Debatte um Islam und Heimat Ist das noch mein Land?

Türkische Moschee in Duisburg
Foto: Hans Blossey / Euroluftbild.de/ Picture Alliance / DPAMaike Manz streicht sich mit den Händen über den Bauch und hofft, dass die junge Frau im Krankenbett vor ihr zumindest ahnt, was sie ihr damit sagen will. "Wir werden gleich den Ultraschall machen, und dann werden wir entscheiden, wie es weitergeht", sagt die Gynäkologin langsam und überdeutlich.
Die Schwangere kommt aus Guinea-Bissau und lebt erst seit neun Monaten in Deutschland. Ratlos schaut die Westafrikanerin zu, wie die Ärztin ihre Pantomime vorführt. Auf ihrem kugelrunden Bauch klebt die Sonde eines CTG-Messgeräts, das die Herzfrequenz der Kinder misst. Sie ist in der 36. Woche mit Zwillingen schwanger. Außer "Baby" hat sie nichts verstanden. Sie spricht kein Deutsch.
Manz guckt Hilfe suchend auf das Display ihres Telefons. Viertel vor fünf. Die Übersetzerin - eine Verwandte der Patientin - sollte seit 45 Minuten hier sein. Schulterzucken. "Andere Kulturen, anderes Zeitverständnis", sagt Manz, die seit vergangenem Jahr die Geburtsstation der Mariahilf Klinik in Hamburg-Harburg leitet.
Bei der Visite und während einer Geburt hat die Chefärztin immer Karteikarten mit Basisvokabular in Arabisch, Farsi, Russisch, Rumänisch und Türkisch dabei. Bei der Auswahl neuer Mitarbeiter achtet Manz darauf, dass sie mit den neuen Anforderungen auf ihrer Station zurechtkommen. Deshalb ist Sufyan Abdulhadi in den vergangenen drei Jahren zu so etwas wie dem Superstar der Klinik aufgestiegen. Der Libyer begann 2008 seine Facharztausbildung in Deutschland. Seit 2014 arbeitet er im Mariahilf.
Im Video erklärt Cordula Meyer, die Leiterin des Deutschland-Ressorts, wie die aktuelle SPIEGEL-Titelgeschichte entstand
Abdulhadi vermittelt zwischen den Kulturen. Die arabischen Familien fühlen sich bei ihm gut aufgehoben, sie müssen ihm nicht lange etwas erklären. "Ich habe hier in den letzten Jahren mehr Arabisch als Deutsch geredet. Es ist unglaublich wichtig für die Frauen, die zu uns kommen, dass im wichtigsten Moment ihres Lebens ein Arzt in der Nähe ist, der sie versteht."
Fast 40 Prozent der Mütter, die im Mariahilf ihre Kinder zur Welt bringen, wurden nicht in Deutschland geboren. Harburg, wo die Klinik liegt, ist kein reicher Bezirk Hamburgs, aber auch kein sozialer Brennpunkt. In vielen anderen Großstadtkliniken sieht die Statistik ähnlich aus. Geburtshilfe in Deutschland ist dort zu einem multikulturellen Berufsfeld mit besonderen Herausforderungen geworden.
Den jüngsten Auswertungen des Statistischen Bundesamts zufolge hatte 2016 fast jedes vierte in Deutschland geborene Baby eine ausländische Mutter, Ausländerinnen tragen viel dazu bei, dass die Geburtenrate steigt. Schon jetzt hat jeder Fünfte hierzulande einen Migrationshintergrund.

Foto-Essay: Was ist Heimat?
Deutschland ist ganz offensichtlich ein Einwanderungsland, und es verändert sich rasant. Viele Ökonomen und auch Politiker betonen zwar gern die erfreulichen Seiten der Entwicklung - jahrzehntelang fürchtete man sich vor einer Vergreisung der Gesellschaft -, doch es gibt eine große Gruppe, die diese Entwicklung alles andere als erfreulich findet.
Diese Menschen fragen sich, wie ihre Heimat wohl in 10, 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Und sie haben Zweifel, ob die Regierung die Probleme lösen kann, die sich schon jetzt durch die mangelnde Integration mancher Migranten abzeichnen. Etliche fürchten, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Deutschland mit einer planlosen Einwanderungspolitik in eine düstere Zukunft führt. Eine Politik, die darin besteht, nicht die gut ausgebildeten Fachkräfte anzuwerben, sondern die Migranten als Asylbewerber kommen lässt. Und aufgrund derer meist auch jene irgendwie bleiben können, deren Anträge abgelehnt werden.

Die Angst vor einer solchen ungesteuerten Migration ist nicht neu. Sie machte schon 2010 Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" zu einem Bestseller. Als Sarrazin seine Thesen über gebärfreudige muslimische Migrantinnen kundtat, kamen gerade einmal 40.000 neue Asylbewerber pro Jahr. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise von 2015 erreichten innerhalb weniger Tage so viele Menschen das Land.
Seitdem sind knapp 1,4 Millionen Flüchtlinge in Deutschland angekommen. Ein Indiz dafür, wie tief Zorn und Wut über diese Entwicklung in vielen Menschen brodeln, ist die gefährliche Kraft der sogenannten Umvolkungstheorie: Die Bundeskanzlerin plane angeblich mit anderen sinistren Mächten den Austausch der einheimischen Bevölkerung. Es sei die derzeit beliebteste Verschwörungstheorie in Deutschland, sagt der Tübinger Amerikanistikprofessor Michael Butter.
Sie wurde auch deshalb so populär, weil Gesellschaft, Politik und Medien manche Entwicklungen nicht offen und sachlich diskutierten, manchmal aus Furcht, Fremdenfeinden in die Hände zu spielen. Stattdessen ging es in Debattenbeiträgen häufiger darum, die eigene Weltoffenheit und Toleranz zur Schau zu stellen. Doch die Hoffnung, die Konflikte, die durch schlecht gesteuerte Migration entstehen können, würden hinter dem Optimismus verschwinden, hat sich nicht erfüllt.
Große Teile des Landes leiden unter Identitätsstress. Deutsche ohne ausländische Wurzeln haben Angst, dass Zuwanderer ihnen ihre Heimat nehmen könnten. Deutsche mit Migrationshintergrund fühlen sich ausgegrenzt und fremd. Und jene, die neu als Flüchtlinge hier ankommen, denken bei Heimat vor allem daran, was sie gerade verloren haben.

Ehepaar Kammeyer, Rentner Weißbach: "Da liegt ja der Taufstein"
Foto: Dmitrij Leltschuk/ DER SPIEGELInnenminister Horst Seehofer (CSU) reagierte auf diese Stimmung mit der Ansage, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Der Satz ist Nonsens: Rund 4,7 Millionen Muslime leben hierzulande. Viele von ihnen sind hier geboren und gut integriert. In fast jeder größeren Stadt gibt es eine Moschee.
Die Debatte ebbt auch nach Wochen noch nicht ab - und ein großer Teil der Deutschen stimmt Umfragen zufolge Seehofer zu. Warum? Weil der Satz eine Chiffre ist. Wer sagt "Der Islam gehört nicht zu Deutschland", will sein Unbehagen darüber ausdrücken, wie Deutschland sich verändert. Und aussprechen, dass das bitte nicht so weitergehen soll.
Merkels Antwort auf Seehofer, der Islam gehöre doch zu Deutschland, sei allerdings auch nicht hilfreich, sagt die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch. Beide Politiker hätten versucht, in "ihren politischen Lagern Gemeinschaft" zu stiften, aber am Ende beförderten sie "das grassierende Gefühl von Heimatlosigkeit".
Mit Hingabe führt Deutschland Symboldebatten, die hauptsächlich dazu dienen, sich einem Lager zuzuordnen. Immer wieder wird über ein Burkaverbot gestritten, obwohl in Deutschland wenige Frauen den Vollschleier tragen. Solche Diskussionen sind hauptsächlich Vehikel, mit denen die Verbotsbefürworter zum Ausdruck bringen wollen, dass es jetzt reicht mit der Toleranz.
Die CSU hat den Sorgenvollen nun versprochen, Deutschland werde christlich-jüdisch geprägt bleiben. Doch zur Wahrheit gehört auch: Die christlichen Kirchen verlieren seit Jahren Mitglieder. Allein 2016 mussten sie mehr als 350.000 Austritte verkraften.
Während vielerorts Kirchen schließen, errichten Muslime neue Moscheen - oder sie nutzen dafür leer stehende Gebäude.
Im Hamburger Stadtteil Horn lässt das Islamische Zentrum Al-Nour derzeit mit Finanzhilfe aus Kuwait sogar eine ehemalige Kirche zur Moschee umbauen. Seit mehr als 16 Jahren steht diese leer. Die Gemeindemitglieder sind verstorben, ausgetreten oder weggezogen. Es wird hier also keiner verdrängt. Für die Muslime bietet es sich einfach nur an, den Leerstand zu nutzen. Trotzdem sehen viele darin einen Vorgang mit Symbolcharakter.

Auf dem 44 Meter hohen Glockenturm der Kapernaumkirche, auf dem einst ein Kreuz thronte, prangt nun in goldenen arabischen Buchstaben das Wort "Allah". Noch in diesem Jahr wollen die Muslime ihre neue spirituelle Heimat beziehen. Im Moment beten sie in einer ehemaligen Tiefgarage.
Zunächst hatte ein Investor das Gebäude gekauft. Allerdings zerschlugen sich die Pläne des Unternehmers, und er verkaufte die Immobilie 2012 an die Muslime.
Pastor Wolfgang Weißbach nennt die ehemalige Kirche zärtlich "meine erste Liebe". Hier hat der heute 80-Jährige seine Laufbahn als Geistlicher begonnen. Er ist an diesem Dienstag im April mit zwei früheren Gemeindemitgliedern, Ellen und Heinz-Jürgen Kammeyer, gekommen, um die Baustelle zu besichtigen. Plötzlich wird der Pastor unruhig. "Da liegt ja der Taufstein", ruft Weißbach und deutet auf einen umgekippten weißen Sockel mitten im Schutt hinter dem Bauzaun.
Die drei Rentner schauen betreten auf den Frevel vor ihren Füßen. Mit dem Wasser, das in einer Kupferschale auf diesem Stein stand, hat Weißbach einmal Kinder getauft. Und neben diesem Stein standen die Kammeyers 1985 vor dem Altar und ließen sich trauen.
Die Kammeyers sind Mitglieder der SPD. Sie würden niemals die AfD wählen. Obwohl es sich für sie seltsam anfühlt, dass bald Muslime in ihrer alten Kirche beten werden, sind sie vor fünf Jahren sogar gegen die "Bürgerbewegung Pro Deutschland" auf die Straße gegangen, um den Umbau zu verteidigen.
Seit seiner Hochzeit wohnt das Ehepaar in einer Rotklinkersiedlung einer Genossenschaft, hier wurden die zwei Kinder groß. An den Klingeln sind die Hälfte der Namen türkisch oder arabisch. Im Wohnzimmer hängen noch immer gerahmte Fotos der Kapernaumkirche, wie sie früher war. Die beiden SPD-Mitglieder bemühen sich um ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn. Trotzdem geht es nicht spurlos an ihnen vorüber, wie sich ihr Stadtteil verändert.
"Wenn du in der Minderheit bist, fühlst du dich fremd", sagt Heinz-Jürgen Kammeyer. Seine Frau nickt. Auf einigen Buslinien im Viertel höre sie "mehr Kisuaheli als Deutsch, da wird vorgedrängelt und wenig Rücksicht" genommen.
"Es liegt ja nicht nur an der Migration, dass wir heimatlos werden", sagt Ellen Kammeyer. Die sozialen Treffpunkte im Viertel hätten ihren Sinn eingebüßt. "Was soll ich denn beim Seniorentreff Skat spielen?", fragt sie. Das sei aus der Zeit gefallen, aber für die neuen Alten, wie sich die Kammeyers sehen, gebe es gesellschaftlich keine Räume.
Ellen Kammeyer ist inzwischen aus der evangelischen Kirche ausgetreten, aber jedes Mal, wenn sie an der Baustelle vorbeikomme, fühle sie einen Stich. Dass in der Moschee bald Frauen und Männer getrennt beten, ärgert ihren Mann besonders. "Hier leben türkische Familien, deren Töchter vermummt werden, sobald sie ihre Menstruation bekommen", sagt er. Gegen den Islam habe er nichts, aber der Umgang mancher Muslime mit Frauen ist für ihn "nicht kompatibel" mit dem Grundgesetz: "Diese Haltung, dass eine Frau eine Hure ist, nur weil sie einen Bikini trägt!"
Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge sagt mehr als jeder vierte Deutsche, der Islam sei etwas, "das einem Angst macht". Die Terrororganisation "Islamischer Staat" hat es durch ihre Schreckensherrschaft in Syrien und im Irak und auch durch zahlreiche Anschläge in Europa geschafft, die Furcht vor der Religion wachsen zu lassen. Zurzeit vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht über Antisemitismus unter Muslimen berichten oder darüber, dass bereits an Grundschulen muslimische Kinder Andersdenkende mobben.
Häufig entlädt sich die Ablehnung des Islam in Vandalismus oder Gewalt. Im vergangenen Jahr gab es laut Bundesinnenministerium mindestens 950 Angriffe auf Muslime und Moscheen, dazu zählt Hetze im Internet, dazu zählen aber auch Drohbriefe oder Nazischmierereien. In beinahe allen Fällen sei davon auszugehen, dass die Täter aus rechtsextremen Motiven handelten.
Viele Deutsche machen sich wenig Mühe, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden. Muslime stehen unter Rechtfertigungsdruck, selbst wenn sie sich integriert haben, tolerant und weltoffen sind. Auch das führt dazu, dass viele Menschen in Deutschland fürchten, ihnen werde ihre Heimat genommen.

Muslimin Kayed in Berlin: "Ich habe nie daran gezweifelt, Deutsche zu sein"
Foto: Milos Djuric/ DER SPIEGELIn Hanan Kayed kommt nach jedem Terroranschlag die Angst wieder hoch. Immer dann, wenn wieder ein selbst ernannter Kämpfer des "Islamischen Staats" in Europa um sich schießt, sticht oder einen Lkw in eine Menschenmenge steuert. Dann will sie sich am liebsten einigeln, tagelang die Wohnung nicht verlassen, bis sich die Stimmung beruhigt hat.
Hanan Kayed ist 26 Jahre alt, hat gerade die erste juristische Prüfung bestanden, arbeitet in einer kleinen Organisation, die Flüchtlinge in WGs vermittelt und ist gläubige Muslimin. Am Abend des Ostersonntags sitzt sie in einem Berliner Café mit unverputzten Backsteinwänden, durchgesessenen Ledercouches und bunten Metallhockern. Sie trägt einen Blazer, einen geblümten Schal und ein olivgrünes Kopftuch. Seit acht Jahren lebt sie in Berlin, geboren wurde sie als Tochter palästinensischer Flüchtlinge in Köln.
"Ich habe nie daran gezweifelt, Deutsche zu sein", sagt Kayed.
Nach dem Anschlag auf die französische Zeitschrift "Charlie Hebdo" hörte sie in der Bahn zum ersten Mal den Satz: "Ihr Muslime verdient den Tod."
Ihr Kopftuch bereitet Kayed häufig Probleme. Die Jurastudentin will sich für ein Referendariat im öffentlichen Dienst bewerben. Sie hat schlechte Chancen, obwohl sie die erste juristische Prüfung mit einem Prädikat abgeschlossen hat. "Wenn ich nicht dieses Stück Stoff auf dem Kopf tragen würde, würden sie mich mit Handkuss einstellen - so muss ich darum fürchten, ob mich überhaupt jemand nimmt", sagt Kayed.
In Berlin wird gerade hart darum gestritten, ob das Neutralitätsgesetz, das etwa Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht verbietet, unverändert bestehen bleiben soll. Der rot-rot-grüne Senat erwägt, es abzuschaffen, eine Initiative mit 2000 Unterstützern versucht, dies zu verhindern.
Vor wenigen Tagen sorgte die nordrhein-westfälische CDU-Staatssekretärin Serap Güler für neuerliche Debatten zum Thema. "Einem jungen Mädchen ein Kopftuch überzustülpen ist pure Perversion. Das sexualisiert das Kind. Dagegen müssen wir klar Position beziehen", erklärte sie. Ihr Chef, Integrationsminister Joachim Stamp (FDP), erwägt ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren, ähnlich wie es die österreichische Regierung für Kindergärten und Grundschulen angekündigt hat. Das Tuch hat Symbolkraft, es verkörpert für viele prominent sichtbar einen bedrohlichen Islam, deshalb flachen die Debatten darum auch nach Jahrzehnten nicht ab. Der Osnabrücker Islamwissenschaftler Bülent Ucar spricht von einer "krankhaften Fixierung" aller Seiten auf das Kopftuch.
Diese könnte auch daher rühren, dass die Fragen darum Deutschland überfordern. Kaum ein Konflikt zeigt so klar, wie schwierig es für ein Einwanderungsland sein kann, die richtigen Regeln vorzugeben.
Wer erlaubt, dass Lehrerinnen ein Kopftuch tragen, nimmt in Kauf, dass junge Mädchen zunehmend den Druck ihrer Community spüren, sich verhüllen zu müssen. Autoritätspersonen sind Vorbilder. Wer verbietet, dass Frauen wie Hanan Kayed als Richterin arbeiten dürfen, legt gerade denjenigen Musliminnen mit Kopftuch Steine in den Weg, die selbstbewusst Karriere machen wollen. Am Ende bleibt die harte Entscheidung, wer schützenswerter ist.
Jurastudentin Kayed träumt weiter davon, Richterin oder Staatsanwältin zu werden - und sie hofft, dass sie irgendwann freier in Deutschland leben kann, als das bisher für sie möglich ist.

Das letzte Mal, dass sie auf offener Straße angegriffen wurde, liegt nur einen Monat zurück. Sie war auf dem Weg in die Uni-Bibliothek, als ein Mann sie vor dem Bahnhof Friedrichstraße anrempelte, sie dabei fast zu Boden stieß und beleidigte: "Kopftuchschlampe, elende Moslemhure, verpiss dich aus meinem Land." Nicht der Mann habe ihr am meisten Angst gemacht, sondern die Passanten, die herumgestanden, zugeguckt, nichts getan hätten. Kayed hat ihr Leben angepasst: Sie verlässt die Uni nie nach 21 Uhr, meidet öffentliche Verkehrsmittel, nimmt, wann immer es geht, das Auto.
Für den Begriff Heimat gibt es viele Definitionen. Jeder hat eine sehr persönliche Vorstellung davon. Meistens spielt das Gefühl von Vertrautheit dabei eine Rolle. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger schrieb einmal: "Heimat ist das Produkt eines Gefühls der Übereinstimmung mit der kleinen eigenen Welt. Wo die Menschen ihrer Umgebung nicht mehr sicher sind, wo sie ständig Irritationen ausgesetzt sind, wird Heimat zerstört."
Hanan Kayed würde diesen Satz wohl unterschreiben. Der Fliesenhändler Ralf Fessler aber auch.

Unternehmer Fessler in Sigmaringen: "Ich bin ein Wut- und Angstbürger"
Foto: Milos Djuric/ DER SPIEGELDer 48-Jährige steht auf seinem Balkon und lehnt sich ans Geländer. Von dort aus hat er einen weitläufigen Blick über das schwäbische Sigmaringen, er kann sogar die Turmspitzen des Hohenzollernschlosses sehen, es ist das Wahrzeichen der Stadt. "Es war mal so schön hier", sagt der Fliesenhändler. Unten im Garten mümmeln neben einem Teich zwei Kaninchen in ihrem Verschlag an Grashalmen.
"Moment, da kommt wieder einer", sagt Fessler. Neben der Thujahecke, die der Schwabe nach eigener Erzählung zuletzt zurückstutzte, bevor die Flüchtlinge oben auf dem Berg in die Kaserne einzogen, wippt ein schwarzer Haarschopf. Es ist ein Afrikaner, der mit Kopfhörern in den Ohren Richtung Stadt spaziert. "Okay, der war jetzt leise", sagt Fessler. "Das ist nicht der Normalfall." Früher hätten sie noch manchmal rübergerufen "Please be quiet", bitte seien Sie ruhig. Meistens sei aber nur ein "Fuck you" oder "I kill you" als Antwort zurückgekommen.
Seit 28 Jahren wohnt Fessler in dem Haus, das einst sein Vater bauen ließ. 2015 hat das Land Baden-Württemberg die ehemalige Graf-Stauffenberg-Kaserne zur Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge umfunktioniert. Sie liegt nur wenige Minuten Fußweg von Fesslers Haus entfernt, rund 350 Menschen wohnen in der Einrichtung, die meisten stammen aus Nigeria, Marokko und Gambia. Wer von dort in die Innenstadt will, kommt zwangsläufig an Fesslers Thujahecke vorbei.
Auch am vergangenen Montag um 16 Uhr schlendern alle paar Minuten Männer die Straße entlang. "Nachts wird es die Hölle", beschreibt Fessler. "Die kaufen Alkohol bei Lidl, besaufen sich oder kiffen am Bahnhof und im Park und torkeln dann wieder bei uns vorbei." Er mache die halbe Nacht kein Auge zu. Terror sei das.
Der Ärger darüber hat Fessler verbittert. Vor allem als er feststellte, dass niemand ihm in seiner misslichen Lage helfen wollte. Vor einiger Zeit habe seine Frau den Müll wegbringen wollen, als eine Gruppe Männer sich ihr in den Weg gestellt habe. Sie hätten ihr ins Gesicht gespuckt. "Wir hatten Panik, dass sie sich etwas geholt hat", sagt Fessler. Seine Tochter sei einmal auf dem Weg zum Briefkasten im Genitalbereich betatscht worden, Nachbarn hätten Alarm geschlagen. Wenn der Vater auf Geschäftsreise ist, übernachten seine Frau und seine Tochter im Hotel oder bei der Oma. "Wir haben Angst."
Der Unternehmer hat einiges versucht, um sein Problem zu lösen. Er hat auf ein Schild mit arabischen Buchstaben "City" geschrieben, um die Männer aus der Erstaufnahmestelle eigenmächtig auf einen anderen Weg umzuleiten. Allerdings habe ihm das Ordnungsamt die Aktion untersagt. Außerdem hatte er gehofft, die Stadt werde einen neuen Gehweg entlang der Hauptstraße durchsetzen, damit nicht alle bei ihm vorbeispazieren. Doch lehnte der Gemeinderat das Ansinnen fast einstimmig ab. Man wolle kein "Zeichen für Ausgrenzung und Rassismus" setzen, so eine SPD-Politikerin.
"Klar", sagt Fessler. "Bei denen läuft ja auch kein einziger Afrikaner am Haus vorbei." Der Fliesenhändler war einmal CDU-Mitglied. 2015 trat er aus Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik aus. Bei der letzten Wahl hat er der AfD seine Stimme gegeben. "Ich bin ein Protestwähler, ein Angst- und Wutbürger", sagt er.
Wie Fessler haben sich viele ehemalige CDU-Wähler von der Partei abgewandt. Häufig aus Gründen, die eher mit kultureller Entfremdung zu tun haben als mit der Zahl der Zuwanderer. Sie fürchteten Migranten, aber sie fühlten sich auch abgestoßen von einer Leitkultur, die von ihnen erwartete, die neuen Deutschen als Bereicherung zu sehen.
Das Erbe der 68er, die veränderte Rolle der Frau, die Schwulenbewegung, das Multikulti-Ideal sind Ideen, die ihnen ihre Heimat genauso fremd erscheinen lassen wie Minarette und Frauen mit Kopftuch. In einer CDU, die mit Merkel in die Mitte rückte, und mit einer Verteidigungsministerin, der Bundeswehrkitas am Herzen lagen, kam ihnen auch politisch die Heimat abhanden. Je linker Merkel wurde, desto weiter wanderte ein Teil der Gesellschaft nach rechts.
Die US-Soziologin Arlie Russell Hochschild hat in ihrem Buch "Fremd in ihrem Land" untersucht, warum weiße Arbeiter im Süden der USA die rechte Tea Party und später Trump unterstützten. Das wichtigste Argument der Soziologin: Die Menschen hatten das Gefühl, dass sie sich abmühten, sich an alle Regeln hielten, während andere, Frauen, Minderheiten, Migranten, in der Warteschlange zum amerikanischen Traum an ihnen vorbeizogen. Und von denen keiner zu erwarten schien, dass sie sich an Vorgaben hielten.
Es gebe inzwischen offenbar globale Versionen dieser Stimmung, argumentiert Hochschild. Das zeigt zum Beispiel die im Februar von beiden Seiten aufgeregt geführte Debatte um die Essener Tafel, die zeitweise keine neuen ausländischen Kunden mehr mit Lebensmittelspenden versorgte, weil sich arme Rentner durch Migranten verdrängt fühlten. Auch wenn es nur um den Platz in der Ausgabe von Lebensmitteln ging.
Dass linke Politiker diesen Menschen immer wieder sagten, ihr Gefühl sei falsch, Migranten und andere würden ihnen nicht die Jobs und die Heimat stehlen, habe sie in den USA eher noch wütender gemacht, sagt Hochschild. So sei noch der Eindruck hinzugekommen, die Probleme würden vertuscht.
Diese Weltsicht hat sich in Deutschland mit Wucht auf Politik und Medien entladen. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise unternahm die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt einen Versuch, Vorurteile abzubauen, der eher spaltete, statt zu versöhnen. Sie bezeichnete die Neuankömmlinge als ein "Geschenk für Deutschland".
Es war nur ein Geschenk, das viele Menschen in Deutschland nicht haben wollten.
Und wer wie Fliesenhändler Fessler mit der neuen Realität ein Problem hatte, dem war wenig geholfen mit dem Appell, er möge doch seine Sicht auf die Welt ändern. Fessler spricht nun davon, nach Uruguay oder Ungarn auswandern zu wollen. Da sehe er eine bessere Zukunft für seine Familie und sich als in Deutschland.
Dass es mit der Sigmaringer Aufnahmestelle manchmal Probleme gibt, ist bekannt. Während landesweit die registrierten Straftaten durch tatverdächtige Flüchtlinge zurückgegangen seien, gebe es im Landkreis Sigmaringen einen deutlichen Anstieg, heißt es in der Pressemitteilung der Polizei. Jeder fünfte Tatverdächtige im Landkreis sei ein Flüchtling. Die Bahnhofshalle wird mittlerweile um 17.30 Uhr geschlossen statt um 19.15, damit Betrunkene dort keine Probleme mehr machen können.
Neff Beser betreibt im Bahnhofsgebäude das Alfons X, eine Bar und einen Klub. Auf der Terrasse sind seine Umsätze im vergangenen Sommer um 30 Prozent eingebrochen. Zeitweise hatte er sogar ein Verbot für Flüchtlinge in seinem Laden ausgesprochen, weil sich zu viele Frauen belästigt gefühlt hatten.
"Eigentlich hat sich die Situation schon wieder gebessert, seitdem eine Gruppe von Nordafrikanern plötzlich von der Bildfläche verschwunden ist, die immer negativ aufgefallen ist. Man muss das immer wieder sagen, damit kein falscher Eindruck von Flüchtlingen entsteht", sagt er. "Es ist nur eine kleine Gruppe, die Ärger macht, aber das halt wirkungsvoll."
Die Sigmaringer Polizei hat acht Mann zur Verstärkung bekommen, was für eine Kleinstadt mit 17.500 Einwohnern eine beachtliche Zahl ist. Die Stimmung sei trotzdem nicht viel besser geworden, sagt Beser. Der Barbesitzer mit türkischen Wurzeln macht die Politik dafür verantwortlich. Einmal habe sein Türsteher eingreifen müssen, weil Asylbewerber vor seinem Lokal auf eine Polizistin losgegangen waren und sie an den Haaren zu Boden gezogen hatten. "Man hat uns zu lange das Gefühl gegeben, dass man den Randalierern quasi machtlos ausgeliefert ist."
Gegen dieses Gefühl helfe es auch nicht mehr viel, dass die Zahl der Flüchtlinge stark gesunken sei. Im Februar kamen nur noch 10.700 Flüchtlinge nach Deutschland, im November 2015 waren es mehr als 200.000.
So wie in Sigmaringen ist es meist nur eine Minderheit, die kriminelle Energie hat und die auch in ihren Heimatländern nicht zur beliebtesten Klientel gehörte. Viele dieser Menschen werden sich niemals hierzulande integrieren können - aber trotzdem bleiben.
Die Bundesregierung hat angekündigt, mehr Menschen abzuschieben. Doch häufig scheitern die Rückführungen, weil die Betroffenen abtauchen, Widerstand leisten oder plötzlich ärztliche Atteste vorlegen. Knapp 230.000 Ausländer sind derzeit ausreisepflichtig, mehr als 60.000 von ihnen haben nicht einmal eine vorübergehende Duldung und müssten das Land sofort verlassen.

Sozialarbeiter Küppers in Duisburg: "Kaum ein Kind schafft die Grundschule in vier Jahren"
Foto: Milos Djuric/ DER SPIEGELAuch in den etablierten Medien prägen die Übeltäter das Bild. Berichte über Flüchtlinge, die Frauen vergewaltigen oder gar töten, machen nachhaltiger Eindruck als Reportagen über Syrer, die nach kurzer Zeit in Deutschland als Zahntechniker arbeiten, oder über erfolgreiche türkische Unternehmer in der zweiten Generation.
Dies führt zu einem weiteren Problem, den Begrifflichkeiten: Migrant, Deutscher, Ausländer oder Migrationshintergrund sind in einem Einwanderungsland Ausdrücke, die nicht mehr gut funktionieren. Ist ein Türke in der dritten Generation, der sogar seinen Namen eingedeutscht ausspricht, Migrant oder Deutscher? Oder beides? Wie viele Generationen nach der Einwanderung hat man überhaupt noch einen Migrationshintergrund? Was meinen die Leute, wenn sie umgangssprachlich sagen, die Zahl der Ausländer steige? Die der Flüchtlinge? Der südländisch aussehenden Menschen? Derer ohne deutschen Pass?
Meistens geht es wild durcheinander, und unter dem Begriff Migrant werden alle subsumiert: eine türkischstämmige Ärztin genauso wie ein Nordafrikaner ohne Bleibeperspektive, ein osteuropäischer Saisonarbeiter oder ein Kriegsflüchtling aus Syrien. Dabei verbindet sie alle meist wenig.
Wie gut jeder Einzelne in Deutschland zurechtkommt und wie gut Deutschland mit ihm klarkommt, unterscheidet sich gravierend.
Malte Küppers, 30, Jeans und Kapuzenpulli, läuft an einem Mittwochvormittag im April durch Duisburg-Marxloh, vorbei an Handyläden, Brautmodengeschäften und drei Streifenpolizisten, die auf dem Gehweg herumstehen. Er ist Sozialarbeiter an der Katholischen Grundschule Henriettenstraße in Marxloh, in jenem Stadtteil, der in Deutschland als Problemviertel schlechthin gilt. 95 Prozent der Schüler, die in der Henriettenstraße lernen, haben einen Migrationshintergrund. Mit anderen Worten: Von den 200 Grundschülern kommen noch 10 aus deutschen Familien.
Küppers ist an diesem Morgen unterwegs zu einer rumänischen Familie. Die drei Kinder, erzählt er, würden seit den Herbstferien nicht mehr zur Schule kommen. Keiner weiß, warum. Wenig später steht Küppers vor dem Haus, die Bewohner haben ihre Namen mit Edding auf die Briefkästen geschrieben. Im Erdgeschoss wohnt die Familie mit den Schulkindern, Küppers klingelt, klopft an die Tür. Niemand öffnet.
"Kann man nichts machen", sagt der Sozialarbeiter und dreht sich um. Rund dreimal pro Woche unternimmt er solche Hausbesuche in Marxloh. Bei den Eltern von Kindern, die mehr als 20-mal unentschuldigt im Unterricht gefehlt haben, steht Küppers auf der Matte. Er erklärt, dass es in Deutschland eine Schulpflicht gibt, dass man Bußgeld zahlen muss, wenn man sich nicht daran hält, und dass das Ordnungsamt kommt, wenn es so weitergeht. "Vielen ist unser System Schule fremd", sagt Küppers. Meistens hat er bei seinen Visiten Übersetzer dabei.
Küppers hat in seinem Büro in der Grundschule Platz genommen. Seit sechs Jahren arbeitet er in der Henriettenstraße, Küppers ist auch Deeskalationstrainer, ein Mann mit einem gelassenen Gemüt. Bis vor drei Jahren besuchten viele türkische und einige deutsche Kinder die Schule, fast alle sprachen Deutsch. Heute kommen die meisten Schüler aus Bulgarien, Rumänien, Syrien und dem Irak. Drei Viertel der Erstklässler verstehen nun kein Deutsch.
Was das im Alltag bedeutet?
Küppers streicht mit der Hand über seinen Vollbart, dann sagt er: "Kaum ein Kind schafft unsere Grundschule in vier Jahren, die meisten brauchen fünf oder sechs. An die normalen Lehrpläne können wir uns nicht halten, das ist ausgeschlossen. Wir verständigen uns in den ersten Monaten mit Händen und Füßen, es geht vor allem darum, dass die Kinder so schnell wie möglich die Sprache lernen. Die Lehrer besorgen Stifte für die Schüler und bezahlen sie aus eigener Tasche."
Seinen Optimismus hat Küppers trotzdem nicht verloren. Im Ruhrgebiet, sagt er, seien die türkischen Gastarbeiter unter Tage zu Kumpels geworden. "Warum soll das nicht wieder funktionieren?" Er sehe es als Teil seines Jobs, den Schülern zu helfen, eine neue Heimat zu finden. Es fehle aber "an sozialer Arbeit, an Lehrern, die sich trauen, hier anzufangen. Und wenn sie hier sind, müssen sie gelernt haben, was man tut, wenn man vor 20 Kinder tritt, die kein Wort verstehen."
Wie Küppers beklagen sich bundesweit Pädagogen und Lehrer über mangelnde Unterstützung und Verständnis seitens der Politik. Sie schreiben Brandbriefe, schlagen in den Medien Alarm und stellen meist desillusioniert fest, dass ihre Appelle ungehört verhallen.
"Auf die zweite Generation der Zuwanderer kommt es an", sagt der Berliner Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz. "Da muss Deutschland noch viel besser werden." Eines der größten Probleme ist, dass die soziale Durchmischung in den Städten nur schlecht gelingt. Häufig ist der Zuwandereranteil vor allem an jenen Schulen besonders hoch, die ohnehin schon in Problemvierteln liegen. Rund 70 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund in Großstädten besuchten Grundschulen, an denen mehrheitlich Zuwanderer und sozial benachteiligte Schüler lernen.

Hobbyfußballer des TSV Kriegshaber in Augsburg: "Neun Arbeitslose und am Ende der Saison keinen einzigen mehr"
Foto: Milos Djuric/ DER SPIEGELIm Generationenvergleich gibt es zwar leichte Verbesserungen, doch bleiben viele Migrantenkinder weit unter ihren Möglichkeiten. So liege der Anteil der Türkischstämmigen mit Hochschulreife in der zweiten Generation bei 25 Prozent. Bei den Einheimischen betrage er 43 Prozent. "Nach wie vor vererben also viele der Migranten ihren geringen Bildungsstand an ihre Kinder", sagt Klingholz.
Viele Bildungsexperten führen immer wieder Kanada als Musterbeispiel an, das in der vergleichenden Pisa-Studie der OECD regelmäßig einen der besten Plätze belegt. Dort wirkt sich der soziale Status kaum auf die schulische Leistung aus. Zuwandererkinder in der zweiten Generation erreichen in Kanada teilweise sogar bessere Leistungen als einheimische Schüler. Allerdings bringt der Vergleich nicht viel, weil Kanadas Einwanderungspolitik sich fundamental von der deutschen unterscheidet. Das Land wählt seine Arbeitsmigranten sorgfältig aus, sie sind meist gebildet und können fließend Englisch. 2016 nahm Kanada nur rund 50.000 Flüchtlinge auf.
Eine Situation wie in Deutschland, wo viele Zuwanderer als Asylbewerber ins Land kommen, etliche davon schlecht gebildet oder sogar Analphabeten, hat Kanada noch nie erlebt. Auch deshalb wird in Kanada Migration anders wahrgenommen.
Die Arbeitsmarktzahlen scheinen eher die Skeptiker zu bestätigen. Inzwischen hat mehr als die Hälfte aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher einen Migrationshintergrund. Jeder zehnte Hartz-IV-Empfänger ist Syrer. Die meisten von ihnen sind noch nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, lernen die Sprache oder qualifizieren sich. Die 2015 von manchen formulierte Hoffnung, syrische Flüchtlinge könnten den Fachkräftemangel in Deutschland quasi im Alleingang beseitigen, muss man wohl als Irrtum begreifen. Doch eine Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, wird mit Sicherheit keinem Syrer einen Job und damit eine Eintrittkarte in die deutsche Gesellschaft ermöglichen.
Besser wäre es anzuerkennen, dass Zuwanderung nach deutscher Art auch Probleme bringt. Und sich dann anzusehen, wie sich durch Bildung, Aufstiegschancen und Arbeitsplätze viele Probleme überwinden lassen. Voraussetzungen wie in Kanada sind schon aufgrund der Geografie nicht möglich. Keine Obergrenze kann daran etwas ändern. Allerdings muss die deutsche Regierung den Mut aufbringen, Zuwanderung stärker zu steuern, das europäische Asylsystem zu reformieren und auch effektivere Wege zu finden, abgelehnte Asylbewerber schneller wieder zurückzuschicken.
Jens Schneider vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück gehört zu den Optimisten in der Migrationsdebatte. Vielleicht liegt das an seinem Forschungsthema: Er beschäftigt sich mit Aufstiegschancen von Einwandererfamilien in Städten, die er "superdivers" nennt und unter denen es durchaus Positivbeispiele gibt. Dazu zählten viele süddeutsche Städte wie Stuttgart oder Augsburg, "wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat". In Augsburg lag der Migrationsanteil 2016 bereits bei 46 Prozent. Bald sind Menschen ohne Migrationshintergrund dort in der Minderheit.
Für viele AfD-Fans ein Angst einflößendendes Szenario - trotzdem ist Augsburg nicht als sozialer Brennpunkt bekannt. "Wegen der vielen Jobs in diesen Regionen funktionierte die Integration so geräuschlos und reibungslos", sagt Schneider. Das in vielerlei Formulierungen gekleidete Mantra von Parteien wie der CSU oder der AfD, gute Migranten seien die, die nicht da seien, gehe an der Realität vorbei. In Augsburg haben 64 Prozent der Einwohner unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund. "Die deutsche Mehrheit, die eine Minderheit Ausländer in die Gesellschaft integrieren muss, gibt es längst nicht mehr." Ein Kampf der Kulturen sei trotzdem nicht zu beobachten.
Integration bedeute strukturelle Teilhabe. "In dem Moment, in dem ich einen Job in Deutschland habe, ist der in der Regel so gut bezahlt, dass man sich ein Leben davon aufbauen kann." Arbeit sei ein großer Gleichmacher, sagt Schneider. "Die Sozialisation über Arbeit hat schon bei den Gastarbeitern funktioniert, und sie funktioniert auch heute noch."
Auf dem Bolzplatz geht es in Augsburg ebenfalls superdivers zu. Tabellenführer bei den Amateuren in der lokalen Kreisliga ist derzeit die Multikultimannschaft des TSV Kriegshaber. Die Spieler sind zwischen 19 und 43 Jahre alt und kommen aus 16 verschiedenen Nationen: Flüchtlinge und Asylbewerber aus Syrien, dem Irak und Gambia kicken mit Spätaussiedlern aus Osteuropa und Kindern ehemaliger Gastarbeiter, die längst einen deutschen Pass haben. Trainer Michael Heuberger gehört als gebürtiger Augsburger zur schwäbischen Minderheit in der Mannschaft. Auch ein Brasilianer, ein Italiener, ein Serbe und ein Kurde sind Teil seines Kaders. Teamkapitän Selcuk Kus ist Türke.
"Mit der Verständigung ist es nicht immer einfach", sagt Michael Heuberger, ein 57-jähriger Post-Mitarbeiter, der im Nebenjob als Trainer arbeitet. Wenn er auf Bayerisch "Jetzt pack mas!" brüllt, will er Tempo haben, erntet aber mitunter ratlose Blicke.
Seit dem 10. Spieltag führt der TSV Kriegshaber mit 17 Siegen und nur einer Niederlage überraschend die Tabelle an. Die unterschiedlichen Spielertypen machen die Mannschaft für den Gegner unberechenbar. "Wir haben keinen überragenden Mann, funktionieren rein als Mannschaft. Jeder rennt und kämpft für den anderen", sagt Trainer Heuberger. Um den Teamgeist zusätzlich zu fördern, gab es am Dienstag statt Training einen gemeinsamen Bierzeltbesuch auf dem Augsburger Plärrer, einem Volksfest.
Kriegshaber ist ein familiär geprägter Stadtteil im Westen von Augsburg. "Hier hilft man sich untereinander", sagt Heuberger. Er selbst habe "in einer Saison über 50 Bewerbungsanschreiben mitverfasst", erzählt er. "Wir hatten neun Arbeitslose und am Ende der Saison keinen einzigen mehr."
Wenn Deutschland eine Heimat für alle werden soll, brauchte man ein paar Zehntausend Heubergers.
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