Erotik mit Peter Sloterdijk Die Frau als Herrenwitz

Vom Welterklärer zum Sexonkel - Peter Sloterdijk hat einen erotischen Briefroman verfasst. "Das Schelling-Projekt" wartet mit zweifelhaften Genüssen auf: einer Frau, die von vier Möbelpackern begattet wird und männlichen Menstruationsgags. Von Elke Schmitter
Foto: Illustration: Mario Wagner / 2Agenten für LITERATUR SPIEGEL

Viel ist schon geraunt, manches gelästert worden über den zweiten Roman des Philosophen Peter Sloterdijk, der auf der Buchmesse 2015 seine erste Vorpräsentation beim traditionellen Kritikertreffen im Hause Unseld hatte und seitdem auf der Insel Usedom und der Lit-Cologne in Auszügen vorgestellt wurde.

Dafür gab es mindestens drei Gründe.

Erstens die Prominenz Sloterdijks als immer anregendem, oft tiefenscharfem Analytiker der Gegenwart zu so disparaten Themen wie Sport und Meditation, die "Athletik des Sterbens", den Zorn als revolutionären Speicher und die "globale Verlegenheit" des aufgeklärten Bürgers.

Zum Zweiten seine Einlassungen der letzten Jahre zum akut Politischen, die sein Selbstverständnis als Linkskonservativen nah an die begriffliche Einsamkeit rücken: Sein Vorschlag zur Veränderung des Steuersystems zugunsten freiwillig gebender Hände, seine Pegida-artige Geißelung der "Verwahrlosung" der Medien, vor allem aber seine Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik, in deren Folge er eine "Überrollung" der Nation durch "Asylanten" sieht, machten den Karlsruher Professor zu einer öffentlichen Figur, in der das Berüchtigte das Berühmte zu überlagern droht.

Zum Dritten allerdings ist es das Thema des im September erscheinenden Buches selbst: Der Roman "Das Schelling-Projekt" handelt von der "Entfaltung luxurierender weiblicher Sexualität". Genau mein Ding, wird sich der 69-jährige Autor gedacht haben, damit im schönsten Einklang mit der Mehrheit seiner Geschlechtsgenossen: Wenn der Welt erklärt werden soll, wie es sich mit dem Erotischen bei der Frau verhält, ist nicht erst seit Freud der redselige, reife Mann der Spezialist. De Sade und Schnitzler, Giacomo Casanova und Houellebecq, Philip Roth und Henry Miller - die Literaturgeschichte kennt weit mehr maskuline Autoren, die sich der weiblichen Lust kennerisch annehmen, als umgekehrt. Beauvoir und Jong, Plath und Nin: Autorinnen beschränken sich, auch wenn sie Sex zum Thema machen, eher auf die Beschreibung dessen, was sie nicht erfinden müssen.

Immerhin ist Literatur weit mehr als die rhetorische Entfaltung der eigenen Erfahrung. Mit dem gewählten Genre hat Sloterdijk erst recht die Flucht nach vorn, in die erste Reihe der Kunstfertigkeit, angetreten: "Das Schelling-Projekt" ist ein Briefroman, mithin ein ästhetisches Unternehmen, das, von der schlichten erzählerischen Übung des allwissenden oder des Icherzählers gleich weit entfernt, durch dreierlei Höhenzüge imponiert: die fingierte Unmittelbarkeit, die er durch seine überlieferten "Zeugnisse" herstellen will, die unterschiedlichen Diktionen seiner Sprecher und schließlich die Komplexität seiner Handlung, die fein dirigiert werden muss, wenn die subjektiven Perspektiven, die objektiven Tatsachen und die Effekte der Zeitverzögerung ihr eigenes, dichtes Gespinst entwickeln sollen. Den höchsten literarischen Maßstab für all diese Qualitäten des anspruchsvollen Storytelling geben in der amourösen Literatur noch immer Choderlos de Laclos' Gefährliche Liebschaften ab - ein Kunststück der Infamie und der rhetorischen Verführung.

Peter Sloterdijk

Peter Sloterdijk

Foto: Maurice Weiss / Agentur Ostkreuz

Bei Sloterdijks erotischer Erörterung in Briefen geht es allerdings schlichter zu. Nicht die Intrige und die Überlistung von Moral und Konvention, sondern das Streben nach Erkenntnis und der aufrechte Bund der Suchenden stiften die Verbindung zwischen den Protagonisten: einer Gruppe von sechs Gebildeten, die unter der Führung eines Professors namens Peer Sloterdijk bei der deutschen Forschungsgemeinschaft vorstellig wird, um mithilfe deren Förderung "die biosozialen Prämissen des weiblichen Sexualerlebens in der Zeitspanne zwischen der Altsteinzeit (beziehungsweise dem Mittelpaläolithikum, 200.000 bis 40.000 Jahre) und der Gegenwart im Licht der Hypothese progressiver Subjektivierung beziehungsweise Personalisierung des Lusterlebens zu untersuchen". So weit der Antragsjargon. "Früher", das ist in der Gruppe klar, "hätte man gesagt, eine Idee hat uns ergriffen."

Diese Idee geht von der Vorstellung aus, dass das Sexualerleben des Menschen, vor allem aber das der Frau, eine glückliche Entwicklung genommen hat, die der Erklärung harrt. In der langen Vorzeit der Zivilisation: Begattung a tergo, so eilig wie anonym, von der Frau erlitten, geduldet, aber ungenossen. Heute und hier, in der Erfahrung des Initiators Peer Sloterdijk, "eine Episode zwischen einem Mann und einer Frau, beide dem juvenilen Alter entwachsen, die einer Kultur des verlängerten Liebesspiels und des weiblichen Höhenflugs angehören". Wie konnte es dazu kommen? Was hat dazu geführt, dass aus der sexuellen Notdurft ein erotisches Fest werden durfte? Und welche Höhenflüge des Geistes - von Platons Bild der Entzweigeschnittenen, die ihre zugehörige Hälfte suchen, über Schellings organischen Lebensbegriff bis zur freudianischen Sexualtheorie - haben uns die inzwischen möglichen Erlebnisfreuden imaginiert?

Diese Frage wird nun im E-Mail-Verkehr untersucht. Erfahrungsberichte und Bildungsverweise wechseln sich ab, Offenbarungen werden gemacht, und es kommt, nicht zuletzt durch die rhetorischen Entblößungen, zu engeren Beziehungen. Leibliche Treffen, um den Antrag tatsächlich zu formulieren, führen zu erotischen Begegnungen. Der Umgangston ist heiter, wie auch die Namensgebung der Protagonisten deutlich macht, dass der Autor das Augenzwinkern als Dauersignal etabliert: Kurt Silbe und Guido Mösenlechzner heißen die Herren um Peer; Desirée zur Lippe, Beatrice von Freygel und Agneta Stutensee die Damen. Wer derlei anregend findet, ist der ideale Leser.

Bei anderen stellt sich Erschütterung ein. Der Kontrast zwischen der Ambitioniertheit des literarischen Unternehmens und seiner sprachlichen und inhaltlichen Tatsächlichkeit ist niederschmetternd. Nicht nur, weil die Briefschreiber sich in ihrer Tonlage nicht stabil unterscheiden und so der Aufwand des Autors sich literarisch kaum einlösen lässt. Und nicht nur, weil die Ausflüge in die Bildungsgeschichte der europäischen Philosophie häufiger ins obskurante Abseits führen als auf die Hochebenen der Erleuchtung. Sondern vor allem, weil die weibliche Sexualität hier nach dem Maßstab des Herrenwitzes vermessen wird. Eine Frau, die sich von vier Möbelpackern gemeinschaftlich begatten lässt, und eine, die "tropfte wie ein Kieslaster", als Leuchten der erotischen Menschheitsentwicklung? Eine Reverenz an Nicolaus Sombart, der sich als Autor darin gefiel, bezahlten Sex mit Schulmädchen zu feiern, als würdigen Supervisor des Schelling-Projekts aus dem Jenseits? Und männliche Menstruationswitze, über die Frauen sich "schlapp gelacht" haben? Wenn das Aufschreiben derartiger Kommunikationsdelikte einen Sinn haben soll, dann könnte es eigentlich nur der sein zu zeigen, dass das wahre Schelling-Projekt noch auf seine Autoren wartet.

Das wäre eine überaus gnädige Lösung nicht nur für den Schriftsteller Sloterdijk, sondern auch für die Leser des Philosophen. Wie Klaus Theweleit und Hans Peter Duerr gehörte er in den Neunzigerjahren zu den raren männlichen Denkern, die der patriarchalen Zivilisation mitsamt ihren misogynen und gewalttätigen Wurzeln den analytischen wie spekulativen Prozess gemacht haben. Seine "Ideengeschichte der Nähe-Faszination" in seinem Hauptwerk Sphären ist eine einzige subversive Ermutigung, den Menschen als Beziehungswesen zu erfassen und den Eros als eine verdrängte, sublime und humanisierende Kraft. Das leibfeindliche, das viel beschworene, vermeintlich "autonome Subjekt" der abendländischen Ideologie: Hier wurde es einer radikalen Besinnungskur unterzogen. Hier war für den Philosophen Sloterdijk Intimität "die wiedergefundene Zeit".

Für seinen Helden Peer ist sie es wohl immer noch. Er ist nur leider, als empirisches Wesen, nicht in der Lage, sie anders zu beschwören als der traurige Kumpel von nebenan.

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Peter Sloterdijk:
Das Schelling-Projekt

Suhrkamp Verlag; 251 Seiten; 24,95 Seiten.

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