Bestsellerautor Ralf Rothmann im Interview "... dass sie uns Kindern das Taschengeld aus den Sparbüchsen klaute"

Wie viel eigene Familiengeschichte steckt in den Büchern von Bestseller-Autor Ralf Rothmann?
Autor Rothmann in Berlin: "Meine besten Texte waren immer noch weiser als ich"

Autor Rothmann in Berlin: "Meine besten Texte waren immer noch weiser als ich"

Foto: Markus Tedeskino/ DER SPIEGEL

In Frohnau, dem äußersten Zipfel West-Berlins, lebt Ralf Rothmann, bekannt geworden mit Romanen wie "Milch und Kohle", "Junges Licht" und zuletzt, sehr erfolgreich, "Im Frühling sterben" - man könnte ihn, wenn man denn ein Etikett suchte, für einen Chronisten der alten Bundesrepublik halten. Aber wäre dieser Begriff nicht allzu dürr für einen Autor, der so lebensprall erzählt wie er? Im Mai wird Rothmann 65, dann bekommt er eine kleine Rente: "Ich habe ja mal richtig gearbeitet." Aber erst mal erscheint nun sein neuer Roman, "Der Gott jenes Sommers" spielt 1945 auf einem Gut in Schleswig-Holstein. Es geht um junge Mädchen, junge Männer, das bevorstehende Kriegsende, um Nazifunktionäre; in der Luft liegt eine Mischung aus Apokalypse und Hedonismus.

SPIEGEL: Herr Rothmann, eigentlich ist dieses Buch die Fortsetzung Ihres vorigen Romans.

Rothmann: Nachdem ich "Im Frühling sterben" geschrieben hatte, dachte ich nicht, dass ich noch einmal in diese Naziwelt abtauchen würde - die hat mich zu sehr deprimiert. Aber dann habe ich eine Lesereise gemacht, und in Kiel kam eine ältere Dame zu mir und sagte, sie habe meinen Vater kennengelernt, als jungen Mann noch. Da war sie ungefähr zwölf. Und wie sie dann von ihm erzählte, merkte ich, das kleine Mädchen damals war verliebt gewesen in den 17- oder 18-Jährigen. Und daran hat sich die Geschichte entsponnen.

SPIEGEL: Ihr Vater war ein Vorbild für eine der Hauptfiguren in "Im Frühling sterben". Er taucht auch in "Der Gott jenes Sommers" wieder auf: als junger Melker, der zwangsrekrutiert wird von der Waffen-SS - und der, wie man aus dem Vorgängerbuch weiß, den Befehl erhält, seinen besten Freund zu erschießen.

Rothmann: Dass mein Vater zwangsrekrutiert wurde, stimmt; dass er seinen Freund erschießen musste, nicht. Das sind ja keine biografischen Bücher.

Eltern Elisabeth, Walter Rothmann (undatierte Privataufnahmen): "Der Krieg saß immer mit am Tisch"

Eltern Elisabeth, Walter Rothmann (undatierte Privataufnahmen): "Der Krieg saß immer mit am Tisch"

Foto: privat

SPIEGEL: Aber einen autobiografischen Kern haben alle Ihre Romane. Sie haben einmal gesagt, dass Ihre Mutter gegen Ende des Krieges von einem Russen vergewaltigt wurde. Die Angst, vergewaltigt zu werden, ist eines der zentralen Motive Ihres neuen Romans.

Rothmann: Ja, meine Mutter ist vergewaltigt worden während der Flucht aus Westpreußen. Sie hat das natürlich nicht so ausgedrückt, sie hat gesagt, "Einmal hat mich einer geschnappt", und auf jede weitere Neugier nur mit "Frag mir kein Loch in den Bauch" reagiert - und damit war der Fall für sie erledigt.

SPIEGEL: Auch die Hauptfigur des Buches, die zwölfjährige Luisa, wird vergewaltigt. Und dafür war das Vorbild Ihre Leserin aus Kiel?

Rothmann: Um Gottes willen! Das Buch ist reine Fiktion, sieht man vielleicht davon ab, dass ich ein bisschen die Silhouette meiner Frau mit hineingewebt habe, ihre Klugheit, diese Faszination für Bücher, die roten Haare.

SPIEGEL: Und was hat Ihre Frau dazu gesagt, dass die Figur vergewaltigt wird?

Rothmann: Diese Vergewaltigung liegt ja in der Logik der Geschichte. Das war, wovor alle Frauen zu jener Zeit Angst hatten. Die Propaganda sprach bekanntlich von vergewaltigenden "asiatischen Horden", die über Deutschland kommen würden.

SPIEGEL: Im Roman gibt es noch eine zweite Handlungsebene, sie spielt zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

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Rothmann, Ralf

Der Gott jenes Sommers: Roman

Verlag: Suhrkamp Verlag
Seitenzahl: 254
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28.03.2023 12.10 Uhr

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Rothmann: Das war zunächst keine kalkulierte Gestaltung, das hatte eher musikalische Gründe. Nach etwa 40 Seiten dachte ich, irgendwas stimmt hier nicht mit dem Ton, der braucht einen Widerpart. Und dann habe ich alles zur Seite gelegt, durchgeatmet und diese Passage geschrieben, und zwar in einem besinnungslosen Rutsch. Und das wiederholte sich ungefähr alle 40 Seiten, etwa so wie ein Musiker ein Thema kontrapunktisch bearbeitet: Der Ton, den ich angeschlagen hatte, brauchte einfach ein Echo.

SPIEGEL: In dieser Binnenerzählung, die der eigentliche Höhepunkt des Buches ist, geht es um einen Mann, der sich die absurde Idee in den Kopf setzt, eine Kapelle über einen See zu transportieren. Natürlich geht sie unter. Als ob die Vergeblichkeit der Hoffnung das Motto ist, das über allem steht.

Rothmann: Nicht nur. Es gibt schließlich seinen Freund, den Zimmermann, der ihm die Augen öffnet: Dein Bemühen war ja ein reines, insofern ist es nicht wirklich wichtig, ob die Kirche nun im Dorf steht. Sie steht auf jeden Fall an ihrem Ort - und der ist eher der Herzinnenraum als die Dorfmitte.

Foto: privat

SPIEGEL: Vor Kurzem ist noch ein anderer Roman erschienen, in dem der Dreißigjährige Krieg eine Rolle spielt, "Munin oder Chaos im Kopf" von Monika Maron. Darin ist der Krieg eine Folie für unsere Zeit, für Flüchtlingsströme, Unruhe und Nervosität.

Rothmann: Jeder Krieg ist immer das Ende der Gespräche, der Schmerz des Einzelnen, das Überrolltwerden von der Historie. Ihn aber als Metapher zu benutzen, um eigene Thesen und Befürchtungen zu illustrieren, das käme mir seinen Opfern gegenüber nicht geheuer vor, ehrlich gesagt. Das hat mir mein Buch auch verboten. Der Glaube, dass es innerhalb des Grauens noch eine Hoffnung gibt und geben muss, ist wichtiger.

SPIEGEL: Ist unsere Zeit denn eine Zeit der Hoffnungslosen? Oder zumindest der Heimatlosen?

Rothmann: Na ja, Flüchtlingsströme hat es immer gegeben und diejenigen, die jetzt meinen, Deutschland gegen Zuwanderer verteidigen zu müssen, die vergessen, dass zumindest Westdeutschland von Zuwanderern aufgebaut wurde. Und diejenigen, die sich darüber aufregen, dass die Syrer zu uns kommen, regen sich natürlich nicht darüber auf, dass die in ihrem Land mit deutschen Waffen erschossen werden. Im Übrigen: Wer so etwas braucht wie einen Ort, eine Heimat, eine Nation, der ist gar nicht richtig auf der Welt. Es gibt andere Wurzeln.

SPIEGEL: Welche?

Rothmann: Die liegen eher in der Luft. Ich glaube, dass die geistige, die metaphysische Verwurzelung die eigentlich wichtige ist. Irgendwann wird jeder einmal von irgendwo vertrieben werden. Wehe dem, der dann keinen Ort über dem Ort hat.

SPIEGEL: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir", wie es in der Bibel heißt?

Rothmann: Ja.

SPIEGEL: Spielt diese metaphysische Komponente in Ihrem Leben eine Rolle?

Rothmann: Wenn das, was wir Wirklichkeit nennen, schon die Wahrheit wäre, sähen wir wohl arm aus. Jeder, der halbwegs schöpferisch arbeitet, macht ja die Erfahrung, dass da etwas wirkt, das willensstärker ist als er selbst. Die wirklich guten, schönen oder bewegenden Textstellen kann man sich nicht ausdenken, die kommen, die sind plötzlich da. Aber woher kommen sie? Meine besten Texte waren immer noch weiser als ich.

SPIEGEL: Wie kann das sein?

Rothmann: Das muss jeder für sich selbst beantworten. Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass ein intellektueller Ansatz in der Literatur für mich eher unbefriedigend ist. Ich will von niemandem hören, was er denkt oder meint, wenn ich seine Romane lese. Ich will von niemandem hören, was ich denken soll. Ich will etwas gestaltet sehen. In der Poesie scheint etwas auf, das über aller Realität ist und einem die Augen für das Wunderbare öffnet. Das interessiert mich.

SPIEGEL: Sind Sie religiös?

Rothmann: Was heißt schon religiös? Ich bin katholisch und denke manchmal noch mit so einer sentimentalen Anhänglichkeit an den Verein. Aber ich gehe in keinen Gottesdienst. In meiner Kindheit in der verrußten Bergarbeitersiedlung war die Kirche allerdings ein Trost, auch in ästhetischer Hinsicht: Diese üppigen Blumensträuße, das Gold und der Kostümflitter im Weihrauchduft. Ich war schon leidenschaftlich gern Ministrant. Aber das hat sich mit der Pubertät alles erledigt.

Foto: privat

SPIEGEL: Ihre Texte sind ungewöhnlich sinnlich für die deutschsprachige Literatur, sie sind sehr anschaulich und gewinnen dadurch eine ungeheure Kraft. Genau das aber ist an Ihrem vorigen Buch "Im Frühling sterben" kritisiert worden. Ein Rezensent hat Ihnen Verkitschung des Weltkriegs vorgeworfen.

Rothmann: Das ist für mich keine Kategorie. Ich weiß nicht, was Kunst ist, wie kann ich wissen, was Kitsch ist? Insofern hat mich das nie behelligt. Hermann Hesse hat sein ganzes Leben mit dem Vorwurf gelebt, er sei kitschig. Wenn man sich im deutschsprachigen Raum nicht an den Intellekt wendet, sondern Gefühle erzeugt, dann kommt ganz schnell dieser Vorwurf. Gedanken lassen sich in unserer wunderbar komplexen Sprache natürlich leicht zum Ausdruck bringen. Aber mit ihr etwas gestalten, das einem das Herz hebt oder einem die Nackenhaare sträubt, das ist fast wie Tango tanzen in Gummistiefeln.

SPIEGEL: Es ist ein Wagnis, über das Kriegsende zu schreiben, wenn man es macht wie Sie. Alexander Gauland hat vom "Stolz" auf die Leistungen deutscher Soldaten im Weltkrieg gesprochen. Das hat er dann relativiert, er habe bloß "Respekt" gemeint. Auch wenn Sie kein Gesinnungsgenosse Gaulands sein dürften, geht es Ihnen nicht auch um Respekt vor dem Individuum - und sei das ein deutscher Soldat?

Rothmann: Sie dürfen nicht vergessen, mein Vater ist mit 17 zwangsrekrutiert worden. Er wollte nie in den Krieg ziehen und hätte auf den "Stolz" oder den "Respekt" jenes Politikers gepfiffen. Dass ich darüber geschrieben habe, lag einfach an der Liebe zu meinen Eltern, zu meinem Vater, weil ich ihn verstehen wollte. Er war ein großer Schweiger, und natürlich hatte er Gründe dafür. Als er zur Waffen-SS eingezogen wurde, fühlte er sich als Opfer, als er zurückkam, war er plötzlich Täter. Das konnte er nicht verstehen; abgesehen von ein paar Jerry-Cotton-Heften hatte er nie im Leben ein Buch gelesen. Dieses Vakuum, das er mit sich herumtrug, das wollte ich ergründen, deshalb habe ich mich hineinbegeben in diese Zeit. Ich glaube, sonst hätte ich das gar nicht getan.

SPIEGEL: Wussten Sie als Kind, dass Ihr Vater in der Waffen-SS war?

Rothmann: Er hatte die Blutgruppentätowierung der SS am inneren Oberarm, und wenn er sich zu uns setzte in seinem Turnhemd, sahen wir sie. Der Krieg saß also immer mit am Tisch. Wir haben ihn dann dies und das gefragt, aber er hat selten geantwortet oder höchstens mit seinem obligatorischen "Alles Idioten!".

SPIEGEL: Ihre Eltern sind nach Ihrer Geburt von Schleswig-Holstein ins Ruhrgebiet gezogen, wo Ihr Vater als Bergmann gearbeitet hat.

Rothmann: Ja, das war eine harte Zeit, auch für uns Kinder. Mein Vater hat sich völlig vergraben unter Tage. Die Kumpel, die haben sich auf eine Weise mit dieser unglaublich schweren Arbeit identifiziert, die mir bis heute ein Rätsel ist. Das war fast wie eine Kriegskameradschaft. Und dann die Zechenunglücke, der Mann hatte unzählige Bein- und Armbrüche. Dazu die ständige Finanznot: Meine Mutter war sehr genusssüchtig, wollte auf jedem Rummel tanzen, wollte rauchen und trinken. Dafür reichte das Geld aber nicht. Und dann gab es diese gruseligen Situationen, dass sie uns Kindern das Taschengeld aus den Sparbüchsen klaute, die Münzen mit dem Frühstücksmesser aus dem Schlitz holte.

SPIEGEL: Wenn die Westdeutschen heute auf die alte Bundesrepublik zurückblicken, dann tun sie das oft im Glauben, dass dies die beste aller Welten war. Wenn man Ihre Romane liest, die in dieser Zeit spielen, hat man den Eindruck, es war überhaupt nicht so.

Rothmann: So habe ich es auch nicht empfunden. Die Jahre im Ruhrgebiet waren eigentlich eine Zeit der Gewalttätigkeit. Alles war brutal, auch die Sprache. Ich habe das als furchtbar und traumatisierend empfunden. Und als ich 1976 nach West-Berlin ging, war es auch nicht anders. Es war ein Dreckloch, und es war kalt, und die Wohnungen waren schrecklich. Doch immerhin gab es Freiräume.

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SPIEGEL: In Ihrem Debütroman "Stier" haben Sie über beides geschrieben, auch über die Zeit, als Sie nach der Volksschule in Oberhausen auf dem Bau gearbeitet haben. Sie sind vermutlich der einzige deutsche Schriftsteller mit Maurerlehre.

Rothmann: Nein, Lutz Seiler hat auch eine gemacht. Das Problem beim Mauern ist, Sie können es irgendwann. Für einen Maurer ist es das Größte, eine Ecke zu mauern, an der Ecke richtet sich der ganze Bau aus. Wenn Sie das dann können, müssen Sie nicht mal mehr eine Wasserwaage anlegen, das Ding ist im Lot. Aber als Schriftsteller, als schöpferischer Mensch überhaupt, dürfen Sie niemals sagen, jetzt können Sie es. Das gibt es nicht, das wäre das Ende Ihrer Literatur. Sie stehen immer wieder wie der Lehrling am ersten Tag des ersten Lehrjahrs da, und rein gar nichts ist im Lot.

SPIEGEL: Wie kamen die Bücher zu Ihnen auf die Baustelle?

Rothmann: Es gab ja die Stadtbücherei, und da war ich Stammgast. Dieser Moment, einen Stapel Bücher, die auch noch diesen eigentümlichen Geruch hatten, nach Hause zu tragen, das war immer das reine Glück. Ich habe viel gelesen, aber auch oft simuliert, ein Lesender zu sein. Man konnte sich hinter den Büchern so gut verstecken und eigenen Träumen nachhängen. Dann hieß es immer: Stör den Jungen nicht, der liest!

SPIEGEL: Eigentlich ist Ihre Lebensgeschichte ein sozialdemokratisches Märchen: vom Maurerlehrling zu einem der großen Erzähler des Landes.

Rothmann: Im Ruhrgebiet der Sechziger war die SPD tatsächlich allgegenwärtig. Irgendwann kam Willy Brandt zu einer Wahlkampfrede nach Oberhausen-Tackenberg, auf den Fußballplatz, und alle Kinder haben sich natürlich bemüht, ihm die Hand zu schütteln. Einer meiner Schulfreunde hat es auch geschafft und sagte dann ganz aufgeregt: "Er hat ganz weiche Hände!" Das konnte er kaum fassen. Die Hände unserer Väter waren ja hart verschwielt.

SPIEGEL: Und wie nehmen Sie den Niedergang der SPD wahr?

Rothmann: Aus den Augenwinkeln. Ich schaue ab und zu mal auf mein Smartphone. Und wenn ich darüber hinaus etwas über die Welt erfahren will, lese ich Shakespeare oder höre Schubert.

SPIEGEL: Hat Sie dann die Debatte um Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" erreicht, um den männlichen Blick in der Kunst? In Ihrem Werk sind sinnliche Frauenfiguren allgegenwärtig. Und Sie beschreiben das Aussehen dieser Frauen auch hingebungsvoll, bis hin zu den Frisuren, zum Nagellack, zu den Strümpfen. Wenn es ein schriftstellerisches Werk gibt, in dem der männliche Blick allgegenwärtig ist, dann Ihres.

Rothmann: Ein männlicher Blick ist zunächst mal nichts Negatives. Natürlich ist man empfänglich für die Schönheiten des anderen Geschlechts. Frauen sind das auch. Ich würde das eher als menschlichen Blick bezeichnen.

SPIEGEL: Die Kritik an Gomringers Gedicht lautete, hier werde die Frau zum Objekt gemacht.

Rothmann: In meinen Romanen sind es meistens die Frauen, die Männer zu ihren Objekten machen, darin herrscht ein mildes Matriarchat. Was diese Gomringer-Debatte betrifft, ist es so, dass die Interpretation des Gedichts völlig stumpfsinnig und dumm war, da wurde sogar Akkusativ und Nominativ verwechselt. Die Verse sind keine Herabsetzung der Frau, sondern ein Hymnus, ein Loblied der Schöpfung, ein Psalm. Unsere ganze Literatur kommt letztlich aus dem Minnesang, also aus der Bewunderung der Frau. Und natürlich ist das auch wichtig, die Erotik. Schreiben ohne Eros ist nicht zu denken.

SPIEGEL: Bedroht die politische Korrektheit die Freiheit der Kunst?

Rothmann: Die Freiheit der Kunst ist absolut, die kann nichts bedrohen. Die der Künstler hingegen ist fragil. Politische Korrektheit bringt bestenfalls tariflich geregelte Akademiekunst oder Sonntagsredner hervor. Es ist aber das Vorrecht der Kunst, über die Stränge zu schlagen. Sie ist in erster Linie Anarchismus.

SPIEGEL: War Ihnen die Bewunderung der Frau der Anstoß zum Schreiben?

Rothmann: Nein, der Anstoß war ein ganz anderer. Hinten auf den Jerry-Cotton-Heften meines Vaters gab es immer diese winzigen Anzeigen: Da wurden obskure Potenzmittel angepriesen oder Röntgenbrillen, mit denen man durch die Kleider der Frauen schauen konnte. Und für ein Schlankheitsmittel mit angeblich rapider Wirkung wurde mit dem warnenden Satz geworben: "Das ist das Schicksal aller Dicken, sie fallen um beim Blumenpflücken!" Das fand ich schon als Elf- oder Zwölfjähriger so entzückend, dass ich dachte: Wenn man so etwas Zauberhaftes mit Sprache machen kann, dann will ich eines Tages schreiben.

SPIEGEL: Herr Rothmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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