Depeche-Mode-Popgötter Sie lieben und sie hassen sich

Depeche Mode am 11.10.2016 in Mailand
Foto: Vittorio Zunino Celotto/ Getty ImagesDies ist eine andere Depeche-Mode-Geschichte geworden, als wir sie eigentlich schreiben wollten, Verzeihung. Wir hatten vor Monaten um ein Gespräch mit Martin Gore gebeten, mit ihm allein. Gore ist der kreative Kopf dieser Band, die zu den einflussreichsten der Popgeschichte zählt, 37 Jahre gibt es sie nun, 100 Millionen verkaufte Platten, kürzlich ist das 14. Studioalbum ("Spirit") erschienen. So war es zugesagt und abgemacht.
Mit David Gahan, dem Sänger und Frontmann, wollten wir nicht so dringend reden, weil mit dem alle immer reden. Der Plan war, mit Gore ein langes Gespräch über seine besondere Beziehung zu Deutschland zu führen und, umgekehrt, über die besondere Liebe der Deutschen zu seiner Musik, zur Musik seiner Band, die in diesem Land so großen Erfolg hat wie kaum andernorts und offenbar mehr als in der Heimat Depeche Modes, Großbritannien. Der aktuelle Tourplan sieht volle zehn Arenakonzerte in Deutschland und der Schweiz vor, nur ein einziges in England. Der "Entdecker" der Band, der legendäre Gründer des Musiklabels Mute Records, Daniel Miller, wurde deshalb schon mit dem Satz zitiert, dass Depeche Mode "die größte deutsche Band" sei.
Und jetzt, ab kommenden Samstag, sind wieder Depeche-Mode-Festwochen in Deutschland, den ganzen Juni über tourt die Band durchs Land, in Leipzig geht es am 27. Mai los. Mehr als eine halbe Million Zuschauer werden zusammenkommen. Dann, wenige Tage vor dem Interview, trifft eine Nachricht des Managements ein: ein Gespräch nur mit Martin Gore sei nun doch nicht möglich, die Band wolle das nicht, es müsse mit beiden Herren gesprochen werden, und kürzer. Herr Gore wolle die Band nicht allein repräsentieren, das könnte zu Verstimmungen bei Herrn Gahan führen, man bitte um Verständnis. Ach, denkt man, sind die alten Kämpfe der beiden um die Depeche-Deutungshoheit also immer noch nicht ausgestanden? Keine Altersmilde im Hause Gore/Gahan?
Dann der Gedanke: Ist ja eigentlich noch viel besser. Wann hat man schon Gelegenheit, mit zwei Weltstars gleichzeitig zu sprechen, respektive hintereinander? Noch dazu mit zweien, deren komplizierte Beziehung oder Nichtbeziehung so legendär ist? Vielleicht wird ja eine Art Paartherapiesitzung draus. Vielleicht können wir etwas lernen: über Konfliktmanagement in Langzeitpartnerschaften.
Neuer Plan also: Wir reden mit Gore über Gahan und mit Gahan über Gore und stellen beiden dieselben Fragen. Wir wollen versuchen das seltsame Verhältnis dieser so ungleichen ewigen Gefährten verstehen zu lernen. Die Gespräche, getrennt geführt, werden dann im Text zusammenmontiert. Ein paar kurze Quatschfragen haben wir dann doch noch eingebaut, weil wir uns vom Deutschlandthema nicht ganz lösen konnten.

Gahan, Gore im Olympiastadion
Foto: Thomas BartillaSPIEGEL: Nennen Sie bitte drei Dinge, die Sie an Deutschland mögen.
Gore: Weizenbier! Das vermisse ich am meisten, seit ich nicht mehr trinke. Und Pumpernickel. Und drittens mag ich die deutsche Sprache insgesamt. Das sagen wohl nicht allzu viele Leute.
Gahan: Deutsche Autos! Aah. Porsche! Als ich jünger war, hatte ich ein paar davon. Was noch? Ich mag die Deutschen generell, die Leute. Mir gefällt, dass sie immer so pünktlich sind. Denn wenn ich es dann nicht bin, ist es trotzdem okay.
SPIEGEL: Ihr deutsches Lieblingswort?
Gahan: "Nein!"
Gore: "Schadenfreude".
Weiter kamen wir dann nicht mehr in der Analyse des spezifisch Germanischen bei dieser englischen Band mit französischem Namen. Ihre Musik, vom Genre her Elektropop, ist schon "rheinisch-preußisch" genannt worden. Vielleicht liegt es an der Kombination von naivem Weltschmerz in den Texten und bombastischem Sound, von Depression und Pathos. Wir Deutsche mögen ja so was. Den Briten sind Gore/ Gahan womöglich zu unironisch. Depeche Mode sind die Söhne, die Nietzsche und Nena nie hatten.
SPIEGEL: Wir möchten mit Ihnen über Ihr Verhältnis zueinander reden, okay?
Gore: (nickt)
Gahan: Oh, das ist mutig. Dann mal los!
Klar ist, dass Martin Gore und David Gahan nichts geworden wären ohne den anderen, gemeinsam aber wurden sie zu Giganten. Das wissen sie mittlerweile auch selbst. Ohne diese Freundfeindschaft, die die beiden verbindet und trennt, wären diese zwei Männer, jeder für sich, längst verschwunden in der Bedeutungslosigkeit.
Zusammen aber sind sie zum fixen Zwei- gestirn am Pophimmel geworden, das mittlerweile ebenso hell leuchtet wie andere, ältere Doppelsterne an diesem Firmament: Lennon/McCartney von den Beatles, Jagger/Richards bei den Rolling Stones, Page/Plant von Led Zeppelin. Manche dieser Duos kamen mindestens so schlecht miteinander klar wie Gore/Gahan - und das wirft natürlich die Frage auf, ob sich die vielen großen Männergespanne der Popmusik viel eher zum Erfolg geprügelt als beflügelt haben.
Als wir den beiden Briten - Gahan ist 54, Gore 55 Jahre alt - im Gespräch solche Vergleiche vorschlagen, weisen sie sie nicht zurück; das wäre falsche Bescheidenheit, damit Koketterie. Sie kennen mittlerweile ihre historische Größe.
Im Video: "Das ist Folter"
Gore: Diese Dualität, egal, ob bei uns oder anderen Bands, erzeugt Kraft, Energie. Die Paarungen, die Sie erwähnen, funktionieren, haben funktioniert. Oft gerade durch ihre Spannungen. Wie bei uns wohl auch.
Gahan: Viele dieser Paare waren auch Partner beim Komponieren der Songs, das ist bei Martin und mir anders. Er schreibt, ich singe - meistens. Trotzdem sind wir musikalisch abhängig voneinander. Ich war immer absolut abhängig von Martins Songs.
Ein starker, sehr ehrlicher Satz für einen professionellen Egomanen wie Gahan, das öffentliche Gesicht der Band, der schon von wesentlich ungesünderen Substanzen abhängig war. An einer davon ist der Mann ja bereits einmal gestorben, wie man weiß, klinisch tot für ein paar Minuten, 1996, wegen eines Speedballs, eines Gemischs aus Kokain und Heroin. Vielleicht sagt sich David Gahan seither: Tot war ich schon, da kann ich mit Depeche Mode ja ewig leben. Martin Gore wiederum war viele Jahre alkoholsüchtig. Eine kleine Drogenfrage darf also nicht fehlen.
SPIEGEL: Ihre bevorzugte Droge heute?
Gore: Rot fermentierter Reis. Das ist was Chinesisches, Reis mit Schimmelpilz.
Gahan: Aspirin! Es ist sicher die nützlichste Droge.
Wir sitzen in einer Suite des Hotels Waldorf Astoria in Berlin, standesgemäß. Es ist einer dieser Pressetage, an denen Weltstars wie Gore/Gahan ein paar internationalen Journalisten ein paar Minuten Redezeit gönnen. In der Lobby warten schon diverse Kollegen darauf, von den Assistentinnen hereinbeordert zu werden. Beim Interview gibt es Pressebeauftragte, die dabeisitzen und zwei Minuten vor Ende der Zeit darauf hinweisen, dass nun doch bitte die letzte Frage kommen soll. Aber, das muss man sagen, Gore/Gahan sind gut gelaunt, beide sehr freundlich, Gore geradezu wohlerzogen, Gahan etwas rauer, rockstarmäßiger, aber beide immer ohne jede Herablassung, die ihnen ja durchaus zustünde, so als Unsterblichen im Gespräch mit Gewöhnlichen.
SPIEGEL: Was ist der schlechteste Song, den Depeche Mode je aufgenommen hat?
Gahan: Oh Gott. Spontan fällt mir "Sea of Sin" ein. Da gab es die Zeile "Sea of Sin / I'm swimming in".
SPIEGEL: Das war dann vielleicht auch eine der schlimmsten Songzeilen?
Gahan: Wahrscheinlich. Hey, es war kein Song von mir, es war einer von Martin.
Gore: Ich nehme ein Stück von "Speak and Spell", unserer ersten Platte, die Songs hat damals noch Vince Clark geschrieben. Ich nehme "What's Your Name?". Übel.
Nun lacht Martin Gore sein mächtiges, kehliges Lachen durch die Suite, das so schlecht passt zu seiner hageren Gestalt, noch schlechter zu den hauchzarten Balladen, von denen er seit Jahrzehnten eine oder zwei pro Platte und pro Konzert zu deklamieren pflegt, als Ruhepausen im Soundgewitter, in scharfem Kontrast zu seinem lauten Bariton-Kompagnon.
Es ist vieles geradezu gegenteilig bei diesen beiden, denkt man, wenn man ihnen gegenübersitzt. Die Haare: Gahans dunkle Matte, Gores goldene Locken. Die Sitzhaltung: gerade und unbeweglich bei Gore, nervöses Herumlümmeln bei Gahan. Die Sprache: klar bei Gore, vernuschelt bei Gahan. Sogar die Zähne: Gores sind gemacht, es ist, als ginge ein Scheinwerfer an, wenn er den Mund aufmacht. Gahan hingegen versammelt eine schwer beschreibbare Sammlung an Reißwerkzeugen in seinem Kiefer, spitz und schief, wie sie einem Wolf gut anstünde. Passt natürlich zu seinem animalischen Bühnengeheul. Passt überhaupt gut zu seinem gierigen Leben.
Sie sind Antipoden in allem. Gore ist das unsichtbare Fundament, auf dem diese große Oper namens Depeche Mode steht, in der Gahan die ewige Hauptrolle singt und tanzt. Wer Depeche Mode nur vage kennt, kennt dennoch sicherlich David Gahans Stimme, sein Gesicht, ist vertraut mit seinen raumgreifenden Gebärden. Von Martin Gore aber kann der achtlose Popkonsument auch nach 37 Jahren noch nie gehört haben.
SPIEGEL: Sie scheinen beide immer noch viel Spaß zu haben auf der Bühne.
Gore: Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir kaum glauben können, dass wir nach über 30 Jahren noch die Möglichkeit haben, Konzerte zu geben. Dass Zehntausende Menschen auf uns warten, dass sie unsere Alben hören und uns spielen sehen wollen. Wir haben nie damit gerechnet.
SPIEGEL: Es sieht nicht so aus, als würden Sie beide bei Auftritten viel interagieren. Jeder macht sein Ding, korrekt?
Gahan: Wir kommunizieren miteinander durch die Songs. Ich habe eine Interpretation eines Songs, und Martin hat seine eigene. Aber irgendwie kommt das dann bei uns beiden zusammen, obwohl Mart und ich sehr verschieden sind. Martin ist allerdings natürlich der Hauptkomponist bei uns. Ich kann bloß ab und zu einen Song beisteuern, was großartig ist.
Ein Satz von plakativer Bescheidenheit. Wie David Gahan hier die schöpferische Führungsrolle seinem Partner zuschreibt, hat etwas Rührendes und auch etwas Tragisches, wenn man um die Auseinandersetzungen weiß, die die beiden darum geführt haben. Es ist die alte, lange ungelöste Frage der Gore-Gahan-Gewaltenteilung.
Wie bei jedem ernst zu nehmenden Liebespaar ging auch diese Beziehung durch verschiedene Phasen. Am Anfang, in den Achtzigern, sie waren fast noch Teenager, lief alles wie von selbst, Gore schrieb Hit um Hit, Gahan sang, was ihm vorgesetzt wurde, "Everything Counts", "People Are People", "Stripped". Das war Phase eins ihrer Freundschaft, die Zeit der Unschuld.

Depeche Mode Mitte der Achtzigerjahre
Foto: interTOPICS/Retna Ltd.Den Gipfel ihres Ruhms erreichte die Band dann in den frühen Neunzigern. Gore hatte für "Personal Jesus" die E-Gitarre ausgepackt, Gahan sang "Enjoy The Silence", die bis heute größte Depeche-Mode-Hymne. Die Erfolgsformel: Der extrovertierte Gahan bringt die dunklen Fantasien des grüblerischen Gore zum Leuchten. Viel später sagte Gahan einmal über jene Zeit und über sich als Sänger der Lieder seines Herrn: "Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Betrüger. Es sind nicht meine Worte. Es sind nicht meine Gefühle."
Dann kamen die Drogen und machten die Freunde zu Fremden, Phase zwei. Da war nun überall dieses große Zuviel an allem, zu viel Ruhm, zu viel Liebe, zu viele Kameras, zu viel Geld, zu viel Sex, zu viele oder die falschen Rauschmittel. Das hat schon stärkere Männer umgehauen als diese schmächtigen Jungs aus Basildon, Essex, Ostengland. Damit Gahan überhaupt auftreten konnte, wurde ihm vor den Konzerten Kortison gespritzt. Gore trank unablässig, erlitt Krampfanfälle, brach mehrmals zusammen. Sie sprachen kaum noch miteinander, fuhren jeder für sich vom Hotel zur Konzerthalle, benutzten getrennte Garderoben. Auf Tour begleiteten sie ein Drogendealer und ein Psychiater. Gahan ereilte während eines Auftritts ein Herzinfarkt, im August 1995 versuchte er, sich umzubringen. Phase zwei war der Abgrund.
SPIEGEL: Haben Sie einander beizustehen versucht in Ihren Krisen?
Gore: Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass Dave sich selbst zerstört. Auch ich hatte ja meine Probleme, konnte aber immerhin noch irgendwie weitermachen, selbst wenn ich betrunken war. Wir hatten beide unsere tiefsten Krisen zur selben Zeit, sodass wir nicht die Kraft hatten, füreinander da zu sein. Es gab Zeiten, da war es sehr schwer, mit ihm zu arbeiten.
Sätze wie diesen kann man in den Biografien diverser großer Rockbands lesen. Keith Richards zog 2010 und nach fast 50 Jahren Rolling Stones das Fazit, dass Mick Jagger "es sehr schwer macht, mit ihm befreundet zu sein". Die Beatles waren an der Rivalität von John Lennon und Paul McCartney innerlich zerbrochen, und noch lange nach Lennons Ermordung versuchte McCartney das Urheberkürzel "Lennon/ McCartney" für etliche Songs in "Paul McCartney and John Lennon" umzudrehen. Berühmte Streithähne der jüngeren Popkulturgeschichte sind etwa James Hetfield und Lars Ulrich von Metallica oder die Brüder Noel und Liam Gallagher von Oasis. Letztere haben sich 2009 schließlich getrennt, nachdem der eine backstage mit einer Gitarre auf den anderen eingeschlagen hatte. Mit ihren Solokarrieren kamen beide dann kaum mehr vom Fleck. Denn Paarungen dieser Art sind wie Chemikalien, die, wenn sie zusammenkommen, eine enorme Sprengkraft entwickeln, für sich allein aber harmlos sind.

Fotostrecke: Ein Rückblick in Fotos
Mitte der Neunziger stand auch Depeche Mode kurz vor der Auflösung. Es kam so weit, dass Gore, je mehr Gahan sich ruinierte, darüber nachdachte, seine neuen Songs auf einem Soloalbum zu veröffentlichen. Die Nummer vier bei Depeche Mode, Alan Wilder, war da bereits ausgestiegen und die Nummer drei, Andrew Fletcher, spielte wie seit je und wie bis heute keine große Rolle. Aus den Depeche-Mode-Abstürzen jener Jahre hat der Schweizer Schriftsteller Daniel Mezger 2015 einen Bühnentext gemacht, einen fiktiven Monolog David Gahans, eine fiese Zumutung mit dem Titel "Als ich einmal tot war und Martin L. Gore mich nicht besuchen kam". An manchen Stellen malt der Autor sich aus, wie sich die Gespräche zwischen Gore und Gahan abgespielt haben könnten (Im Text hat Gahan gerade mit Britney Spears was laufen, kann sich aber ihren Namen nicht merken).
"Martin ruft an. Martin sagt: Dave, wir müssen reden. Ich sage: Reden wir. Martin schweigt. Ich schweige. Martin sagt: Ich habe mir deine Gesangs-Takes angehört. Ich sage: Kennst du diese Wittney Seares, die wäre was für dich. Klein und 15. Martin sagt: Das ist doch keine Band mehr, so ohne Alan und nur mit Fletch, der eh nichts kann, und mit dir da drüben in L.A. Ich sage: Die ist richtig gut, diese Sidney Cheers, hüpft wie ich zu meinen besten Zeiten. Er sagt: Ich habe mir überlegt, wenn du keine Lust hast und keine Stimme, dann kann ich das Album auch allein machen. Ich sage: Das passt ganz gut, ich wollte mir heute eh noch eine Kugel in den Kopf schießen."
David Gahan hat überlebt, und als es ihm wieder besser ging, begann in den Nullerjahren die nächste Phase dieser öffentlichen Männerfreundschaft. Und wie in einer Ehe, die auf der Kippe steht, sagte Gahan nun gleichsam zu Gore: Martin, ich brauche etwas Zeit für mich allein. Er machte ein Soloalbum. Er machte dem Chef Konkurrenz. Nun, endlich, schien Gore verstanden zu haben, und auf "Playing the Angel", 2005, durfte nach 25 Jahren auch Gahan erstmals ein paar Songs beisteuern. Das war, im dritten Jahrzehnt, die Phase drei ihrer Beziehung: die Zeit der Kompromisse. Wie in einer guten Ehe auch.
SPIEGEL: Wie war das, als Dave begann, Songs zu schreiben?
Gore: Es war ein Schock für mich. Bis dahin war ich der alleinige Komponist seit 20 Jahren. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe. Damals hat Dave gesagt, du bist ein Diktator. Aber ich habe mich nie als Diktator gesehen.
SPIEGEL: Kein Diktator empfindet sich als Diktator.
Gore: Auch wieder wahr. Aber ich habe nie zu ihm gesagt: Du kannst keine Songs schreiben, du darfst keine Songs schreiben.
SPIEGEL: Beim neuen Album und zum ersten Mal in der Bandgeschichte hat es nun mit "You Move" ein Lied, das Sie beide gemeinsam geschrieben haben, auf die Platte geschafft, nicht nur als Bonustrack. Wie entsteht ein gemeinsamer Gore/Gahan-Song?
Gahan: Nun, zunächst mal entsteht er nicht wirklich gemeinsam, denn wir sitzen jetzt nicht im selben Raum dafür oder so.
SPIEGEL: Nicht? Sondern?
Gore: Ich schreibe immer allein, in meinem Studio in Santa Barbara. Bei dem Song hatte ich eine Idee und schickte Dave ein Sound-File per E-Mail.
Gahan: Irgendwann fielen mir dann mitten in der Nacht eine Melodie und eine Zeile ein, "I like the way you move for me tonight", die dazu passte. So kam alles zusammen.
Wir dürfen uns wohl eine Über-Band wie Depeche Mode nicht mehr wirklich als "Band" vorstellen, als verschworene Gruppe von Musikern, die gemeinsam Kunst machen, sich einen Lebensraum und eine Leidenschaft teilen. Eher gleichen sie einer global vernetzten Firma mit unschätzbarem Markenwert, im Besitz von drei Multimillionären, mit bestimmt Hunderten von Angestellten, Zulieferern und anderen Mitprofiteuren. Die Chefs selbst führen eine reibungsmindernde Fernbeziehung, sie wohnen in Kalifornien (Gore), New York (Gahan) und London (Fletcher) und haben je eigene Leben, eigene Frauen und Exfrauen, eigene Kinder und Stiefkinder, eigenes Hauspersonal und eigene Zweit- und Drittwohnsitze.
SPIEGEL: Wie oft haben Sie Kontakt, wenn Sie nicht auf Tour oder im Studio sind?
Gahan: Wir schicken uns manchmal E-Mails, fragen, wie geht's dir so? Aber wir sehen uns nicht sehr oft.
Gore: Eigentlich kaum. Wir telefonieren vielleicht ein- oder zweimal im Jahr.
SPIEGEL: Ganz schön selten.
Gore: Nun, wir sind schon so lange zusammen. Es ist wie in einer alten Familie, wenn alle längst ausgezogen sind und an verschiedenen Orten leben: Wenn es nichts gibt, was man wirklich sagen muss, dann gibt es keinen Grund anzurufen.
SPIEGEL: Sie rufen Ihre Mutter nur einmal im Jahr an?
Gore: Ha! Wenn ich das so machen würde, bekäme ich wohl ziemlichen Ärger.
In der Hotelsuite, wo die Interviews stattfinden, ist ein kleines Buffet aufgebaut, mit gesunden Getränken und Früchten, Gore ist Vegetarier und überhaupt, wie man hört, ein ziemlicher Ernährungsfanatiker. Dort treffen sich Gore und Gahan zwischen den Interviews, um an ein paar Trauben und Nüsschen zu knabbern, sie haben sich offenbar seit dem Vorabend nicht gesehen, sie begrüßen und umarmen sich.
Martin Gore und David Gahan befinden sich mittlerweile in Phase vier ihrer Partnerschaft. Auf die Perioden der Unschuld, des Abgrunds und der Kompromisse folgt nun die Harmonie. Diese Entwicklungsschritte, wenn man drüber nachdenkt, erscheinen so allgemeingültig, dass man nach dem Schema auch einen Eheratgeber schreiben könnte. Wer nach Jahrzehnten noch oder wieder zusammen ist, die tiefsten Krisen überstanden hat, der bleibt dann auch dabei. Die reife Phase jeder Liebe ist der permanente Waffenstillstand. Auf Tour gehen Gore/Gahan nun ohne Dealer, ohne Psychiater, dafür mit Physiotherapeuten, von denen sie vor und nach den Konzerten massiert werden. Manchmal reisen auch Frauen und Kinder mit.

Depeche Mode-Konzert in Birmingham
Foto: Katja Ogrin/empics /Action PressSPIEGEL: Sie verstehen sich ziemlich gut jetzt, richtig?
Gahan: Absolut. Es gab Brüche über die vielen Jahre, wie das halt so passiert, wenn man lange miteinander zu tun hat. Es ist wie in einer Ehe. Man verbringt verdammt viel Zeit miteinander. Es war immer interessant mit uns, und es war niemals leicht.
SPIEGEL: Es ist wie eine Ehe, nur länger.
Gahan: Yeah, die Band hat zwei meiner Ehen überlebt!
SPIEGEL: Apropos altes Ehepaar: Hat Martin irgendeine Eigenart auf der Bühne, die Ihnen auf den Wecker geht, Dave?
Gahan: Hm. Da fällt mir jetzt nichts ein. Ich achte auch nicht so sehr darauf, was er tut, muss ich zugeben.
SPIEGEL: Wie ist das bei Ihnen, Martin?
Gore: Oh ja, da gibt es etwas: Egal, wie heiß es ist, Dave hat immer solche Heizstrahler vor sich auf der Bühne, die 100 Grad warme Luft rausblasen. Wir spielen im Sommer in den Südstaaten der USA, es ist schwül und heiß, aber Dave muss seine Strahler anhaben!
SPIEGEL: Womit würden Sie heute Ihre Beziehung vergleichen? Sind Sie beste Freunde? Beste Feinde? Oder eben tatsächlich ein altes Ehepaar?
Gore: Wir sind Brüder, was sonst?
Man kann den Hauptgrund der Magie dieser Band leicht übersehen, wenn man dauernd darüber nachdenkt, wie unvereinbar diese beiden Egos doch sind. Mag sein, dass Gore der Erfinder ist und Gahan nur der Interpret; mag auch sein, dass Gores Kunst unsichtbar wäre ohne Gahans Stimme und Gesicht. Aber das Wichtigste ist: In fast allen großen Liedern von Depeche Mode gibt es diesen Moment, wenn sich die Stimmen der beiden zum Refrain vereinen, zu diesem hypnotischen, unzertrennlichen Doppelklang. Und das ist auch der Augenblick, da sich beim Zuhörer zuverlässig die Haare auf den Armen aufrichten, da im Publikum die Glückshormone fließen, so wie jetzt wieder, wenn in deutschen Stadien Zehntausende mitsingen, mitschreien: All I ever wanted/All I ever needed/Is here in my arms.
Sehen Sie das Interview im Video: