Bettina Röhl über Ulrike Meinhof und die RAF "Wir waren Ausstellungsstücke der Revolution"

Weihnachten fiel aus, die Kinder verwahrlosten, die Revolution war wichtiger: Bettina Röhl beschreibt die Zeit mit ihrer Mutter Ulrike Meinhof, bevor diese als RAF-Terroristin in den Untergrund ging.
Journalistin und Autorin Bettina Röhl

Journalistin und Autorin Bettina Röhl

Foto: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Frau Röhl, Ihre Eltern Ulrike Meinhof und Klaus Röhl waren in den Sechzigerjahren Journalisten, haben gemeinsam die linke Zeitschrift "Konkret" gemacht. Die beiden Eltern ließen sich Ende der Sechzigerjahre scheiden, weil Ihr Vater Ihre Mutter betrogen hat, Ihre Mutter gründete bald danach die terroristische Rote Armee Fraktion, genannt RAF. Lesen wir Ihr Buch richtig, wenn wir daraus schließen, die RAF hätte es nicht gegeben, wenn Ihre Mutter nicht so gekränkt vom Ehebruch gewesen wäre und sie sich in ihrer Mutterrolle wohler gefühlt hätte?

Röhl: Das würde ich nicht so sehen. Dieser Ehekrach meiner Eltern war für meine Mutter sicher ein ganz großes Thema, das sagt auch der Schriftsteller Peter Rühmkorf: Ulrike Meinhof war eine wahnsinnig gekränkte Frau. Rühmkorf wusste auch, wie sehr mein Vater Klaus Röhl in diese andere Frau verliebt war, mit der er heute noch zusammenlebt. Aber Rühmkorf sagte auch: Meinhof ist nun nicht die Einzige in der Menschheitsgeschichte, der so etwas passiert ist. Da kann man nicht gleich die ganze Welt anzünden. Meine Mutter wollte schon vorher die Revolution. Sie wollte als Kommunistin das System der Bundesrepublik bekämpfen, immer sprach sie vom System. Dann geht sie nach der Trennung 1968 nach Berlin, da war sie 33, und will bei der Studentenrevolte mitmischen, will dabei sein bei dem, was dort unter der Führung des sozialistischen Studentenbundes SDS, dem auch Rudi Dutschke angehört, schon in Gang gekommen ist.

Ehepaar Klaus Röhl, Ulrike Meinhof beim Hamburger Galopp-Derby 1963

Ehepaar Klaus Röhl, Ulrike Meinhof beim Hamburger Galopp-Derby 1963

Foto: PRIVATPHOTO RÖHL

SPIEGEL: Es ist interessant, wie Ihre Mutter den Hass auf ihren Ex-Mann mit ihren politischen Anliegen verknüpft. In Ihrem Buch veröffentlichen Sie einen Brief, in dem sie schreibt: "Wirklich - das einzige Mittel gegen die Angst ist der Hass. Wenn man sie wirklich hasst, wenn man sich wirklich darüber im Klaren ist, dass das die Fressen sind, die als GIs in Vietnam, Persien, Kambodscha, in den Negergettos, als Werkschutz die Politik des Imperialismus machen - dann kann man was gegen die Angst machen, sich scheiden lassen. Mein GI ist der Röhl. Und meine Angst."

Röhl: Wahnsinnig, dieser Brief. Ulrike Meinhof hat sich in einen Hass hineingesteigert. Die Ideologie der Kulturrevolution dehnte sie bis ins Privatleben aus.

Ausriss aus Meinhof-Brief von 1970

Ausriss aus Meinhof-Brief von 1970

SPIEGEL: Sie hat darauf bestanden, das Weihnachtsfest 1969, also das letzte Fest vor ihrem Weg in den Untergrund und den Terrorismus, ausfallen zu lassen. Sie zitieren ihren damaligen Lebenspartner Peter Homann damit, Ulrike Meinhof habe gesagt, er sei ein sentimentaler Bourgeois, der bei den Kindern ein falsches Gefühl von Gemeinsamkeit erzeugen wolle. Sie verbringen dann den Heiligabend ohne Baum, ohne Geschenke, ohne schönes Essen, in einer chaotischen Wohnung und reden darüber, dass man nicht Weihnachten feiern sollte.

Röhl: In der Kommune 2 in Berlin wurde auch der Weihnachtsbaum angezündet. Sie war mit Sicherheit nicht die Einzige, die gegen solche Konventionen verstoßen wollte, aber sie hat das übererfüllt.

SPIEGEL: In diesem Jahr wird, da sie sich zum 50. Mal jährt, überall an die 68er-Revolte erinnert. Sie sind überzeugt, dass die Bewegung der 68er heute falsch bewertet wird. Inwiefern?

Röhl: Die meisten Historiker, die über 68 etwas Wichtiges geschrieben haben, waren selber 68er. Das macht ihre Texte nicht falsch, das muss man aber wissen. Aber in Büchern, in Filmen, in der ganzen Verarbeitung, bis hin zu dem Eichinger-Film "Der Baader Meinhof Komplex", zeigt sich: Bei aller Kritik, die sie selbst an der Bewegung üben, schwelgen sie in den 68er-Mythen.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Röhl: Der Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 sei der Urknall gewesen, danach hätten sich alle radikalisieren müssen, so ungefähr haben wir das gelernt. Die Idee dahinter war, der Staat refaschisiere sich, die Polizei schieße wieder auf Studenten. Aber 2009 hat sich herausgestellt, dass der Schütze Karl-Heinz Kurras gar kein Nazi war, sondern ein Stasi-Mann Ost-Berlins. Dass er ein Mörder war, steht heute fest, und dass sein Fall damals von den Behörden falsch behandelt wurde, auch. Doch selbst wenn Kurras ein Nazi gewesen wäre, hätte nicht die Bundesrepublik Ohnesorg umgebracht, sondern ein einzelner Mensch. Bei einer gewalttätigen Studentendemonstration im April 1968 in München starben zwei Menschen, der eine wurde von einem Stein getroffen, der andere von einer Holzlatte. In beiden Fällen wahrscheinlich von Studenten. Meine Mutter sah diese Toten ganz taktisch, sie fuhr sogar nach München, um die dortigen Studenten zu beruhigen. Sie, und da war sie keinesfalls die Einzige, erklärte die Erschlagenen, um es so hart zu sagen, wie es ist, zu Kollateralschäden der Revolution. Der eine, Benno Ohnesorg, gilt als Rechtfertigung für alles, was folgte, und die anderen zählten nicht.

SPIEGEL: Diskreditiert dieser Umstand in Ihren Augen die ganze Bewegung, die doch, neben vielen falschen und gefährlichen Folgen, immerhin eine notwendige Auseinandersetzung mit der NS-Zeit herbeigeführt hat?

Röhl: Waren das wirklich die 68er? Die Auschwitzprozesse waren vorher. Wissen Sie, auch bei den Schüssen auf den Studentenführer Rudi Dutschke progagierten die Führer des SDS spontan, dass die Bundesrepublik oder der Springer-Verlag mitgeschossen hätten. Dabei war der Schütze ein Einzeltäter. An diesen Mythen hängen die 68er unwahrscheinlich fest, wir alle. Die Bewältigung der Nazivergangenheit spielte damals kaum eine Rolle. Es wurden nicht gegen Nazis Eier geworfen, sondern gegen das Amerika-Haus. Nicht die Nazis sollten weg, sondern die kleinbürgerliche Familie. Und vor allem das Kapital.

SPIEGEL: Dennoch spricht viel dafür, dass 1968 ein notwendiger Katalysator war, um ein liberaleres Deutschland zu schaffen.

Röhl: Das ist Quatsch. Die Reformen waren alle schon vorher eingeleitet: die Entnazifizierung, die Emanzipation der Frau, die Liberalisierung der Familien. Die 68er- Generation ist vielmehr die erste Nutznießerin der neuen Freiheiten. Wenn Sie in deren Biografien gucken, womit haben die sich beschäftigt, bevor sie 18 waren? Die sind ins Kino gegangen, haben Sport getrieben, waren Ski laufen. Die hatten eine unpolitische, glückliche Jugend in einer Wohlstandsgesellschaft mit wachsender Liberalität. Sie waren Nutznießer von mehr Taschengeld, der Pille, einem Plattenspieler zu Hause. Geknallt hat es, weil es bei den Jüngeren plötzlich eine neue Lässigkeit, ein Aufbruchgefühl gab. Die Älteren, die den Krieg erlebt hatten, denen Sparen, Ordnung und auch Autorität etwas bedeutete, kamen ihnen spießig vor.

SPIEGEL: Wenn man Ihnen folgt, gab es für die jungen Leute keinen Grund, gegen irgendetwas aufzustehen?

Röhl: Absolut keinen. Ich glaube, die Zeit war voller Energie. Es gab ja im Westen eine wahre Kulturexplosion, in der Musik, in der Mode. In Verkennung dessen, was in China geschah, vermischten die 68er diese fantastische Entwicklung im Westen mit der völkermörderischen chinesischen Kulturrevolution, die zum Vorbild gemacht wurde. Heute erklärt man nun, die 68er hätten gewissermaßen aus urpsychologischen Gründen gegen das Schweigen der Eltern nach der Nazizeit auf die Barrikaden gehen müssen.

SPIEGEL: Das klingt nicht, als ob Sie das glaubten.

Röhl: Natürlich nicht. Auch das ist ein gern gepflegter 68er-Mythos, um zu vertuschen, dass man Mao Zedong hinterhergelaufen war. Es gab in der älteren Generation eine Obrigkeitshörigkeit, das stimmt, aber die rührte aus dem Gefühl, das Leben könne ganz schnell zusammenbrechen. Die 68er hatten es doch viel besser. Sie hatten zehn Leben. Studentenrevolte, K-Gruppe, ein paar Häuser besetzen, danach fünf Jahre Bhagwan-Sekte, ein Studium beenden, dann noch mal Karriere in der Politik. So viele Chancen - die gab es vorher nicht, die gibt es auch heute nicht.

SPIEGEL: Der Kapitalismus hat eine Generation erschaffen, die dann gegen den Kapitalismus auf die Straße ging?

Röhl: Ja, die 68er-Vertreter wie Gerd Koenen und Götz Aly sprechen von einer unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Ihre selbstempfundene Leere haben die 68er mit Ideologien gefüllt, mit Karl Marx und Mao Zedong. Das ist der einzige Punkt, in dem ich der damaligen Bundesrepublik eine gewisse Schuld geben würde. Da war ein solcher Fortschritt und Schwung nach oben, aber es fehlte offenbar ein geistiger oder moralischer Überbau. Junge Leute wünschen sich Sinn. Und dann ist die Revolution zur Mode, zum Phantasma geworden.

SPIEGEL: Die ernsten Themen der 68er, die Verbrechen im Vietnamkrieg zum Beispiel, waren in Ihren Augen Moden?

Röhl: Niemand der 68er kannte sich wirklich mit Vietnam aus. Der vietnamesische Revolutionär Ho Chi Minh war ein Massenmörder. Der chinesische KP-Vorsitzende Mao Zedong war wohl der effektivste Massenmörder aller Zeiten. Und trotzdem haben die Leute auf den Straßen diese Namen geschrien. Sie haben sich zu sehr an der Kulturrevolution orientiert, an dieser Idee vom Neuen Menschen. Aber was ist der Neue Mensch? Niemand kannte ihn, niemand wusste, wie man ein Neuer Mensch wird.

SPIEGEL: Für manche ist Ihre Mutter eine Art Heilige der RAF. Sie widerlegen das Stück für Stück.

Röhl: Mein hauptsächliches Wissen habe ich aus Akten oder von Zeitzeugen, die ich interviewt habe, aber in dem Zeitraum, den ich in meinem Buch beschreibe, bin ich fünf bis elf Jahre alt, da habe ich auch Erinnerungen. Ich versuche anhand meiner Familienbiografie die Geschichte von 68 neu zu erzählen. Die Scheidungsakten und die Korrespondenz aus dem Gefängnis, aus der ich viel zitiere, waren bis heute unbekannt, da lasse ich meine Mutter selber sprechen. Man kann sie sympathisch finden oder nicht, manchmal lacht man auch. In einem Briefwechsel mit ihrem Anwalt Heinrich Hannover finde ich sie allerdings schwer auszuhalten. Von Reue keine Spur. Immerhin ist sie als Kopf der RAF an mehreren Morden und Mordversuchen beteiligt gewesen.

SPIEGEL: Und Ihr Vater?

Röhl: Mein Vater, der damals in der außerparlamentarischen Opposition als "Röhl, das Schwein" galt, ist mir durch die Akten immer sympathischer geworden. Er bemüht sich auf seine Weise um seine Ex und wirft meiner Mutter noch ein Auto hinterher, das war ihr dann natürlich auch nicht recht. Ihr Anwalt versucht, ihr die Kinder zuzuführen, aber selbst den zerlegt sie am Ende mit Hass. Ihre Pamphlete sind ideologisch, terroristisch, sie rechtfertigt Morde, aber trotzdem gibt es den Mythos der guten Terroristin, der Heiligen.

SPIEGEL: Also Ihre Mutter trennt sich 1968 von Ihrem Vater, sie zieht mit Ihnen und Ihrer Zwillingsschwester Regine nach Berlin, Sie sehen Ihren Vater noch hinter dem Wagen herlaufen. War Ihnen in dem Moment des Wegfahrens klar, dass das der Bruch zwischen Ihren Eltern war?

Zwillinge Bettina (l.) und Regine Röhl im Alter von neun Jahren um 1972

Zwillinge Bettina (l.) und Regine Röhl im Alter von neun Jahren um 1972

Foto: PRIVAT

Röhl: Nein, aber der Umzug nach Berlin war ein riesiges Kontrastprogramm. Wir waren in der Großstadt mit der Mutter allein, die in größter Geschwindigkeit, also in wenigen Monaten, eine Metamorphose machte, von einer Frau, die mit hochgesteckter Frisur auf Establishment-Partys geht, zur Ober-68erin, die alle Attitüden von 68 übererfüllt. Und diese Entwicklung hat sie auf ihre Wohnung und ihre Kinder übertragen. Ich war fünf und wollte meine hübschen Kleider behalten, ich habe diese Veränderung mit Händen und Füßen bekämpft, aber unsere Mutter hat meine Schwester und mich absichtlich verwahrlosen lassen. Insofern waren meine Schwester und ich Ausstellungsstücke der Revolution.

SPIEGEL: Sie haben als Grundschülerin morgens mit Ihrer Schwester vor dem Bett der Mutter gestanden und gebettelt, dass sie Frühstück macht und aufsteht.

Röhl: Meine Mutter und ihr Freund Homann haben - so seine Schilderung - jeden Abend diese Zweiliterflaschen Weißwein ausgetrunken, jede Nacht 40 Zigaretten Roth-Händle geraucht, dazu immer diese Diskussionen. Sie konnte nicht aufstehen.

SPIEGEL: Aber er konnte.

Röhl: Ja, er hatte einen Bezug zu Kindern. Er war nicht nur später mein Retter, sondern schon im Herbst 68. Er hat uns oft mit seiner Ente zur Schule gefahren, wir kamen trotzdem meist zu spät. Meine Mutter hat uns Kinder problematisiert, aber wenn ich irgendein Problem in der Schule hatte, dann war es das, dass es null Versorgung gab.

SPIEGEL: Sie hatten kein Schulbrot?

Röhl: Schulbrot? Wir kamen mit zerlöcherten Strumpfhosen, irgendwelchen dreckigen Nickis, die Haare nicht geschnitten oder gekämmt, die Zähne nicht geputzt. Und keine Schulsachen dabei. Meine Mutter lobt uns Kinder in einem Brief, den ich erst im Januar bekommen habe: "Ich bin momentan richtig stolz auf sie. Sie gingen heute zum Kindergeburtstag, und weder die Kleiderfrage noch die Geschenkfrage kam auf mich zu. Sie gingen verdreckt, wie sie dauernd rumlaufen. Sie nahmen eigene Sachen zum Schenken mit. Von Schulkameraden werden sie allerdings auch kaum mehr eingeladen."

SPIEGEL: Es gibt dieses berühmte Fernsehinterview mit Ihrer Mutter, bevor sie in den Untergrund gegangen ist. Da spricht sie viel von Kindern.

Röhl: Sie hat sich inszenieren wollen als jemand, der an der Welt zerbricht. Sie war eine Meisterin der Inszenierungen, sie wusste, wie Worte wirken, bis zum Schluss. Da darf man sie nicht unterschätzen. Der Titel meines Buches ist ein Zitat von ihr: "Die RAF hat euch lieb." Den Satz muss man erst mal bringen.

SPIEGEL: Sie schildern im Buch keine Szene, in der es einen Körperkontakt zwischen Ihrer Mutter und Ihnen gibt. War sie im Muttersein nicht angekommen?

Röhl: Ihr fehlte diese natürliche Leichtigkeit. Sie hat die Kinder als Erziehungsobjekte gesehen. Es ist skurril, dass eine Frau, die ihre Kinder von der RAF nach Sizilien verschleppen ließ und in ein palästinensisches Lager bringen lassen wollte, überall als besonders liebende Mutter empfunden wird.

Zeichnung der Baracken in Sizilien von Bettina Röhl 1970

Zeichnung der Baracken in Sizilien von Bettina Röhl 1970

Foto: PRIVAT

SPIEGEL: Sie war auch hart gegenüber Männern.

Röhl: Sie wollte die Radmuttern am Auto meines Vaters lösen lassen, um ihn umzubringen. Und in ihrer Zeit in Jordanien schweigt sie dazu, dass Peter Homann, der Mann, mit dem sie zusammengelebt hat, als Verräter erschossen werden soll; vielleicht hat sie sich sogar an diesem schrecklichen Plan, der dann misslang, beteiligt. Und wir Kinder wären doch vernichtet gewesen, wenn wir wirklich in einem palästinensischen Lager gelandet wären. Meinhof war die einzige Terroristin, die so hart gegen ihre nächsten Menschen vorgegangen ist.

SPIEGEL: Die RAF-Gründerin Gudrun Ensslin hat ihren kleinen Sohn auch weggegeben.

Röhl: Ja, zum Vater und zu Pflegeeltern, aber nicht mit solcher Aktivität. Es war schon Ulrike Meinhof, die die revolutionäre Energie hatte, sie wusste, dass eine Revolution nur mit Gewalt durchzusetzen ist, Andreas Baader und Gudrun Ensslin alleine hätten keine RAF zustandegebracht. Die RAF hatte durch Meinhof auch das beste Medienkonzept. Der Gefängnisausbruch Andreas Baaders war ja der Auftakt der RAF. Es war ein Mediensignal.

SPIEGEL: Bislang hieß es oft, Ihre Mutter sei spontan bei der Befreiung Baaders im Mai 1970 mit aus dem Fenster gesprungen. Sie sagen dagegen, es sei geplant gewesen.

Röhl: Ja.

SPIEGEL: Sind Sie sicher?

Journalistin Meinhof in Berlin 1970

Journalistin Meinhof in Berlin 1970

Foto: KLAUS MEHNER / BERLINPRESSESERVICES.DE

Röhl: Einige Zeitzeugen sehen das so, andere nicht. Aber wie war die Situation denn damals? Ulrike Meinhof nimmt ihren nächsten Filmjob beim WDR nicht an, sie führt ihren Lehrauftrag an der Universität nicht weiter, macht dieses Abschiedsvideo, daran sieht man, dass sie abschließt mit der Welt und das auch will. Meine Schwester hat gesehen, dass sie eine Waffe hatte, als sie zur sogenannten Baader-Befreiung ging. Meine Mutter hat, glaube ich, nicht mal die Miete für den Mai 1970 gezahlt.

SPIEGEL: Und es war auch klar, dass Sie und Ihre Schwester zu einer Bremer Familie kommen sollten. Dann brachten Freunde Ihrer Mutter Sie über die grüne Grenze bis nach Sizilien. Es waren lauter fremde Leute um Sie herum, Sie konnten nicht wissen, was als Nächstes passieren würde und ob diese Leute Sie nicht vielleicht in der nächsten Stadt aussetzen.

Röhl: Ich hatte Urvertrauen. Ich dachte, das sind Freundinnen meiner Mutter, die machen schon das Richtige. Als die uns dann in Sizilien zurückließen, mit einer Frau, die wir nicht kannten, die auch bitterlich weinte, weil sie ebenfalls zurückgelassen wurde, ohne Auto, ohne Geld, da habe ich schon gedacht: Was ist jetzt los?

SPIEGEL: Wovor haben Sie sich am meisten gefürchtet?

Kind Bettina Röhl 1970 im sizilianischen Lager

Kind Bettina Röhl 1970 im sizilianischen Lager

Foto: ECKHART SIEPMANN / PRIVAT

Röhl: Irgendwann hat man Angst, dass man sich nicht mehr an seine Eltern erinnert und dass man die Schule verpasst, so blöd das klingt, aber ich wusste, ich verlerne jetzt Lesen und Schreiben. Zum Schluss lebten wir mit Hippies, die sehr nett waren. Der Mann kellnerte in einem Restaurant, weil aus Berlin kein Geld mehr kam. Da war ich schon sehr froh, dass irgendwann Stefan Aust in dieses Restaurant kam.

SPIEGEL: Stefan Aust, später Chefredakteur des SPIEGEL und Autor des Standardwerks "Der Baader-Meinhof-Komplex", kannte Ihre Eltern aus seiner Zeit bei "Konkret", er wollte Sie zu Ihrem Vater zurückbringen. War er ein fremder Mann für Sie?

Röhl: Nein, das war Onkel Aust aus Papis Firma, der da stand mit seinem fröhlichen spitzbübischen Lachen und fragte: Na, Kinder, wollt ihr mitkommen? Ja, wollten wir. Da hat er uns eingesackt. Wir sind mit dem Zug von dort weg, und Aust hatte wirklich Angst vor der Rache der RAF. Das war auch nicht unberechtigt.

SPIEGEL: Sie sollten dann zu Ihrem Vater, den Ihre Mutter Ihnen gegenüber als Schwein dargestellt hatte. Hatten Sie davor Angst?

Röhl: Die Hippies, die ihn gar nicht kannten, sagten immer: Wenn ihr heult oder laut seid, dann kommt ihr zum Vater. Aust hat gesagt: Wenn ihr nicht zu eurem Vater könnt oder wollt, dann kommt ihr zu mir nach Stade, da habe ich ganz viele Pferde, da sind meine Eltern. Da waren wir beruhigt.

SPIEGEL: Die Fahndungsplakate nach den Terroristen der RAF haben die Erinnerungen einer ganzen Generation geprägt. Haben Sie sich geschämt, diese Mutter zu haben, die überall mit Plakaten gesucht wird?

Röhl: Eigenartigerweise nicht. Wir kamen in eine Schule in Hamburg-Blankenese, mein Vater war in Bestlaune, meine Oma war da und Emmi, die uns den Haushalt führte. Sie ist die Mutter des Liedermachers Wolf Biermann, eine Kommunistin. Da wollte natürlich mein Vater auch meine Mutter vorführen, denn sie konnte ja nichts dagegen haben, dass wir von einer Kommunistin miterzogen wurden.

SPIEGEL: War die Rückkehr in ein bürgerliches Leben schwierig?

Röhl: Nein, wir waren sofort akzeptiert. Ich erinnere mich an die tollsten Kindergeburtstage in den riesigen Gärten. Meine Schwester war sowieso die Coolste und der Star. Das war eine tolle Zeit. Und bei schlimmen Nachrichten auf den Titelseiten der Zeitungen ist mein Vater mit uns in Travemünde Rollschuh gefahren, bis der Tag vorbei war und die Zeitungen weg. Wir hatten eine unbeschwerte Schulzeit.

SPIEGEL: Im Ernst? Ihre Mutter war im Gefängnis und erhängte sich dann.

Röhl: Als meine Mutter gestorben ist - diese Zeit war nicht unbeschwert, das stimmt. Ich sage nur, die Schule hat uns den Weg zurück erleichtert. Es war, wie schon gesagt, insgesamt eine fantastische Zeit, die jeden mitriss. Die angeblich schlimmen bürgerlichen Leute aus Blankenese waren supertolerant. Da hat nicht einer gesagt, geh mal lieber nicht mit einem der Röhl-Zwillinge. Ein Freund hat später zu mir gesagt: "Ihr wart die Baader-Meinhof-Torten." So leicht ist das gewesen damals.

SPIEGEL: Heute schauen wir anders auf die Kriegskindergeneration, zu der auch Ihre Mutter gehört, die 1934 geboren wurde. Sehen Sie Ihre Mutter als einen durch den Krieg beschädigten Menschen?

Röhl: Nein.

SPIEGEL: Wenigstens als junge Waise? Sie verlor früh den Vater und mit 14 Jahren auch die Mutter.

Röhl: Das schon eher. Aber Oldenburg, wo meine Mutter nach der Flucht aus Jena landete, war heil. Meine Großmutter arbeitete dort als Lehrerin und machte ihren Doktor. Renate Riemeck, die auch zu dieser Frauenfamilie gehörte, seit meine Mutter fünf Jahre alt war, wurde die jüngste Professorin Deutschlands. Ich finde nicht, dass Meinhof ein schwereres Schicksal hatte als ihre ganze Generation.

Vater Röhl, Töchter Regine, Bettina (r.), 1972

Vater Röhl, Töchter Regine, Bettina (r.), 1972

SPIEGEL: Gleichwohl hatte sie, wie Peter Homann auch Ihnen gegenüber gesagt hat, etwas Melancholisches, tief Unglückliches.

Röhl: Das stimmt zu 100 Prozent, etwas Depressives, was aber auch einige mochten. Sie wirkte dadurch, das hat mir ein anderer Freund erzählt, verletzlich und dann auch sympathisch. Wenn jemand so erschöpft ist, eine gewisse Unsicherheit hat, aber auch riesigen Erfolg, das übt eine Anziehung aus. So sah es auch Peter Homann. Ich fand es angenehm, dass ein naher Mensch ein so warmes Licht auf sie wirft.

SPIEGEL: Wie ist Ihre Mutter, die Nähe kaum zulassen konnte, mit dem Diktat der freien Liebe umgegangen?

Röhl: Diese ganz schwere Depression ging bei ihr sicher auch in sexuelle Bereiche hinein. Meinhof will ihren Ex-Mann Röhl, ihren Ex-Freund Homann und die Kinder quasi umbringen. Da würde ich mal auf persönliche Probleme schließen, die das Intimste berühren. Weiter will ich nicht gehen, ich bin kein Psychologe. Aber völlig normal ist es nicht.

SPIEGEL: Warum fühlten sich kluge, akademische, linke Frauen, die sich mit Macht in Gruppenbeziehungen beschäftigt haben, von Machos angezogen? Andreas Baader faszinierte Ihre Mutter, den Röhl, einen Frauenhelden erster Güte, hatte sie sogar geheiratet.

Röhl: Mein Vater hatte auch etwas Begeisterndes. Er bringt Spaß und intellektuellen Witz ins Leben, hat eine Leichtigkeit, kümmert sich. Meine Eltern haben zehn Jahre lang ganz gut zusammengepasst, sie haben gemeinsam gearbeitet und waren gemeinsam erfolgreich. Sie war in ihn verliebt, vielleicht auch, weil er sie aus ihren Depressionen herausgerissen hat. Und sie hat die Stärke gehabt, ihn zu verlassen. Das hat ihn übrigens fertig gemacht. Er hat sich vorgestellt, er könne die Geliebte haben - und Frau und Kinder. Und Baader? Zeitzeugen sagen, dass die Mädchen reihenweise mit Männern ins Bett gegangen seien, wenn diese auf Revoluzzer gemacht hätten.

SPIEGEL: Ihre ältere Halbschwester hat Ihrem Vater gegenüber Missbrauchsvorwürfe erhoben und gesagt, er habe auch Sie missbraucht. Ihr Vater hat das übrigens bestritten.

Röhl: Ja, 2010 wurde ich gegen meinen Willen und ohne mein Zutun quasi als Opfer geoutet. Mein Vater hat sich an meiner Person festgehalten, als so eine Art Meinhof zwei. So habe ich es empfunden. Ich war als Tochter die ersehnte Ehefrau, die das Haus wieder anwärmen sollte. Und da sehe ich ansexualisierte Übergriffe eher als Vehikel, um diesen seelischen Bezug zu mir zu bekommen. Wenn er betrunken war, hat er auch Ulrike zu mir gesagt. Dominant waren für mich in dieser Zeit aber die Rettung durch ihn und dieses fantastische und anregende Leben zu Hause.

SPIEGEL: Wenn Ihr Vater in Ihnen die Ulrike erkannt hat, sehen Sie sie manchmal auch selber in sich?

Röhl: Nein, gar nicht. Ich empfinde mich als einen leichteren und glücklicheren Typ, meine Kindheit war schwerer als die meiner Mutter, objektiv. Vielleicht habe ich mehr Lust zu leben. Aber Menschen, die diese schweren Depressionen haben, können da nicht einfach heraus, das sehe ich auch.

SPIEGEL: Sie selbst werden auch psychologisiert - als Tochter einer RAF-Terroristin haben Sie bei "Tichys Einblick" geschrieben, einer rechtskonservativen Plattform. Ihre konservative Wende gilt als Abrechnung mit der Mutter.

Röhl: Ich habe keine Wende vollzogen. "Tichys Einblick" sehe ich als liberal-konservativ. Ich habe früher Rot-Grün gewählt, mit Überzeugung. Es waren meine Recherchen über Mao Zedong, über China und Vietnam, die meine Sicht auf 68 entmythologisiert haben. Ich bin bei vielen Themen immer noch links, ich bin zum Beispiel für den Mindestlohn. Und ich bin so konservativ wie die meisten erfolgreichen Linksliberalen, die ich kenne. Nur reden die anders, als sie leben. Mit Ulrike Meinhof haben meine politischen Überzeugungen nichts zu tun.

SPIEGEL: Nach 68 sei ein ganzes Land der RAF auf den Leim gegangen, sagen Sie. Wie meinen Sie das?

Röhl (M.) beim SPIEGEL-Gespräch mit den Redakteurinnen Cordula Meyer und Susanne Beyer in Hamburg

Röhl (M.) beim SPIEGEL-Gespräch mit den Redakteurinnen Cordula Meyer und Susanne Beyer in Hamburg

Foto: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

Röhl: Terror war irgendwie in. Das ist ein Gesellschaftsspiel geworden. Da gab es riesige Geschichten, im SPIEGEL, im "Stern", die RAF-Anwälte, die RAF-Sympathisanten, eine Story nach der anderen. Die meisten aus der Bewegung, die den Marsch durch die Institutionen angetreten hatten, die Lehrer, Richter, Journalisten, haben die RAF und die anderen extremen Gruppen konsumiert. Die haben revolutionieren lassen. Mit schönem Grusel. Das war wie eine Reality-Serie, jede Woche, immer mit echten Toten und echten Waffen, mit Entführungen und Hungerstreiks.

SPIEGEL: Hatten Sie Angst, selber Mutter zu werden, mit einer Terroristin als Mutter?

Röhl: Nein. Ich wollte schon mit 16 Mutter sein und bin es dann erst mit 45 geworden. Vielleicht weil ich mich mit einer Gesellschaft auseinandersetzen musste, die mir immer wieder ihren Meinhof-Mythos servierte.

SPIEGEL: Schmieren Sie jetzt besonders ambitionierte Schulbrote?

Röhl: Natürlich. Ich gehöre wahrscheinlich zu der schrecklichen Generation, die ihre Kinder zu sehr verwöhnt. Das ist der neue Zeitgeist, und dem ist man unterlegen, ob man jetzt Verwandte hat wie ich oder nicht.

SPIEGEL: Frau Röhl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

DER SPIEGEL
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