Rechter Kampfbegriff Wie das Gerücht vom "Bevölkerungsaustausch" in die Welt kam

Werbeplakate am Berliner Hauptbahnhof
Foto: Sean Gallup/Getty ImagesWenn man in diesen Tagen über die deutsch-französische Grenze bei Saarbrücken fährt und einige Tage später wieder zurück, schaut man mit ganz besonderer Aufmerksamkeit aus dem Zugfenster. Aber man entdeckt nichts, es herrscht die glorreiche Normalität des kleinen Grenzverkehrs. Keine wüsten Lager von Migrantenhorden, keine Massen, keine Krise. Und die Staatsmacht? Geht in deutsch-französischen Teams durch die Gänge des Zuges und bemüht sich, nicht immer nur Personen mit dunkler Hautfarbe zu kontrollieren. Und doch bestehen bezüglich des Zustands unserer Grenzen Sorgen. Oder geht es um etwas anderes?
In einem vornehm "Erklärung 2018" benannten Manifest bekunden Publizisten, Wissenschaftler und Bürger zwei Absichten: Sie warnen vor einer "Beschädigung" Deutschlands durch "illegale Masseneinwanderung" und unterstützen die Forderung nach "Wiederherstellung" der "rechtsstaatlichen Ordnung an den Grenzen unseres Landes".
Die Erklärung, deren praktische politische Forderung vage bleibt, suggeriert ein Bild: Fremde Massen schaden Deutschland, und niemand schützt das Recht. Diese Suggestion basiert auf dem derzeit wirkmächtigsten rechten Konzept, dem des Bevölkerungsaustauschs. Kein anderes Thema, kein anderes Bild entfaltet im Lager jenseits der politischen Mitte eine solche Dynamik - weder die Eurokrise noch die Ehe für alle. Schon ein flüchtiger Besuch einschlägiger Internetseiten zeigt, dass sich um diese Vorstellung einer "Umvolkung" alle selbst ernannten Retter des Abendlandes versammeln, Skandalautor Akif Pirinçci ist dabei, der AfD-Philosoph Marc Jongen und natürlich AfD-Chef Alexander Gauland selbst, der markig erklärt: "Der Bevölkerungsaustausch in Deutschland läuft auf Hochtouren!"
Das Konzept ist selbst ein Migrant. Ersonnen hat es der französische Schriftsteller Renaud Camus - der mit dem humanistischen Literaturnobelpreisträger Albert nur den Nachnamen gemein hat - schon 1996. Camus war da 50 Jahre alt, hatte eine bewegte, für seine Generation typische politische Biografie hinter sich. Er war im Mai 1968 bei den Vorkämpfern für die Schwulenrechte aktiv, nennt den großen Roland Barthes bis heute seinen Lehrer. Später gab er dem Sozialisten François Mitterrand seine Stimme, war dann an der Umweltbewegung interessiert. Und stets publizierte er Romane, Tagebücher, Bücher über Kunst und Musik.
Doch das entscheidende Erlebnis, so schildert er es, hatte mit großer Politik eigentlich gar nichts zu tun. Damals besuchte er das französische Departement Hérault in der Absicht, ein Buch über die mittelalterlichen Städte und Dörfer sowie die Kunstschätze der Region zu schreiben. Dabei ereignete sich eine Szene, die nicht besonders spektakulär war, aber dafür folgenreich: An einem sehr alten Wohnhaus in so einer mittelalterlichen Gasse öffneten sich die hölzernen Fensterläden, eine Dame schaute hinaus, recht grimmig, und diese Dame trug einen Schleier. Die Dame tat ihm nichts, schaute nach der Schilderung von Camus nur böse - heute möchte man bemerken, dass sie eine Vorahnung gehabt haben mag, dass der Besucher auch ihr nicht freundlich gesinnt bleiben würde. Camus war ab diesem Zeitpunkt überzeugt, dass Migration eigentlich eine Eroberung sei und dass hinter alldem ein großer Plan stehe. Bildungsbürger aus katholischen Familien wie er sollen ausgetauscht werden gegen Araber und Afrikaner. Helle Haut gegen dunkle. Weil Eliten es so wollen. Es wurde Camus' wichtigstes Werk und sein Lebensthema. Das Buch fand lange keinen deutschen Verlag. Einer der großen Wortführer der kleinen Identitären Bewegung, Martin Lichtmesz, übersetzte es. Auch Lichtmesz hat natürlich die "Erklärung 2018" unterschrieben.
Warum jemand so einen Austausch möchte, ja ob die These überhaupt stimmt - mit den Fragen lesender Zeitgenossen gibt sich Camus nicht ab. Als ihn während einer Diskussion der Soziologe Hervé Le Bras mit Statistiken und Fakten widerlegte - ein Bevölkerungsaustausch findet nicht statt, ist nicht geplant und auch nicht möglich -, wehrte sich Camus mit dem Hinweis, Johanna von Orléans habe ja auch nicht angegeben, wie viele englische Truppen im Lande seien.
Der Witz des Konzepts liegt in der emotionalen Überwältigung bei gleichzeitiger optischer Plausibilität: Letztlich kann jeder türkische Gemüsehändler, jeder Flüchtling und jeder brasilianische Tourist als Beleg für den anrollenden "Umvolkungsplan" gesehen werden. Camus spricht von der "Würde des Blicks" - seines eigenen natürlich. Er meint: Wenn er eine Eroberung durch dunkle Männer erkennt, dann findet auch eine statt. Dieser Begriff entlastet - man muss sich nicht mehr darum kümmern, wer die neuen Nachbarn sind, wie das Zusammenleben gelingen kann, man muss sich mit ihnen gar nicht weiter beschäftigen.
Es geht Camus und seinen Anhängern nicht um die kooperative Lösung eines Problems, sondern um die Begründung eines heroischen Widerstandsrechts. Camus sieht sich in der Nachfolge der Résistancekämpfer - nur sei die jetzige Besatzung Frankreichs durch Araber und Afrikaner halt schlimmer, denn es seien hundertmal mehr Besatzer im Land. Die Botschaft der Proponenten der These vom Bevölkerungsaustausch richtet sich gegen vage definierte Eliten im Inland. Die Spielregeln der Republik sind dort außer Kraft gesetzt, wo man sich auf ein überstaatliches, ein angeblich kulturelles, letztlich nur durch Hautfarbe begründetes Widerstandsrecht beruft. Es ist eine Kampfansage von nicht zu unterschätzender Brisanz, denn jemand, der in seiner Vorstellungswelt um alles kämpft, erlaubt sich auch alles.