Gegenangriff auf die Stasi "Wollen Sie uns etwa ausspionieren?"

Eine Gruppe junger Leipziger wagte die Rebellion in der DDR: Sie wollten die Stasi mit deren eigenen Methoden schlagen und spionierten eines Tages einfach zurück.
Be­spit­zel­ter Ar­nold 1989

Be­spit­zel­ter Ar­nold 1989

Was macht man, wenn der Geheimdienst einen dauernd überwacht? Wie druckt man im Untergrund Flugblätter oder organisiert Demonstrationen? Ende der Achtzigerjahre fanden in Leipzig junge Leute zusammen, die meisten zwischen 17 und 25 Jahre alt, und planten verwegene Aktionen gegen die ostdeutsche Diktatur. Ein neues SPIEGEL-Buch offenbart Innenansichten dieser rebellischen Basisgruppen: was sie antrieb, was sie ängstigte, wie sie vorgingen. Die vielleicht irrwitzigste Aktion unternahm Michael Arnold, damals 25-jähriger Student, später Mitgründer des Neuen Forums und Grünen-Abgeordneter im Sächsischen Landtag, heute Zahnarzt in Dresden: Kurz vor dem Ende der DDR spionierte er zurück und spähte die Stasi aus.

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Wensierski, Peter

Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution: Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte - Ein SPIEGEL-Buch

Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
Seitenzahl: 464
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26.03.2023 15.19 Uhr

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Leipzig, im Juli 1989. Polizei und Stasi versuchen seit Monaten, die oppositionellen Gruppen einzuschüchtern, aber die Überwachungsmaßnahmen und die Übergriffe nützen nichts. Micha aus der "Initiativgruppe Leben" und seine Freundin geben nicht auf.

Sie sind es allerdings leid, dass ständig Stasimitarbeiter vor ihrer Haustür in der Zweinaundorfer Straße 20a herumlungern. Mal versuchen es die beiden mit Galgenhumor, mal tun sie so, als gäbe es die frierenden Stasigestalten im Observationsauto nicht, mal servieren sie ihnen heißen Kaffee, und nur wenn die Kerle bis in den Hausflur vordringen, raunzen Micha und Sabine ihre Widersacher an. Doch die lästige Observation hört nicht auf. Da denkt sich Micha: "Ein Geheimdienst ist nur so lange geheim, wie man ihn nicht offenlegt." Und beschließt, den Spieß einfach umzudrehen.

So geht er von seiner Wohnung in die Stadt und betrachtet den Gebäudekomplex zwischen Beethoven- und Dimitroffstraße einmal genauer. Mehrmals in den vergangenen Jahren hat die Stasi ihn dort vernommen. Im Innenhof liegt die Untersuchungshaftanstalt. Kameras überwachen die Ein- und Ausgänge. Hohe, graublaue Tore aus Metall schirmen in der Beethovenstraße das Innere vor neugierigen Blicken der Passanten ab.

An mehreren Tagen umkreist Micha den Gebäudekomplex, mal mit seiner Tochter Johanna im Tragetuch oder im Kinderwagen, mal hat er seinen Freund Uwe dabei und diskutiert mit ihm über das Vorhaben. Micha entdeckt bald, dass sich die Untersuchungsführer der Stasi täglich zwischen 16 und 18 Uhr aus einem Nebenausgang in der Beethovenstraße herausschleichen. Er erkennt sogar einen seiner Vernehmer wieder.

An einem Tag mit schönem Wetter verabredet sich Micha mit seinem Freund Rainer für den frühen Nachmittag. Die beiden gehen in der Beethovenstraße zielstrebig auf ein Wohnhaus schräg gegenüber dem Nebenausgang zu. Die Haustür steht offen, und sie steigen im Treppenhaus ganz nach oben. Die Dachbodentür ist unverschlossen. Es riecht nach Staub, das Sonnenlicht dringt durch Mauerritzen in schmalen Streifen bis auf den Bretterboden. Der Dachboden steht leer und wird auch nicht zum Wäschetrocknen verwendet. Hier stört sie wahrscheinlich niemand.

Durch kleine runde Fenster auf Bodenhöhe kann Micha die Straße und das gegenüberliegende Gebäude gut überschauen. Er nimmt eine Decke aus seiner Tasche, faltet sie über dem Taubendreck auseinander und legt sich bäuchlings darauf vor eines der kleinen Fenster.

Aus seiner Tasche zieht er ein 500-Millimeter-Teleobjektiv, Lichtstärke 5,6, und setzt es auf seine Praktica-Spiegelreflexkamera. Er hat das Monsterobjektiv - rund einen halben Meter lang - eigens für diesen Zweck gekauft. Sein Freund bleibt an der Bodentür stehen und lauscht ins Treppenhaus. Als Micha sieht, dass gegenüber ein Mann aus seinem geöffneten Fenster schaut, drückt er das erste Mal auf den Auslöser. Er putzt die Glasscheibe noch etwas sauberer, stützt das schwere Objektiv besser ab.

Da zeigt sich zu Dienstschluss auch schon der erste Stasimann mit seiner Aktentasche am Nebenausgang, Micha zielt und - klick! Gleich darauf der nächste, in kurzen Hosen. Klick! Einer mit Dederon-Beutel, ein anderer auf dem Fahrrad. Klick, klick! Viele kommen in der typischen beigefarbenen Windjacke, einige auch mit Schlips und Jackett. Hinter dem Fenstergitter eines Vernehmungszimmers zeigt sich ein Mitarbeiter, hemdsärmelig, aber ebenfalls mit Schlips - ob er gerade jemanden in die Mangel nimmt? Das Objektiv holt ihn ganz dicht heran.

Im nächsten Moment geht das große Metalltor auf, und ein Lada schiebt sich durch. Fahrer und Nummernschild sind deutlich zu erkennen. Klick!

Micha muss schon bald den Film wechseln. Nach drei Stunden und mehr als hundert Aufnahmen hat er fürs Erste genug. Als wäre nichts gewesen, verlassen die beiden das Haus und machen sich auf den Heimweg. Sie sind aufgekratzt und malen sich aus, wer die Bilder zu sehen bekommen soll. Alle könnten helfen, die Vernehmer zu identifizieren und vielleicht auch herauszufinden, wo sie wohnen, wie sie heißen. Und schließlich könnte man die Bilder auch in einer Ausstellung öffentlich machen. "Die kommen dauernd zu uns, jetzt kommen wir zu ihnen!"

Zum Entwickeln gibt er einen Teil der Filme in dem Geschäft seines Vertrauens ab: Foto Korzer in der Zweinaundorfer Straße. Da hat er schon öfter entwickeln lassen, das war stets unproblematisch, selbst bei heiklen Motiven wie Bildern von verbotenen Demonstrationen. Andere Fotogeschäfte in der Innenstadt sind angewiesen, "auffällige" Fotos zu melden.

Leip­zi­ger Wohn­haus in der Zweinaundor­fer Straße

Leip­zi­ger Wohn­haus in der Zweinaundor­fer Straße

Foto: Michael Arnold

Ein paar Tage später liegt ein Brief im Postkasten der Zweinaundorfer. Absender ist die MfS-Untersuchungsabteilung mit der Aufforderung, Micha solle am nächsten Tag um acht Uhr morgens mit Personalausweis im Zimmer 111 der Dimitroffstraße 5 erscheinen. Er ist pünktlich.

Der Vernehmungsraum: klein und eng, Neonlicht, ein strenger Geruch nach Desinfektions- oder Putzmittel. Oder riecht der Fußbodenbelag so? Ein Tisch mit Schreibmaschine, ein vergittertes Fenster, ein Holzstuhl. Oben auf dem Aktenschrank vegetiert eine anspruchslose Grünlilie vor sich hin. Sein Gegenüber, ein Oberleutnant, gibt sich korrekt.

Ihren Ausweis haben Se mit? Ja.

Die Vorladung? Nee.

Warum nicht? Die hab ich schon weggeworfen.

Na sicher! Geht die jetzt in Ihre Sammlung ein?

Wie? Ist das eine Leihgabe? Das wär ne große Sammlung!

Dann stellt Micha dem Vernehmer eine Frage: Wie ist denn Ihr Name?

Mein Name? Schall und Rauch.

Sie sind von der Staatssicherheit?

Ja. Na, dann wollen wir mal: Wir wollen wissen, warum Sie in der Vergangenheit mehrfach vor Dienstobjekten des MfS festgestellt worden sind. Was für einen Grund hatten Sie dafür?

Ich hab einen Spaziergang durch die Stadt gemacht.

Wenn man Sie an Dienstobjekten des MfS sieht, dann setzt das bei uns verschiedene Überlegungen in Gang.

Welcher Art?

Provokation? Spionage?

Micha überlegt nur kurz: Sagen Sie bitte nicht, dass Sie mich aufgrund Ihrer Überlegungen hierherbestellt haben. Sie stellen ja viele Überlegungen über Menschen an und bestellen die nicht alle deswegen ein.

Der Vernehmer fällt ihm ins Wort: Die halten sich auch nicht alle vor Objekten des MfS auf! Schon gar nicht zu Zeiten reger Personenbewegung, wie bei Dienstschluss.

Micha bleibt ruhig, sagt: Zu der Zeit am Nachmittag hab ich die beste Möglichkeit, ins Zentrum der Stadt zu gehen.

Sein Vernehmer wird ungeduldig. Wissen Se, ich bin ein erwachsener Mensch, jetzt sagen Se mal endlich: Was bezwecken Sie damit, sich verstärkt Objekte des MfS anzusehen?

Mich interessieren Menschen auf der Straße, auch die vom MfS. Ich möchte wissen, was sind das für Menschen?

Mit anderen Worten: Sie gehen bewusst dorthin? Ich gehe überall bewusst hin.

Sie sind ja nun kein unbeschriebenes Blatt für uns. Sie waren ja schon im Januar unser Gast hier. Steht das in einem Zusammenhang? Nein!

Warum machen Sie uns denn unsere Arbeit so schwer? Ich werde doch nicht für Ihre Arbeit bezahlt.

Machen Sie soziologische Studien? Wollen Sie unsere Leute kennenlernen? Oder wollen Sie Informationen über die Mitarbeiter ans Ausland weitergeben? Sie können den Mitarbeitern ja leicht nachgehen und sehen, wo sie wohnen, wie sie heißen.

Micha bleibt trotzig: Das kann ich doch nicht beeinflussen, wenn Ihr Geheimdienst öffentlich wird! Wenn Sie mir nur vorwerfen können, dass ich an Ihren Dienstobjekten in Erscheinung trete, dann werde ich das auch in Zukunft weitermachen!

Sein Vernehmer beugt sich vor: Wollen Sie uns etwa ausspionieren?

Micha muss grinsen. Er hat in seiner Jackentasche einen Walkman und im Ärmel ein Mikrofon. Er nimmt das Gespräch auf.

Aber hoffentlich dauert es nicht mehr so lange. Er hat nur eine Kassette mit einer halben Stunde Laufzeit beschaffen können - und die würde sich am Ende mit einem lauten Klack verabschieden. Doch das Gespräch wird nicht beendet.

Micha löst das Problem mit lautem Husten: Der Stasimann hört nicht, wie sich der Walkman abschaltet.

DER SPIEGEL
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