Essay Keine Angst!

Warum die anderen Parteien von den Piraten lernen müssen.
Von Constanze Kurz

Sie müssen früher auf den politischen Prüfstand, als sie es selbst vermutet hatten: Es scheint nicht unrealistisch, dass in wenigen Wochen in vier deutschen Landesparlamenten Piraten-Abgeordnete Platz nehmen werden. In den Sonntagsfragen deklassieren die Neulinge die FDP bei weitem und landen bei Werten, die man von Linkspartei oder Grünen gewöhnt ist. Die Vergleiche mit dem Entstehen der grünen Bewegung und deren Einzug in die Volksvertretungen hinken nicht nur bei der Zeitspanne, die eine Idee wachsen muss, ehe sich ihr vielleicht immer mehr Menschen anschließen, sondern vor allem beim gedanklichen Unterbau. Welcher Art ist das prinzipielle Umdenken, das Piraten eint und ihnen die Kraft geben könnte, immer mehr Mitstreiter zu finden?

Die Piraten sind in ihrem Kern technologiebejahend, besonders bei der innerparteilichen Meinungsfindung. Eine Vielzahl von Mailing-Listen, Wikis, Chat-, Internettelefonie- und Social-Media-Kanälen wird für Austausch, Debatte und Streit genutzt. Die womöglich für die Entwicklung der politischen Kultur folgenreichste Technik ist aber ein auf den ersten Blick wenig einladendes System namens "Liquid Feedback".

Die Idee dahinter beruht auf der Erkenntnis, dass die alten Methoden innerparteilicher Meinungsbildung kein Gefühl von Teilhabe und Gestaltbarkeit mehr erzeugen. Das System aus Regionalgliederungen, Delegiertenkonferenzen, Kungelrunden, Netzwerken und Kommissionen verhindert, dass innovative Ansätze diskutiert werden oder sich gar durchsetzen.

Die Auswüchse der parlamentarischen Demokratie, die Politiker und Wähler einander entfremden, sind offenkundig: Statt über Inhalte wird über Parteitaktik und Personen gestritten. Die Sprache gleicht zuweilen der in schlecht synchronisierten Filmen. Gute Ideen werden zu oft abgeschossen und begraben, manchmal gar nicht erst diskutiert, weil sie vom falschen Landesverband oder der falschen Person geäußert wurden oder innerparteilichen Interessen entgegenstehen.

Proporzarchitekturen, die Machtgefüge abbilden, prägen den politischen Alltag. Entsprechend intellektuell und handwerklich dürftig ist die aktuelle Realpolitik. Spitzenkräfte haben schon lange keine Zeit mehr zum Durchdringen eines Themas. Regierende werden nicht nur durch Gefälligkeiten der Lobbyisten eingefangen und beeinflusst. Oft genug ist es schlicht deren inhaltliche Zuarbeit, die kostenlos und zur rechten Zeit offeriert wird, die den Ausschlag für Gesetzesinitiativen gibt.

Die Piraten sind angetreten, vieles davon zu ändern. Dass ihnen aus den etablierten Parteien eine Kombination aus Spott, Ignoranz und neuerdings auch Angst entgegenschlägt, ist nicht verwunderlich. Besonders beängstigend aus Sicht der in Parlamenten vertretenen Parteien muss es sein, dass die Piraten mit ihrem politischen Selbstverständnis, das so ganz anders wirkt als das der bräsig und behäbig wirkenden Konkurrenten, Menschen in Scharen mobilisieren. Unter ihnen sind nicht nur besonders viele Erstwähler, sondern auch Menschen, die vom politischen System längst aufgegeben worden waren.

Obendrein fällt das Einsortieren des Phänomens in das beliebte Rechts-links-Schema schwer. Der gescheiterte Ex-Generalsekretär der Liberalen, Christian Lindner, versuchte es trotzdem, als er die Piraten kürzlich die "Linkspartei mit Internetanschluss" nannte. Schon ein flüchtiger Blick in die Programme beider Parteien hätte ihm allerdings zeigen können, dass die inhaltliche Distanz in etwa so groß ist wie die der heutigen FDP zu ihrem einstigen Wahlziel 18 Prozent.

Was aber ist dieses Neue, so Reizvolle an den Piraten? Im Kern ist es das Versprechen einer niedrigschwelligen Möglichkeit zur Mitgestaltung und politischer Teilhabe, auch für Menschen, die nicht die Politik zu ihrem Lebensinhalt machen wollen und die nichts zu tun haben mit der Kaste der Berufspolitiker. Liquid Feedback und verwandte Werkzeuge sind das mächtigste Mittel der Piraten für diese neue Art des Politikprozesses. Der Gedanke: Jeder Pirat kann zu jedem Thema seine Meinung einbringen, beim Priorisieren der Inhalte mit entscheiden und darüber abstimmen.

"Das Versprechen der Partizipation macht die Piraten attraktiv für die Verdrossenen"

Wie in jeder politischen Organisation sind auch bei den Piraten nur wenige Mitglieder andauernd aktiv. Nicht alle zerbrechen sich permanent den Kopf um heutige und zukünftige politische Fragen, streiten um Formulierungen und Inhalte und fällen Entscheidungen. Viele arbeiten nur an einzelnen Themen, die sie besonders interessieren.

Spannend ist jedoch, dass diese Minderheit nach größtmöglicher Offenheit gegenüber Mitstreitern strebt. Ein Neumitglied der Piraten erlebt praktische Politik fundamental anders als Neugenossen anderswo im politischen Spektrum. Unabhängig von Alter, Eloquenz oder Protegés ist der Zugang zum inhaltlichen Herz der Partei sofort gegeben. Diese Durchlässigkeit ist prägend und motivierend, ebenso wie die überwiegend positive Neugier, die den Piraten allerorten entgegenschlägt.

Das Ideal der Beteiligung ist nicht neu. Emanzipatorische politische Bewegungen, zuletzt die Grünen, haben versucht, Mechanismen zu finden, um die Basis kontinuierlich zu beteiligen und die Kluft zwischen Berufspolitikern und interessierten Mitgliedern nicht zu groß werden zu lassen. Doch Basisbeteiligung ist anstrengend, zeitraubend und wird in einer Zeit, in der Hektik und Effizienzwahn auch die Politik erfasst haben, als unpraktikabel und zu langsam empfunden.

Doch es geht anders, auch ohne eine Petra Kelly: Basisdemokratie im Digitalzeitalter heißt bei den Piraten, dass Anträge online verfasst, diskutiert, dann optimiert werden. Änderungs- und Gegenanträge werden im selben System eingestellt, jede Änderung bleibt bis ins Detail nachvollziehbar. Wenn es nötig ist, können Entscheidungen über die Position der Partei innerhalb von wenigen Stunden organisiert und durchgeführt werden.

Am Schluss des Prozesses wird der Vorschlag zur landes- oder bundesweiten Abstimmung gestellt, jedes Mitglied kann seine Stimme abgeben. Es kann aber auch einem anderen, dem es vertraut, die Stimme übertragen. Delegation heißt das Verfahren, das fließend ist: Wenn der mit dem Vertrauen Beschenkte nicht im Sinne des Stimmdelegators handelt, kann der seine Stimme ohne Umschweife wieder entziehen. Die Machtverhältnisse verflüssigen sich, jederzeit, abhängig vom Thema.

Das Liquid-Experiment hat natürlich Aspekte, die sich im Laufe seiner Nutzung als problematisch herausstellten. Sie sind Gegenstand heftiger Debatten. So ist etwa die derzeit bestehende Möglichkeit der mehrfachen Delegation umstritten. Jemand, dem die Stimmen von anderen übertragen wurden, kann diese wiederum en bloc weitertransferieren, beispielsweise an einen Experten. In der Praxis entstehen durch diese Delegationsketten erstaunliche Machtballungen bei einzelnen Piraten, die keine offizielle Parteifunktion innehaben, jedoch de facto die Parteimeinung bestimmen. Zudem ist die mehrfache Stimmdelegation nicht unmittelbar sichtbar. Dadurch registriert nicht jeder Abstimmende, dass er beispielsweise bei einem Thema viele Mitglieder hinter sich hat und sein Verhalten wahlentscheidend sein könnte.

Das Prinzip der Liquid Democracy ist auch deshalb so spannend, weil die Geschäftsordnung der Meinungsbildung direkt in Software abgebildet wird, die Regeln der Entscheidungsfindung dadurch zum Betriebssystem der Partei werden. Die innerparteiliche Digitaldemokratie wirft grundlegende Fragen nach dem Selbstverständnis des Politikers auf. Früher durchlief der typische Politiker die parteiinternen Stationen, baute an seiner Hausmacht, war oftmals wortmächtig. Letzteres ist bei Berufspolitikern heute eher die Ausnahme, wie beliebige Bundestagsdebatten zeigen. So gelangen vor allem Menschen an die politische Macht, die durchsetzungsfähig und in der Lage sind, sogar rückgratlose Kompromisse auszuhandeln und zu vertreten. Hauptsache, es wird nach außen das Bild der Geschlossenheit gewahrt und das, wie sie so gern sagen, "Profil der Partei geschärft".

Die Piraten setzen ein anderes Ideal. Der idealtypische Piraten-Politiker ist möglichst transparent und kann die im Liquid-System ausgearbeitete und abgestimmte Parteimeinung direkt nach außen vertreten. Er muss sich nicht durch Initiativen im Außenverhältnis der Partei profilieren, sondern bringt sich am besten mit guten Ideen und Vorschlägen in die digitalen Meinungsbildungsprozesse ein.

Die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Krisen ergeben, erfordern eine wesentlich breitere Basis von Politik

Der politische Piraten-Ansatz ist also nicht unbedingt in seinen Themen oder inhaltlichen Forderungen radikal, sondern in seiner grundlegenden Infragestellung des existierenden Politikbetriebes. Die permanente Einbindung der Mitglieder in inhaltliche Entscheidungen ist etwas, wovon die grünen Basisdemokraten zwar träumten, aber aus praktischen Erwägungen mehr und mehr Abstand nahmen, spätestens als es um Koalitionsbildungen und damit um wirkliche Macht ging.

Die Piraten sind angetreten, einen Versuch der basisdemokratischen Politikgestaltung zu unternehmen, der sich der Mittel des 21. Jahrhunderts bedient, ohne dabei in die Falle des niemals endenden Gelabers ohne bindende Entscheidungen zu tappen. Gleichzeitig sollen verholzte Strukturen wie Landesverbände und Antragskommissionen vermieden werden. Den Vorwurf, sie würden so kein "Vollprogramm" entwickeln, können sie gelassen hinnehmen. Denn was das sein soll, dürften die Spitzenpolitiker der konkurrierenden Parteien anhand der eigenen Programme kaum zeigen können. Einen visionären Gesellschaftsentwurf hat auch von ihnen niemand in petto. Das Versprechen der direkten Partizipation macht die Piraten so attraktiv für die von der Parteipolitik Verdrossenen. Ob die politischen Neulinge aus dem Netz dieses Versprechen halten können, ist eine der spannendsten Fragen des aktuellen Zeitgeschehens. Wenn das Experiment scheitert, die junge Partei im Chaos versinkt oder sich Sektierer und Partikularinteressenten ihrer bemächtigen, ist das Modell einer permanenten direkten politischen Online-Beteiligung wohl für eine ganze Weile diskreditiert.

Die Angst vor der Ochlokratie, der Herrschaft des Pöbels, ist in Deutschland ohnehin ausgeprägt. Auch das Liquid-System bietet keine Garantie für einen hochwertigen politischen Diskurs. Es funktioniert nur, wenn eine hinreichend große Zahl motivierter Teilnehmer dafür sorgt, dass es eine zielführende inhaltliche Debatten- und Entscheidungskultur gibt.

Die große Chance läge darin, dass die anderen Parteien die faszinierende Möglichkeit zum Neustart der politischen Beteiligung durch Einbeziehung neuer technischer Möglichkeiten ebenfalls nutzen. Dazu bedarf es jedoch einer grundlegenden Änderung im Selbstverständnis.

Der Anspruch, alles zu kontrollieren und zu steuern, um nur ja keinen Imageschaden im Koordinatensystem der alten Regeln aus Profilierung und Geschlossenheit zu riskieren, lässt derzeit noch wenige Experimente zu. Dabei ist es schlicht notwendig, dass alle politischen Parteien in Deutschland schnellstmöglich von den Piraten abkupfern. Die digitale Beschleunigung, vor allem aber die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Krisen - Energie, Rohstoffe, Klima, Demografie, Finanzmärkte - ergeben, erfordern eine wesentlich breitere Basis von Politik. Die Überwindung dieser Krisen bedarf kluger, radikaler Ideen und neuer Mechanismen, um den nötigen Rückhalt für die Umsetzung zu finden. Nun, da diese Mechanismen vorhanden und auszuprobieren sind, sollten die anderen Parteien es nicht nur den Piraten überlassen, sie anzuwenden und zu verfeinern.

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