Hilfe gegen Stress und Burn-out Buddhismus to go

SAP-Manager Bostelmann: "Wir verdienen auch Geld damit"
Foto: Winni Wintermeyer/ DER SPIEGELDas kennt man: Manager, die von Meeting zu Meeting eilen. Smartphones, die surren und brummen. E-Mails, die einlaufen, auflaufen, einer Antwort harren. Terminkalender, die überquellen. Zeitmanagement, das aus den Fugen gerät. Genervte, gestresste, getriebene Kollegen. Und über allem, thronend und drohend, die Büroseuche unserer Zeit: der Burn-out.
Das kennt man nicht: zehn Minuten Stille. Mitarbeiter, die in kleiner Runde auf dem Boden knien, schuhlos, in Socken und Strümpfen. Stille. Atem. Nichts. Nur Wahrnehmen. Nur da sein.
Beides gibt es bei Beiersdorf, dem Nivea-Konzern in Hamburg. Den Stress und den Druck und die Zeit, die nicht reicht. Und das Gegenteil. Das eine eigentlich immer, zu 99 Prozent. Das andere in geringer Dosis, jeden Mittwoch um 13 Uhr in Raum W1-0265, aber immerhin.
"Ich war am Ende", sagt Barbara Wentzel, eine der Meditierenden. Ein Jahr ist das her. Sie war 49 Jahre alt und wusste zum ersten Mal in ihrem Leben nicht weiter. Bis dahin war es nur aufwärtsgegangen. Sie und ihr Mann waren Erfolgsmenschen, ein Powerpaar mit Familiensinn, fast zu perfekt, um wahr zu sein. Sie hatten drei Kinder in die Welt gesetzt und Karriere gemacht. Sie als Managerin bei Beiersdorf, er als Geschäftsführer in der Schifffahrt. Ihr Leben war ein Leben am Limit, aber es war gut. Da kam das Schicksal.
Barbara Wentzels Mann erlitt einen Schlaganfall, muss seitdem gepflegt werden. Es folgten Operationen, stundenlang, seine Schädeldecke wurde geöffnet, wieder geschlossen. Barbara Wentzel verbrachte Tage in Krankenhäusern und wartete auf Nachrichten der Ärzte.
Ihr Leben kam erst wieder ins Lot, als ihr Chef, Vorstand bei Beiersdorf, seine Führungsleute in ein Meditationsprogramm schob. 140 Manager absolvierten acht Wochen lang diesen Kurs. Sie stiegen jeden Freitag für jeweils fünf Stunden aus dem Konzernalltag aus, übten sich in Atemtechniken, hörten in ihren Körper hinein, sinnierten über das Leben und versuchten, ihre Wahrnehmung zu schärfen. Die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu sehen. Die Bedürfnisse und Grenzen der anderen.
Es ist schwer zu beschreiben, was Barbara Wentzel ihr Leben zurückgab. "Wenn man die Erkenntnisse formuliert, sind es triviale Dinge, aber diese einfachen Wahrheiten ernst zu nehmen, wirklich zu leben, hat mich gerettet", sagt sie. Natürlich wusste sie auch vorher, dass es "besser ist, nur eine Sache zu machen, aber richtig, und nicht mehrere Dinge gleichzeitig, aber schlecht". Dass sie das Recht hat, "am Wochenende nicht auf meine Mails zu schauen". Dass Essen "mehr ist als Nahrungsaufnahme". Vor allem aber, "dass ich mir nicht mehr abverlangen kann, als ich mir abverlangen kann".
Achtsamkeit heißt das Programm, das die Leute bei Beiersdorf durchliefen. Achtsamkeit - es ist das Wort der Zeit. Und es hat schon als Wort den Vorteil, dass selbst jemand, der es zum ersten Mal hört, sofort ahnt, worum es geht, was dieses Wort verspricht. So wie in "Burn-out" alles Bedrohliche einer anstrengend gewordenen Welt mitschwingt, so atmet "Achtsamkeit" bereits alles, was fehlt und doch ersehnt wird.
Es geht um Dinge, die lange an allen möglichen Orten eine Rolle spielten, nur nicht im Job. Um Sinnsuche und Sinnfragen, um Meditation, Spiritualität und inneres Leid. Dinge, für die traditionell die Kirchen zuständig waren, Psychotherapeuten, Freunde und vielleicht der Barmann im Hotel. Aber bestimmt nicht der Chef.
Das Wort Achtsamkeit ist eine Übersetzung aus der buddhistischen Literatur: Satipatthana oder Smrti-Upasthana. Es geht darum, bewusst die eigenen Empfindungen wahrzunehmen; das, was im Körper vorgeht und sich im Bewusstsein abspielt. Im Zentrum steht die Wahrnehmung des Einatmens und Ausatmens. Man kann es Meditation nennen, wenn man mag.
Buddhisten suchen den Weg zur Erleuchtung. Die verwestlichte Variante der Achtsamkeit ist eine radikal verweltlichte. Transzendenz spielt keine Rolle. Ziel ist es, besser mit Stress oder auch Schmerzen und Krankheiten umzugehen.
Ende der Siebziger entwickelte der US-Mediziner Jon Kabat-Zinn einen achtwöchigen Kurs mit verschiedenen Achtsamkeitsübungen, der bis heute unter dem Label MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) praktiziert wird.
Video-Animation: Wenn Gedanken wandern
Der Philosoph Thomas Metzinger gibt vier Tipps für mehr Konzentration.
Die Konzentration auf Atem und Selbstwahrnehmung soll helfen, aus Denkmustern und emotionalen Verhaltensrastern auszubrechen. Die Idee ist: Wenn es dem Einzelnen gelingt, wertfrei wahrzunehmen, wie er auf bestimmte Situationen reagiert und warum, dann ist er in der Lage, den emotionalen Autopiloten auszuschalten, der ihn sonst in die immer gleichen Stressschleifen führt.
Es ist kein Zufall, dass diese Mode gerade jetzt Hochkonjunktur hat. Stress ist die Zivilisations- und Berufskrankheit schlechthin. Einer repräsentativen Studie der Techniker Krankenkasse zufolge fühlen sich rund zwei Drittel der befragten Menschen manchmal oder häufig gestresst. Von 15 Fehltagen im Job pro Kopf und Jahr entfallen demnach zweieinhalb auf psychische Erkrankungen.
Die Vermischung von Arbeit und Privatleben verkürzt die Entspannungsphasen - oder zerstört sie ganz. Wer auch am Wochenende alle zwei Stunden nachsieht, ob der Chef eine Mail geschrieben hat, kann niemals zur Ruhe kommen. Wer ständig erreichbar ist, hat niemals Freizeit. Kein Wunder also, dass eine Technik gefragt ist, die dem gehetzten Büromenschen unserer Zeit verspricht, dass er wieder Distanz bringen kann zwischen Privat- und Berufsleben, zwischen das Ich und die Firma.
Der Achtsamkeitsboom, die Besinnung aufs Innere, liegt auch gesellschaftlich im Trend. Es gibt neue Zeitschriften zum Thema und Bücher, die beschreiben, wie man "achtsam reden", "achtsam kochen", "achtsam gärtnern" und "achtsam putzen" kann. Malbücher für Erwachsene sind ein erfolgreiches Geschäft. Die Kurslisten der Weiterbildungsinstitute quellen über vor Achtsamkeitsprogrammen.
Erstaunlich ist, dass auch Unternehmen diesen eigenartig entkernten Buddhismus für sich entdecken. Nicht nur Beiersdorf. Deutsche Konzerne von SAP und RWE bis Osram und Bosch lassen ihre Manager meditieren, schicken ihre Angestellten in Achtsamkeitskurse. Atemübungen, Body-Scan und Yoga gehören in vielen Unternehmen so selbstverständlich zum Gesundheitsprogramm wie Fitnesskurse und Salatbuffet.
Unternehmenslenker wie BMW-Aufsichtsratschef Norbert Reithofer bekennen sich zu ihrer Meditationspraxis. Der Mediziner Kabat-Zinn ist seit einigen Jahren regelmäßiger Gast auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, wo er mit der Führungselite das Nichtstun übt. Und seit der ehemalige Google-Entwickler Chade-Meng Tan ein Buch über Achtsamkeit geschrieben hat, gilt die uralte mönchische Psychotechnik in den Chefetagen als angesagte Methode, um so kreativ und hip zu werden wie die mentalen Vorturner im Silicon Valley. "Search Inside Yourself" heißt das Werk von Tan, und egal, was man davon halten mag, unterhaltsam ist es allemal: wie er etwa erklärt, dass man auch meditieren darf, wenn man partout keine Lust hat, sich im Lotussitz zu verknoten, und als Rationalist nicht einmal auf Erleuchtung hofft.
Wie bei Google
Es ist ein Freitag in Berlin, als rund 50 Berufstätige versuchen, die Welt um sich herum zu vergessen. Sie sitzen in einem Konferenzraum der Hauptstadtrepräsentanz von Google, knallbunte Teppichfliesen, Blick auf den Boulevard Unter den Linden, aber all das sehen sie gerade nicht. Eine knappe halbe Stunde sitzen sie da, die Augen halb geschlossen, die Hände auf den Oberschenkeln. Nehmen sich wahr, ihren Körper. Später hören sie ihrem Gegenüber drei Minuten lang zu, ohne zu unterbrechen. Drei Minuten nichts als zuhören - eine Ewigkeit.
Die verwestlichte Variante ist eine radikal verweltlichte. Transzendenz spielt keine Rolle.
Der Workshop dauert zwei Tage. Konzipiert hat ihn Chade-Meng Tan. Ein Dutzend Mitarbeiter von Google nehmen teil, ein paar Selbstständige, eine Frau von der Europäischen Zentralbank.
Die Google-Version der Achtsamkeit hat ein Ziel. Sie soll aus unsensiblen Chefs mitfühlende Führungskräfte machen und aus gestressten Mitarbeitern kreativere, leistungsfähigere, kurz: erfolgreichere Menschen.
Ein Teilnehmer, der in der Pause meist am Fenster steht und telefoniert, nach eigener Aussage Unternehmensberater und auf Effizienz gepolt, fragt, was denn der Grenznutzen der Übungen sei. Wann habe er genug meditiert, sodass ein Weitermachen nicht mehr viel bringe?
Wer das Seminar verfolgt, hat den Verdacht, dass Achtsamkeit auch deshalb boomt, weil sie auf eine verunsicherte Gesellschaft trifft. Auf Führungskräfte, die es notwendig finden, ihre Gefühle einzuhegen. Auf Mitarbeiter, die sich einerseits für defizitär halten und andererseits für überlegen, weil sie beschlossen haben, an sich zu arbeiten. Aus dem Einüben des Loslassens wird so ein Kult der Selbstoptimierung.
"Ich habe in letzter Zeit das Tagebuchschreiben vernachlässigt", bekennt ein Teilnehmer am Ende des ersten Tages, als wäre er ein Schüler, der seine Hausaufgaben vergessen hat.
Und allmählich taucht eine Frage auf. Eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist: Was genau löst diesen Hype um die Achtsamkeit eigentlich aus? Anders gefragt: Ist er eine Gegenbewegung zur allgemeinen Beschleunigung, zum steigenden Druck, perfekt zu sein, oder - im Gegenteil - die Perfektion der Perfektion, eine Technik, die es dem Einzelnen ermöglichen soll, noch mehr Beschleunigung zu ertragen?

Meditationsraum bei Facebook: Distanz bringen zwischen das Ich und die Firma
Foto: Brian FinkeAuf die Spitze getrieben: Gibt das Achtsamkeitstraining den Menschen das Menschliche zurück - oder schleift es ihnen den letzten Rest davon ab, das Unperfekte, Zerrissene und Tragische, das Menschsein überhaupt erst interessant macht?
Peter Bostelmann setzt sich berufsmäßig mit solchen Fragen auseinander. Er ist "Director Global Mindfulness Practice" beim Softwareunternehmen SAP und hat als solcher eine der größten Achtsamkeitsbewegungen in der Konzernwelt angestoßen. 3500 SAP-Mitarbeiter haben auf seine Initiative hin einen zweitägigen Meditationskurs absolviert. 5500 stehen auf einer Warteliste.
Von Bostelmann kann man lernen, dass man Achtsamkeit lieber als Schlüssel zum Erfolg anpreist - und nicht als Sozialleistung für Zurückgebliebene, wenn man sie denn verkaufen will. Und dass es hilft, ihre Wirkung zu messen. So haben er und sein Team herausgefunden, dass SAPler, die das Seminar besucht haben, seltener krank sind als ihre Kollegen ohne Meditationserfahrung. Weil außerdem das Engagement der Mitarbeiter gestiegen sei, "verdienen wir auch Geld damit", sagt Bostelmann. Der Deutsche lebt seit Jahren im Silicon Valley, wo er lange internationale Softwareprojekte koordinierte. Seine damalige Freundin brachte ihn zur Meditation. "Es tat mir gut. Du hast auf einmal die Wahl, ob du besonnen oder kopflos reagierst", sagt Bostelmann.
Nur mit seinen Kollegen sprach er nicht darüber. Wenn er in Achtsamkeitsklausur ging, erzählte er etwas von Wanderurlauben. Erst nachdem er das Buch von Google-Mann Tan gelesen hatte, traute er sich, ein Seminar für SAP-Mitarbeiter in Kalifornien anzubieten.
Anfangs stieß er auf Skepsis. Als er einer Managerin von dem Kurs erzählte, winkte sie ab. Auf so ein Hippie-Zeugs habe sie keine Lust. Er hakte nach: Und wenn sie nicht meditiere, sondern ein mentales Training mache? Die Managerin willigte ein. Und Bostelmann lernte, dass die Wortwahl entscheidend ist.
Und daran hält er sich bis heute. Achtsamkeitsseminare deklariert SAP grundsätzlich nicht als Gesundheits- oder Anti-Stress-Prävention, sondern als "Selbstentwicklungsprogramme". "Viele Leistungsträger würden nie ein Anti-Stress-Seminar besuchen", sagt Bostelmann. Sonst würden sie ja zugeben, gestresst zu sein.
Natürlich hängt es auch mit der Unternehmenskultur zusammen, ob sich jemand auf diese Art der Weiterbildung einlassen mag. Wie offen sie ist, wie viel Schwäche man zeigen darf.
Immer geht es um den Wunsch, auszusteigen. Oder zumindest vom Ausstieg zu träumen.
Bei Beiersdorf sei es auch darum gegangen, wie man mit dem Geschwindigkeitsdruck umgehe, wo Überforderung anfange und was es bedeute, im Hamsterrad der stetig wachsenden Anforderungen zu laufen, erzählt Barbara Wentzel. Außerhalb des Unternehmens hätte ein Achtsamkeitskurs nicht halb so viel gebracht, sagt sie. Es gehe ja nicht nur darum, sich selbst zu verändern, sondern auch das Unternehmen - mit manchmal kleinen, aber effektiven Maßnahmen.
In seinem Bereich, berichtet Vorstand Ralph Gusko, der das Achtsamkeitsprogramm initiierte, habe man erst durch die Kurse bemerkt, wie viel Zeit durch Unachtsamkeit verloren gehe. Ein typisches Beispiel seien Meetings. "Bei uns war es so wie in vielen anderen Konzernen. Jeder hetzte von einem Meeting zum anderen. Und weil viele Meetings länger dauerten als geplant, kam jeder andauernd zu spät und musste erst einmal seine Mails checken."
Heute beginnen alle Meetings in seinem Bereich pünktlich zur vollen Stunde und sind auf 45 Minuten begrenzt, damit vor jedem Treffen eine Viertelstunde bleibt, um Mails zu lesen, zu telefonieren, schnell etwas zu organisieren. "Die Meetings sind seitdem konzentrierter und weniger frustrierend", sagt Gusko. Der Freitag wurde gar komplett zum meetingfreien Tag ausgerufen.
Gusko hat den Achtsamkeitskurs auch für sich persönlich als gewinnbringend erlebt. "Auch wenn ich nicht mit allem etwas anfangen konnte." Er gehe gern achtsam spazieren. Er meditiere gern im Sitzen. Aber im Gehen zu meditieren - "das ist nicht mein Ding".
Bei Beiersdorf ließen sie die Kurse wissenschaftlich begleiten. Sie unternahmen alles, um nicht den Anschein zu erwecken, esoterische Spinner zu sein. Die Teilnehmer konnten sich sogar Blut abnehmen lassen, um den Nachweis erbringen zu lassen, dass sich ihr Stresslevel gesenkt habe.
Überzeugender als diese Objektivitätsklimmzüge ist letzten Endes jedoch die Selbstironie, mit der Barbara Wentzel und ihre Kollegen an die Aufgabe herangehen, eine neue Kultur im Unternehmen zu verankern. Sie gründeten eine Arbeitsgruppe und nannten sie: "Task Force Achtsamkeit".
Alltagsfluchten
Die andere Achtsamkeitswelle, die durch das Land rollt, hat weniger mit Leistungssteigerung und Effizienz zu tun. Sie ist weniger elitär, sondern eher etwas trutschig. Aber sie zeigt vielleicht am besten, was den meisten Menschen fehlt in ihrem Alltag, ihrer Arbeit, ihrem Leben.

Ehemaliger Google-Entwickler Tan: Kult der Selbstoptimierung
Es ist eine Heimwerkerachtsamkeit, die nach selbst gemachter Marmelade und handgefertigten Ledertaschen duftet. In der erwachsene Menschen Wimpelketten für ihre Wohnung basteln, ihre Gedanken auf "Erinnerungskärtchen" schreiben und Malbücher mit Buntstiften kolorieren.
Es ist die Welt von "Flow", der Zeitschrift fürs "Leben im Hier und Jetzt". Mehr als 100.000 Exemplare verkauft der Verlag Gruner+Jahr im Schnitt pro Ausgabe, was ziemlich gut ist für ein Heft, das man dort ursprünglich für ein Nischenmagazin hielt. 90 Prozent der Leserschaft sind weiblich.
Der Ton der Texte ist freundlich, die Illustrationen sind pastellfarben, der Inhalt kündet von der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Berichte über Frauen, die ihren Job gekündigt haben, um ein Café zu eröffnen, gibt es in vielen Ausgaben. Und für alle Leserinnen, die doch im Trott hängen bleiben, findet sich hübsches Geschenkpapier zum Heraustrennen.
Was diesen Kleinkram zu einem solchen Erfolg macht? "Es sind Dinge, bei denen ich eines nach dem anderen machen kann", sagt Chefredakteurin Sinja Schütte. "So, wie wenn ich einen Apfelkuchen backe. Ich bin dann Herr über den Prozess, ich habe die Kontrolle."
Kontrolle. Die scheint wichtig zu sein in einer Welt, die zu entgleiten scheint. Digital. Ökonomisch. Politisch. "Steigerungsspiel" nennt der Soziologe Hartmut Rosa das dominierende Gefühl unserer Zeit. "Damit wir im nächsten Jahr noch denselben Platz in der Welt haben, müssen wir ständig zulegen", sagt Rosa. Die Wirtschaft müsse wachsen, der Einzelne immer schneller laufen.
Und immer geht es um den Wunsch, auszusteigen - wenigstens für kurze Zeit. Oder zumindest vom Ausstieg zu träumen. Die Botschaft von "Flow" ist ja auch: Nicht jeder muss seinen Job kündigen oder auf den Bauernhof ziehen. Für die kleine Alltagsflucht reicht es, auf dem Balkon Tomaten anzubauen. Oder Mandalas auszumalen.
"Momentan erfährt die Achtsamkeitsidee eine beunruhigende Ökonomisierung."
Und das ist nicht bloß das Empfinden einer esoterischen Randgruppe. Soziologe Rosa nennt die Konjunktur der Achtsamkeit gar eine "neue soziale Bewegung".
Aber wie passt das zusammen? Einerseits Optimierungsmittel, um tolle Leute noch toller zu machen. Andererseits Wundpflaster für alle, denen jetzt schon alles zu schnell geht. Ist Achtsamkeit am Ende nur ein Marketingphänomen? Ein Schlagwort, unter dem sich eine Menge verschiedene Angebote bündeln lassen?
Dabei liegen die Ursprünge der Achtsamkeit im Mönchtum, in einer jahrhundertealten spirituellen Bewegung, die es im Buddhismus wie im Christentum gibt - und die vor allem eins war: eine ebenso stille wie wirkungsvolle Provokation des Establishments.
Man muss ein bisschen suchen, um zu Jörg Andrees Elten zu gelangen. An der Weggabelung mit dem Briefkasten links, danach einen Kiesweg entlang. Schließlich hat man sein Landhaus erreicht, anderthalb Stunden von Hamburg entfernt. Draußen gackern Gänse, zur Begrüßung bietet Elten selbst gebackenen Pflaumenkuchen an. Er ist jetzt 89 Jahre alt.
In seinem ersten Leben war Elten Auslandskorrespondent für den "Stern" und berichtete über die Krisen der Welt. Er lebte in einem luxoriösen Apartment in Kairo, vergnügte sich auf Partys und trug italienische Maßanzüge. Ein Leben wie im Rausch.
Nicht für Elten. Mit Ende vierzig, nach einer Scheidung, war er depressiv und verzweifelt. "Immer bohrender die Frage nach dem Sinn dieses Lebens, um das mich viele beneideten", schrieb Elten später. Während einer Reportagereise durch Indien besuchte er die Kommune des Gurus und Sektenbegründers Bhagwan, der sich später Osho nannte. Elten war fasziniert. Er kündigte seinen Job beim "Stern", zog in die Kommune und verschrieb sich Achtsamkeit und Meditation.
Was er dort erlebte, hatte mit der Wohlfühlachtsamkeit von heute nichts gemeinsam. Es war der totale Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft.

"Flow"-Chefredakteurin Schütte: Erinnerungskärtchen und Malbücher
Foto: Patrick Runte/ DER SPIEGELIn sogenannten Begegnungsseminaren verprügelten und terrorisierten die Bewohner einander. Ziel war es, das eigene Ego zu zertrümmern und sich ganz dem Meister hinzugeben. Elten erlebte im "Ashram" mehrere psychische Zusammenbrüche. Er hatte mit so vielen Frauen Sex, dass er sich am Ende nur noch schwer an die Zahl erinnern konnte. Bhagwan hielt monogame Beziehungen für eine gesellschaftliche Konvention, die es zu brechen galt.
Nach seiner Rückkehr 1979 schrieb Elten den Bestseller "Ganz entspannt im Hier und Jetzt". Das Buch machte Bhagwan in Deutschland bekannt und löste die erste Achtsamkeitswelle aus. Hunderte, vielleicht Tausende junge Deutsche schlossen sich nach der Lektüre der Bhagwan-Sekte an. Es waren Aussteiger, die sich zu Außenseitern machten und ihre bürgerliche Existenz wegwarfen. Es ging um alles. Um Protest. Um die große Alternative zum Bestehenden. Das ist der Unterschied zu heute.
Die Radikalität der Bhagwan-Bewegung ging bis ins Selbstzerstörerische, Sektenhafte, Kranke. Spätestens bei der Übersiedlung des Meisters und seiner Jünger in die USA geriet alles außer Kontrolle, implodierte die Gemeinschaft an ihren inneren Widersprüchen. Bhagwan predigte Armut und besaß Dutzende Rolls-Royce; er geißelte den Kapitalismus, war aber geschickt darin, reichen Gönnern deren Kapital abzuschwatzen; er redete von Befreiung und organisierte ein System der spirituellen Knechtschaft und Überwachung.
Sein Beispiel zeigt, dass man unter dem Label Achtsamkeit ziemlich unterschiedliche Dinge verpacken kann. Bhagwan formte daraus eine fragwürdige zivilisationskritische Aussteigersekte. Die aktuelle Bewegung bedient sich bei den Elementen, die marktgängig und leicht zu konsumieren sind, und macht daraus eine Achtsamkeit light, einen Buddhismus to go.
Gemeinsam sind der alten und der neuen Achtsamkeit allerdings die Beweggründe der Sinnsuchenden. Schon damals waren es vor allem Bildungsbürger - Lehrerinnen, Anwälte, Psychologiestudentinnen -, die zu Bhagwan pilgerten, viele von ihnen überfordert und abgestoßen vom Konsum- und Leistungsdenken im Westen. "Diese Fragen haben von ihrer Aktualität nichts verloren, sie bestehen ja nach wie vor", sagt Elten, der heute gemeinsam mit seiner Frau Meditations- und Schreibseminare leitet. "Heute ist viel von Effizienzmaximierung die Rede", sagt Elten, "aber wenn Achtsamkeit darauf reduziert wird, die Karriere zu fördern, dann greift das zu kurz."
Irgendetwas passt da nicht zusammen, findet auch der Psychologe Paul Grossman. Er ist Forschungsleiter der Abteilung für Psychosomatik und Innere Medizin der Universitätsklinik Basel und forscht seit vielen Jahren zum therapeutischen Einsatz von Meditation.
Ursprünglich sei Achtsamkeit eine Haltung, die untrennbar mit ethischen Werten wie Mitgefühl, Wohlwollen, Großzügigkeit und Mut verbunden sei. "Aber momentan erfährt die Idee eine beunruhigende Ökonomisierung", sagt Grossman, "Achtsamkeit wird immer öfter benutzt, um Geld zu verdienen. Es gibt teure Kongresse und fragwürdige Ausbildungsprogramme für Coaches. Der nachgewiesene Effekt der Achtsamkeit wird dabei häufig überschätzt."

Bhagwan-Anhänger Elten: Das eigene Ego zertrümmern
Foto: Patrick Runte/ DER SPIEGELDie Provokation
Andererseits kann die uralte Frage nach dem Sinn des Schuftens und Geldscheffelns auch heute noch ihre subversive Kraft entfalten, ist die Provokation, die in der spirituellen Technik verborgen ist, bis heute wirksam, wie Helmut Lind Anfang des Jahres erfuhr.
Der Vorstandsvorsitzende der Sparda Bank München hatte mal wieder eines seiner Seminare geleitet, in denen er mit seinen Mitarbeitern über den Sinn des Lebens und ihrer Arbeit debattiert. Lind muss sich deswegen ohnehin einiges anhören. Ein Bankchef, der sich einmal im Monat für zwei Tage ausklinkt und mit den Angestellten Meditieren übt, passt nicht ins Bild der Finanzbranche. Und nun das: Zwei Teilnehmerinnen, Mitte zwanzig und mit hoffnungsvollen Karriereaussichten, reichten ihre Kündigung ein. Der Kurs habe ihnen die Augen geöffnet, erklärten sie. Der Job bei der Bank erfülle sie nicht. Sie hätten ihn ohnehin nur aus Sicherheitsgründen gemacht.
Lind war lange Zeit selbst ein überzeugter Karrierist. Er stand um 4.30 Uhr morgens auf, um noch vor dem Büro sein Sportprogramm durchzuziehen, und erarbeitete sich den Ruf eines knallharten Optimierers. "Ich war ein Analphabet der Gefühle", sagt Lind heute.
Irgendwann merkte er, wie unglücklich er war, wie wenig ihn sein beruflicher Erfolg erfüllte. Lind fing an, sich mit der Achtsamkeitsphilosophie zu beschäftigen, er nahm Kontakt zu "Coaches, Therapeuten und Heilern" auf. Und beschloss, ein neues Betriebssystem zu installieren. Nicht nur in seinem eigenen Leben, sondern auch in der Bank.
Lind setzte durch, dass das Geld der Kunden nicht mehr in Spekulationen mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln angelegt wurde. Er gab vor, seine Mitarbeiter nicht allein nach ihrer Leistung zu beurteilen, sondern ihre "Stärken und Leidenschaften zu erkennen und zu fördern", wie er sagt. Schließlich verordnete er allen 735 Angestellten ein zweitägiges Achtsamkeitsseminar. Dort sollen sie den Ausgang aus dem Hamsterrad finden. Und wenn sie danach kündigen? Ist das in Ordnung, findet Lind. Und so fiel auch seine Reaktion aus, als die zwei Frauen ausstiegen, weil ihnen eine Karriere in seinem Laden nicht mehr erstrebenswert erschien: Lind freute sich.
Es ist und bleibt ein Widerspruch, wenn ausgerechnet in den Unternehmen Achtsamkeit gelehrt wird, zumindest eine innere Spannung. Da wird eine Lehre, die davon ausgeht, dass es nicht Leistung ist, die den Menschen ausmacht, so weit entkernt, dass sie in ein Umfeld passt, in dem es zu 99 Prozent um nichts anderes geht als Leistung.
Doch in der Spannung wird das ganze interessant. Gerade in den Unternehmen. Gerade in einer durchökonomisierten Gesellschaft, in der es kaum noch vernehmbare Gegenangebote zu den Werten und Maßstäben, zur Rationalität der Wirtschaft gibt. Fast scheint es, als bauten sich die Firmen ihre eigene innere Dialektik, wenn schon von außen keine Provokationen mehr kommen.
Wenn niemand mehr das Höher, Schneller, Weiter der Unternehmen infrage stellt, dann tun es die Unternehmen eben selbst. Wenn niemand mehr das Ineinanderfließen von Privatleben und Beruf infrage stellt, dann tun es die Dauer-Erreichbaren eben selbst. Wenn niemand mehr Karriere infrage stellt, dann tun es die Karrieristen eben selbst.
Der Achtsamkeitstrainer Paul Kohtes, einer der gut bezahlten der Szene, sieht Achtsamkeit dialektisch. Sie sei ein Gegengewicht zur Leistungsgesellschaft und zugleich ein Weg, besser mit ihr klarzukommen. "Viele Teilnehmer haben nach den Kursen den Impuls: Wenn ich den Irrsinn hier sehe, haue ich ab", sagt Kohtes, "aber es gibt nur wenige, die damit glücklich werden. Deshalb beschwöre ich alle: Es lohnt sich, im System zu wirken, statt wegzulaufen."
Doch um diesen Punkt zu erreichen, braucht es erst einmal die Provokation, die den Kern all dieser Techniken ausmacht. Und das bedeutet: Abstand gewinnen vom Alltag und den alten Mustern, ganz auf sich hören und fragen: Ist da noch was?
"Ich habe gemerkt, dass in meinem Inneren nur ein Vakuum war", beschreibt Jörg Andrees Elten diesen Punkt in seinem Leben. "Das Vakuum habe ich zugeschüttet mit Erfolg, Geld, Entertainment, Status. Aber irgendwann brachte das nichts mehr. Mein Gefühl war: Das Leben wird immer teurer und immer anstrengender - für was eigentlich?"