Unternehmen und ihre NS-Vergangenheit Deutsche Peinlichkeiten

Die deutsche Wirtschaft war an den Verbrechen der NS-Zeit beteiligt, sie hat von ihnen profitiert. Doch Unternehmen wie Bayer, Daimler und viele andere leugneten diese Schuld - noch Jahrzehnte nach dem Krieg.
An­ge­klag­ter ter Meer in Nürn­berg 1948

An­ge­klag­ter ter Meer in Nürn­berg 1948

Foto: STR/ AP

Es war ein fürchterlicher Satz, den Fritz ter Meer 1948 sagte, in den Vernehmungen der Alliierten. Es war im IG-Farben-Prozess, in dem der deutsche Manager schließlich wegen Versklavung und Plünderung zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Ter Meer hatte den Aufbau des IG-Farben-Werks in Auschwitz mitverantwortet, bei dem etwa 30.000 Menschen ums Leben gekommen waren. Seine Verteidigung? Den Zwangsarbeitern sei kein besonderes Leid zugefügt worden, "da man sie ohnedies getötet hätte".

Fritz ter Meer starb 1967. Doch beim IG-Farben-Nachfolger Bayer hielt man über Jahrzehnte ein ehrfürchtiges Gedenken an ihn wach. Noch im Jahr 2006 ließen Aufsichtsrat und Vorstand der Bayer AG an ter Meers Grab in Krefeld einen Kranz aufstellen.

Bereits nach seiner Haftentlassung war er in der Firmenzentrale mit offenen Armen empfangen worden. Das Comeback des Kriegsverbrechers, der den Alliierten die Stirn geboten hatte, beeindruckte und prägte den Konzern über ein halbes Jahrhundert. Doch woher kam diese unverwüstliche Treue? Warum konnten sich verharmlosende Lesarten vom "anständigen Kaufmann" so lange halten und sich Täter zu Opfern stilisieren?

Diese Fragen sind längst nicht abgehakt und auch nicht abschließend beantwortet. Der Politologe Sebastian Brünger hat sie nun zum Anlass genommen, den Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit zu untersuchen. Sein lesenswerter Längsschnitt - der erste dieser Art - reicht von 1945 bis in die Gegenwart. Brünger erzählt die Geschichte einer Verdrängung. Er zeichnet das Bild einer prosperierenden Wirtschaft und einer Republik, die Panik hatte, zurückzuschauen, und Jahrzehnte brauchte, um sich den Opfern anzunähern.

Das Buch seziert die Entlastungsstrategien der Konzerne und ihrer Herren. Die eigene Verstrickung - sie wurde umgedichtet, verleugnet, verschleppt. Der Phase verstockter Selbstbehauptung nach 1945 folgte in den Sechzigerjahren eine Art Ehrenrettung im Systemwettstreit: Kritik konnte als kommunistische Propaganda vom Tisch gewischt werden. Erst 40 Jahre nach dem Krieg löste sich die historische Verkrampfung - zunächst unfreiwillig: Zum Fest des 100-jährigen Bestehens wurde Daimler-Benz 1986 mit dem Thema Zwangsarbeit konfrontiert. Die Reaktion des Konzerns markierte einen unternehmenshistorischen Wandel: Statt der üblichen Rechtfertigungsreflexe stellte man sich der Vergangenheit.

Der Prozess dieses Eingeständnisses dauerte lange, und er liest sich von heute aus wie eine Sammlung historischer Peinlichkeiten. Noch 1992 blockte etwa Siemens Entschädigungen mit dem Argument ab, der Konzern habe Zwangsarbeiter "nicht freiwillig genommen" und sich an ihnen "nicht ungerechtfertigt bereichert".

Brünger spricht von "eingängigen Entlastungsnarrativen" - Erzählungen also, bei denen Fakten allein nicht viel bedeuten. Die Täter schoben die vermeintliche NS-Zwangswirtschaft vor, machten sich so klein wie möglich - und plötzlich waren sie Opfer. So geht das, quer durch die Jahrzehnte.

Und es waren durchaus honorige Männer, die dabei assistierten, die deutsche Wirtschaft reinzuwaschen. Altbundespräsident Theodor Heuss etwa half dem Krupp-Konzern bei dessen 150-Jahr-Feier, für ein sechsstelliges Honorar. Die Herstellung von Waffen, formulierte Heuss relativierend, sei ein "einfacher historischer Tatbestand". Business as usual. Firmenjubiläen waren überhaupt willkommene Anlässe, die Geschichte umzuschreiben.

Als der Edelmetallhersteller Degussa im Jahr 1973 sein 100-Jähriges feierte, wurden Arisierungen zu Firmenübernahmen umgebogen. Das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B eines Degussa-Ablegers, das zum industriellen Massenmord in Auschwitz gedient hatte, wurde nicht erwähnt. Stattdessen durfte Festredner Golo Mann die Firmengeschichte der Degussa-Kaufleute zu einem Entwicklungsroman "im Stil der ,Buddenbrooks'" verklären.

Die beliebteste Entlastungsmelodie war die der vermeintlichen vaterländischen Pflicht - was auch immer an Grausamkeiten sie einschloss. Sie wurde das prägende Nachkriegsnarrativ der Gesellschaft. Bald kehrten die Täter von gestern an die Schaltstellen zurück, ter Meer etwa wurde bei Bayer Vorsitzender des Aufsichtsrats.

Um kritische Stimmen im zusehends wichtigeren amerikanischen Markt zu entkräften, leistete sich Bayer ab 1954 einen ehemaligen US-Generalmajor als PR-Berater - für 50.000 Dollar im Jahr. Der konnte zwar nicht verhindern, dass die sich in Liquidation befindliche IG Farben nach langem Rechtsstreit mit der Jewish Claims Conference 1957 knapp 30 Millionen Mark an mehrere Tausend ehemaliger Zwangsarbeiter der "IG Auschwitz" zahlen musste. Dennoch lehnten Bayer-Manager eine rechtliche Verantwortung strikt ab.

Grundlage für diese Argumentation war das Londoner Schuldenabkommen von 1953, mit dem individuelle Forderungen ehemaliger ausländischer Zwangsarbeiter in den Bereich staatlicher Reparationsregelungen abgeschoben werden konnten. Auf einen endgültigen Friedensvertrag. Auf Sankt Nimmerlein.

Das Abkommen hatte ein Mann ausgehandelt, der im "Dritten Reich" gute Geschäfte gemacht hatte und dann zur Ikone des Wirtschaftswunders geworden war: Deutsche-Bank-Vorstand Hermann Josef Abs. Bei ihm liefen die Strippen der Deutschland AG zusammen: Abs saß in über 25 Aufsichtsräten. Auf Reisen mussten Assistenten 16 Aktenkoffer hinter ihm herschleppen, damit alles griffbereit war.

Abs und die Bank waren es, die die deutsche Erinnerungskultur noch einmal weit zurückwarfen. Über Abs' Rolle in der Nazizeit war 1970 eine erbitterte Debatte ausgebrochen, ausgelöst durch einen Historiker aus der DDR, Eberhard Czichon.

Ban­kier Abs (vorne im Bild) 1953

Ban­kier Abs (vorne im Bild) 1953

Foto: Fox Photos/ Getty Images

Pünktlich zur 100-Jahr-Feier der Bank 1970 brachte der Kölner Verlag Pahl-Rugenstein, der von der SED gesponsert wurde, Czichons Buch "Der Bankier und die Macht" auf den Markt. Abs und die Bank wurden darin als skrupellose Profiteure der Expansionspolitik der Nazis dargestellt, die okkupierte Länder mit ausgeplündert und von Arisierungen profitiert hätten. Die Bank klagte auf Unterlassung, es kam zum Ost-West-Showdown am Stuttgarter Landgericht.

Die DDR-Führung hatte Czichon zunächst unterstützt. Im Keller des Deutschen Wirtschaftsinstituts in Ostberlin war der Historiker nämlich auf Tausende brisante Akten von Abs und der Bank gestoßen, die diese 1945 in Berlin hatte zurücklassen müssen. Er hatte allerdings auch einiges übersehen und anderes aufgeblasen, was die Akten so nicht hergaben. Schließlich ließ die SED Czichon fallen, und Abs gewann den Prozess.

"Verraten und verkauft" habe er sich gefühlt, sagt Czichon, heute 86 Jahre alt. Im engen Arbeitszimmer seiner Ostberliner Wohnung schlurft der Historiker zwischen Schreibtisch und Bücherstapeln auf einem schmalen Gang zum Sofa. Aus den Prozesstagen kann er jedes Detail abrufen: Wie er unter der "Kuratel" seines Ostberliner Anwalts stand, wie man statt der geplanten Propagandaschlacht plötzlich klein beigab: Czichons Buch war in die Phase der zaghaften Annährung zwischen der DDR und der BRD geraten, scharfe Kritik plötzlich nicht mehr opportun.

Der Mythos des mächtigen Bankiers Abs begann erst 1985 zu bröckeln. Den alten Entlastungskanon sangen plötzlich nicht mehr alle mit. Die neue Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte stieß die Übersetzung des teils in US-Archiven verschollenen Omgus-Reports der US-Militärregierung über die Deutsche Bank an. Übervater Abs war nun nicht mehr zu entschuldigen.

Der Omgus-Report drehte die Debatte. Die Zeit des Leugnens war vorbei. Das musste auch Daimler erfahren. Die Sozialforscher aus Hamburg kündigten 1986 ihr eigenes Daimler-Buch zur NS-Zeit an - ein Gegenstück zu der zahmen Auftragsarbeit, mit der sich Daimler durchwurschteln wollte. Der Aktenzugang war ihnen zwar noch verwehrt worden, sie bekamen jedoch Dokumente aus dem Archiv zugespielt. Die Forscher beschrieben Daimlers Rolle bei der Kriegsvorbereitung und den technokratischen Umgang mit Menschenleben. Vor allem aber: Sie kehrten das jahrzehntelang gültige Opfernarrativ einfach um - im "Dritten Reich" habe nicht die Politik die Wirtschaft bestimmt, sondern die Wirtschaft kommandierte die Politik.

Das saß. Und Daimler reagierte: Der Konzern blickte nun erstmals auf die Opfer. Eine Studie zu Zwangsarbeitern wurde in Auftrag gegeben, man lud ehemalige Zwangsarbeiter zu sich ein.

Die Reaktion der Daimler-Führung markierte die unternehmenshistorische Wende: Es kam zu einem Boom der Auftragsforschung. Und dennoch war es wieder nur ein kleiner Schritt. Individuelle Entschädigungsansprüche wehrte die Industrie weiter ab.

Die Lösung kam mehr als 50 Jahre nach Kriegsende, im Jahr 2000 durch die mit zehn Milliarden Mark ausgestattete Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Der Weg dorthin war von Ärger begleitet. Auschwitz werde instrumentalisiert, hieß es, die verhandelnden US-Anwälte nannte SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein "Haifische". 

Mit etwas Abstand ist jedoch erkennbar, welch günstiger Deal der deutschen Wirtschaft geglückt war: Zum einen trug die Hälfte der Summe der Steuerzahler. Zum anderen waren fünf Milliarden Mark ein Bruchteil der Kriegsprofite: Um die vorenthaltenen Löhne der Zwangsarbeiter zu begleichen, wären laut einer Studie in Zeitwert 180 Milliarden Mark fällig gewesen.

Bis heute weichen viele Unternehmen der Erinnerung an die eigene Geschichte aus. Der Düsseldorfer Henkel-Konzern etwa illustriert die 140-jährige Firmengeschichte im Internet in einer lustigen Zeitreise, in der fast jeder Bezug zum Nationalsozialismus ausgespart wird. Deutlich mitteilsamer war der Konzern noch 1947. In einer Broschüre mit dem Titel "Leben oder Tod" sah man sich genötigt, "an das Weltgewissen" zu appellieren. Durch die Demontagepolitik drohte nämlich ein unkalkulierbares Reinheits-Risiko: der Ausfall der Waschmittelproduktion in Düsseldorf.

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