzt.
Gerade in Ländern mit vergleichsweise schlechtem Wetter sei ein Mensch auf seine eigene Wohnung zurückgeworfen und brauche "Platz zur Entfaltung", sagt der Grazer Wohnpsychologe Harald Deinsberger-Deinsweger. Der Bewohner müsse sich individuell einrichten können und die Möglichkeit haben, Gäste einzuladen, ohne großen Aufwand betreiben zu müssen.
Deswegen hält der Österreicher auch nicht viel von Schlafsofas, hochklappbaren Tischen oder anderem Multifunktionsschnickschnack. Anfangs möge so ein Zeug interessant sein. "Aber technische Spielereien verlieren schnell ihren Reiz, wenn sie nicht substanziell zum Wohlbefinden beitragen können", sagt Deinsberger-Deinsweger. Als nervig kann es sich auch entpuppen, dass man in einem Mikroapartment so gut wie keinen Besitzstand anhäufen kann - schließlich beansprucht jedes Buch, jede Tasche, jedes Paar Schuhe wertvollen Platz.
Besonders heikel finden es Forscher, wenn mehr als ein Mensch in eine Miniwohnung einzieht. Es mag zwar sein, dass das Leben auf 18 Quadratmetern in der Ikea-Ausstellung auf den ersten Blick noch irgendwie kuschelig und für junge Paare gar begehrenswert aussieht. Im Alltag könne solch beengtes Miteinander aber ganz schnell in Trennung, Scheidung und Alleinerziehung münden, argumentieren Psychologen sinngemäß.
Dak Kopec vom Boston Architectural College, als Umweltpsychologe ein Experte für das Thema "Design und Gesundheit", hält es sogar für schlicht unrealistisch, dass Paare eine glückliche Beziehung führen können, wenn sie auf der Fläche eines Hotelzimmers leben müssen.
Mehr noch litten Kinder unter der Enge, sagen Wissenschaftler von der amerikanischen Cornell University im Bundesstaat New York. Sie beobachteten Mütter, die in einer kleinen Wohnung lebten, und stellten fest, dass diese öfter stritten und zu wenig Empathie für ihren Nachwuchs zeigten.
Wie sie herausfanden, entwickeln sich Mädchen und Jungen, die unter solchen Verhältnissen aufwachsen, daher kognitiv und sozial schlechter als Altersgenossen, die nicht so eingeschränkt leben. Sie sind aggressiver, ängstlicher und bringen schlechtere schulische Leistungen. Daher sei es gut, dass es in Deutschland vergleichsweise großzügige Wohnraumregelungen gebe, sagt Wohnforscherin Flade.
Für vierköpfige Familien, die im Hartz-IV-System leben, gilt eine Wohnungsgröße von etwa 85 Quadratmetern als angemessen - und eine Wohnung als überbelegt, wenn sich Bruder und Schwester, die älter als zwölf sind, ein Zimmer teilen müssen oder die Eltern keinen eigenen Raum haben. Das alles seien Standards, an denen nicht gerüttelt werden dürfe, sagt Flade.
Die Wissenschaftlerin empfiehlt zudem, Kitas großzügiger zu planen - besonders in jenen Vierteln, in denen viele Familien in vergleichsweise kleinen Wohnungen hausten. Die negativen Effekte des Aufeinanderhockens daheim könnten durch die Verhältnisse in anderen Sphären verringert werden.
Architekt Le-Mentzel, der mit Frau und zwei Kindern aus tiefer Überzeugung auf 56 Quadratmetern lebt, hält es für zu kurz gegriffen, in Quadratmetern zu denken. Wie etliche Berufskollegen glaubt er, dass es mehr auf das Umfeld der Wohnung ankommt, auf den Grundriss und das Tageslicht, das in die Zimmer fällt. Er stützt sich dabei auch auf Walter Gropius, Begründer der Bauhaus-Bewegung.
Während eines Kongresses, auf dem es um Behausungen für Fabrikarbeiter ging, wetterte Gropius gegen den Flächenfetischismus. "Irrigerweise" erblickten viele das Heil für das Wohnungswesen im größeren Raum. Dabei sei Helligkeit wichtiger als Platz, behauptete er - und gab folgende Losung aus: "Vergrößert die Fenster - verkleinert die Räume."
Für richtig hält Wohnpsychologe Deinsberger-Deinsweger den ersten Teil der Gropius-Forderung. "Je enger der Wohnraum, desto wichtiger wird der Bezug zur Außenwelt", sagt er. Ein Panoramafenster, das den Blick auf Bäume eröffne statt auf eine Brandmauer, mache es einem Menschen leichter, fehlende Fläche zu ertragen. "Ein attraktiver Innenhof kann bewirken, dass auch ein kleiner Raum eine hohe Aufenthaltsqualität erreicht", sagt der Forscher. So deuten Studien darauf hin, dass Menschen im Krankenhaus schneller gesund werden, wenn sie ins Grüne schauen können.
Wenn das stimmt, könnte das Konzept der Berliner Firma Cabin Spacey die Seele streicheln, wenigstens ein bisschen: Sie will Mikroapartments mit großen Panoramafenstern auf die Dächer von Berliner Gebäuden pflanzen. Der Bewohner müsste sich zwar mit 20 Quadratmetern zufriedengeben, Küche und Bad inbegriffen, hätte aber einen besseren Ausblick als die meisten Hauptstädter.
Laut Wohnforschern hilft es auch, wenn jeder Mitbewohner Zugang zu einer Gemeinschaftsfläche hat - ähnlich wie in einer WG, wo die Küche oft das kommunikative Zentrum ist. In Le-Mentzels geplantem Haus grenzen die Apartments daher an einen "Co-being-space", auf dem Erwachsene miteinander klönen und Kinder spielen können.
Le-Mentzel möchte jetzt noch schnell etwas zeigen. Er macht vier Schritte in den hinteren Teil seiner Hütte und öffnet eine Tür, die sich unauffällig in die Rückwand fügt. Dahinter befindet sich ein Kämmerlein, es eignet sich als Stauraum, aber eine Isomatte ließe sich dort zur Not auch ausrollen. "Es wäre also möglich, gelegentlich einen Untermieter aufzunehmen", sagt Le-Mentzel. Welch Platzwunder.