Digitale Zukunft Industrie 4.0 - der Mittelstand kommt nicht hinterher

Hoch automatisierte Verpackungsmaschine (Computersimulation)
Foto: Bernd vom Hofe/ SiemensVor 92 Jahren gelang dem schwäbischen Tüftler Hugo Stotz die Erfindung seines Lebens. Er baute einen Automaten, der den Stromfluss bei Überlast oder Kurzschluss blitzschnell unterbricht und sich - anders als die Schmelzsicherung - wieder einschalten lässt. Bahnbrechend sei der Mechanismus gewesen, sagt ABB-Deutschland-Chef Hans-Georg Krabbe: "Eine disruptive Technologie, würde man heute dazu sagen."
Krabbe, ein Mittfünfziger mit Bürstenschnitt, steht vor einer Vitrine im Werksmuseum der ABB Stotz-Kontakt in Heidelberg, er fischt ein porzellanweißes Exponat heraus. "Das ist der Klassiker", sagt der Manager und hält den Schalter vor sich wie Hamlet den Schädel. Hunderte Millionen solcher Sicherungen sind im Einsatz, sie funktionieren noch immer nach dem genialen Prinzip von 1924 - nur gefertigt werden sie ganz anders, wie gegenüber vom Museum zu sehen ist: Dort hat ABB eine digitale Traumfabrik errichtet.
Auf einer 60 Meter langen Montagelinie werden die Schalter Station für Station zusammengesetzt, ohne dass eine Hand eingreift, jedenfalls keine menschliche: Flexpicker nennt sich der Roboter. Seine Spinnenarme suchen aus einer Vielzahl von Kupferspulen auf den zehntel Millimeter immer genau jene heraus, die gerade an der Reihe ist, und setzen sie ins Gehäuse ein, Fehlgriff ausgeschlossen. Jede Minute spuckt die Anlage rund hundert Schalter aus, etwa 5000 Varianten sind im fliegenden Wechsel möglich.
Im Video: Was bedeutet "Industrie 4.0"? Modewort? Oder steckt wirklich eine Idee dahinter? SPIEGEL-Redakteur Alexander Jung erklärt, was es mit dem Begriff "Industrie 4.0" auf sich hat.
Die Schalterfertigung in Heidelberg demonstriert, was "Industrie 4.0" oder das "Internet der Dinge" in der Realität der Fabrik bedeuten: ein ausgeklügeltes Produktionssystem, voll vernetzt, das sich im besten Fall selbst steuert und organisiert. Vom Bestellen der Sicherung bis zum Rechnungsversand läuft hier fast alles automatisch, "Order to Cash" laute das Prinzip, sagt Krabbe. Nur 4 bis 8 Mitarbeiter betreuen die ABB-Anlage je Schicht, früher waren rund 80 Leute nötig.
Alle Schwergewichte der deutschen Industrie haben solche Vorzeigewerke aus der Wunderwelt der Automation errichtet: ABB in Heidelberg, Siemens in Amberg, Bosch in Homburg/Saar. Sie dienen als Blaupause für andere Standorte. Auch bei den Maschinen, die sie in diesen Werken herstellen, geht fast nichts mehr ohne Internetanschluss. Heute sei die Hälfte der Bosch-Produkte vernetzt, schätzt Konzernchef Volkmar Denner. 2020 soll es die gesamte Palette sein, gibt der Bosch-Boss als Ziel aus: jede Scheibenwischanlage, jede Bohrmaschine, jeder Laubbläser.
Die deutsche Industrie ist im digitalen Zeitalter angekommen, zumindest große Teile von ihr. Mehr als 90 Prozent von 200Unternehmen, die die Beratungsfirma PwC befragen ließ, gaben an, bereits in die Digitalisierung ihrer Fabriken zu investieren; fast alle, 98 Prozent, tun dies mit der Absicht, effizienter zu werden. Und dabei kommen sie offenbar gut voran.
Auf der Hannover Messe, die an diesem Montag beginnt, präsentieren Unternehmen Maschinen, die vorausschauend melden, wenn ein Radlager zu brechen droht, und automatisch das Ersatzteil bestellen. Sie führen Hightech-Brillen vor, die dem Mechaniker anschaulich machen, wie er eine Komponente einbaut. Sie zeigen sogenannte digitale Zwillinge von Maschinen, mit deren Hilfe sie Abläufe auf dem Tablet vorab simulieren. Sie lassen Roboter in Aktion treten, die Mitarbeitern in der Werkshalle zur Seite stehen - und deren Fehler ausbügeln.

Telekom-Chef Höttges: "Etwas passiert in Deutschland"
Foto: Xinhua/ imagoDie digitale Hochtechnologie dringt tief in die deutsche Industrie ein, sie verwandelt herkömmliche Fabriken in hocheffiziente Smart Factories. "Wir nehmen hier auch international eine führende Rolle ein", sagt ABB-Mann Krabbe.
Solche Töne waren vor wenigen Jahren selten zu hören. Damals fürchteten viele heimische Manager, dass amerikanische Digitalgiganten wie Google, Facebook oder Amazon die Geschäftsmodelle der deutschen Paradedisziplinen Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau förmlich zertrümmern würden, so disruptiv wie einst der stotzsche Schalter. Daten schienen relevanter zu sein als Dinge, Software und Algorithmen wichtiger als das Produkt. Inzwischen hat die Old Economy ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen.
Die Industrie habe die Herausforderung verstanden, sagt der SAP-Innovationsvorstand Bernd Leukert: "Wir können stolz darauf sein, wo wir stehen." Auch Deutsche-Telekom-Chef Timotheus Höttges bemerkt, "dass etwas passiert in Deutschland".
Früher habe er oft gesagt, die erste Hälfte des Matches sei verloren, sagt Höttges. Inzwischen sieht er die Aussichten für die zweite Halbzeit deutlich günstiger: "Es gibt keinen Grund, noch mal zu verlieren."
Dafür spricht zum Beispiel, dass der amerikanische IT-Konzern IBM seine weltweite Zentrale zur Erforschung des Internets der Dinge in Deutschland eröffnet hat, in einem Quartier im Münchner Norden, "Silicon Schwabing" genannt. Warum in München und nicht in San Francisco oder Shanghai? "Weil wir hier mitten im Herzen des industriellen Sektors sind", antwortet IBM-Forschungschef John Kelly.
In einem der höchsten Bürotürme der Stadt haben die Amerikaner die oberen 14 von 28 Etagen besetzt, dort entwickeln sie gemeinsam mit ihren Kunden Geschäftsideen für das Internet der Dinge. Bosch und BMW sind dabei, auch Schaeffler, der fränkische Autozulieferer, ist mit einem Team hier eingezogen, in den 24.Stock mit Blick auf das Alpenpanorama. An den Tafeln kleben die unvermeidlichen Utensilien von Kreativ-Workshops: Haftzettel in Gelb, Rot, Grün, mit Edding beschriftet, unterteilt in die Arbeitsstufen "To Do", "In Progress", "Done".
IBM-Mann Kelly hat es auf klassische Industriekunden abgesehen. Sein Unternehmen wisse, wie das produzierende Gewerbe funktioniere, wirbt er: "Wir sind in der Lage, durch die Industriebrille zu schauen." Keine Spur von der Überheblichkeit, mit der US-Digitalgiganten früher auf Europa herabgeblickt haben. Heute begegnen sich die Unternehmen auf Augenhöhe: IBM und Bosch, Microsoft und Siemens, Google und Daimler betrachten sich als "Frenemies", als eine Mischung aus "Friend" und "Enemy", Partner und zugleich Wettbewerber.
Manches deutet sogar darauf hin, dass deutsche Produkthersteller ihre Betriebe zuweilen schneller digitalisieren, als die US-Digitalspezialisten das Produktionsgeschäft erlernen. Elon Musk, Chef des Elektroauto-Pioniers Tesla, musste sich im November vorigen Jahres für den Bau seiner Batterie-"Gigafactory" in Nevada erst mal deutsches Know-how einkaufen: einen Spezialbetrieb für automatisierte Fertigung aus der Eifel. Aber genügt es, dass die deutsche Industrie besser als alle anderen weiß, wie sich Betriebsabläufe optimieren lassen? Geht die Transformation weit genug?
Ist das noch Bosch?
Bei Bosch, dem 130 Jahre alten Elektrokonzern, ist eine Menge in Bewegung geraten. Vor drei Jahren noch genügte ein Hotelkonferenzraum für die 450 Teilnehmer der ersten "Connected World", der hauseigenen Digitalmesse. In diesem Jahr drängten rund 2700 Besucher in die Hallenfluchten des ehemaligen Dresdner Bahnhofs in Berlin, selbst ein 600-PS-Mähdrescher fiel nicht weiter auf.
Die Landmaschine diente als Anschauungsobjekt für "Precision Farming", eines der neuen Felder, auf denen Bosch tätig ist und eigene Start-ups gegründet hat. Eines davon, Deepfield Robotics, entwickelt Geschäftsmodelle für das "Internet der Felder und Pflanzen". Sensoren messen Temperatur und Feuchtigkeit im Ackerboden, der Bauer erkennt auf einer App, wie es um seine Frucht bestellt ist. Eine andere Bosch-Gründerfirma, Mayfield Robotics, hat in Kalifornien einen Heimroboter gebaut. Kuri heißt er, einen halben Meter ist er groß, hat runde Kulleraugen, rollt durch den Raum und soll eine Art Haushaltshilfe werden, die den Kindern vorliest oder die Wohnung überwacht.

Hoch automatisierte Verpackungsmaschine (Computersimulation): Ein Hype, sogar eine Gefahr
Foto: Bernd vom Hofe/ Siemens"Ist das noch Bosch?", fragten jetzt manche ungläubig, erzählt Stefan Hartung, Geschäftsführer unter anderem für den Bereich Industrietechnik. "Aber sicher", laute seine Antwort, schließlich heiße der Konzernslogan "Technik fürs Leben". Dazu gehöre eben nicht nur der Roboter in der Produktion, sondern auch der Assistent für das Zuhause.
Bislang konzentrierte sich Bosch darauf, Hardware zu verkaufen, quasi kiloweise, alles rundherum ausgetestete Produkte. Jetzt gewinnt es immer größeres Gewicht, Software zu entwickeln, die naturgemäß niemals perfekt ist - was für Ingenieure alter Schule eine Zumutung bedeutet. "Bosch erfindet sich gerade neu", sagt Hartung.
Die Agenda der Digitalmesse las sich so, als drehte sich im Unternehmen alles nur noch um künstliche Intelligenz, virtuelle Realität und Blockchain-Technologie. Andererseits verdient der Konzern sein Geld bis auf Weiteres vor allem mit Autoteilen und Elektrowerkzeugen, mögen sie bald auch alle netzfähig sein. Vom Produktverkäufer zum Serviceanbieter: Das ist der Spagat, der gegenwärtig viele der großen Industriebetriebe in Spannung hält und das Management auf die Probe stellt.
Auch Siemens, gegründet 1847, befindet sich in dieser Transformation. Von außen ist der Prozess kaum sichtbar, wer ahnt schon, dass der Klassiker unter den deutschen Industriekonzernen mittlerweile nach eigener Aussage zu den zehn größten Softwareunternehmen weltweit gehört? Die Veränderungen zeigen sich erst beim tieferen Blick in eine moderne Gasturbine.
Das stahlglänzende Ungetüm ist heute ausgestattet mit rund 1500 Sensoren, die Daten sammeln: über die Temperatur in der Brennkammer, die Schwingungen des Gehäuses, die Zusammensetzung des Gases. Die Analyse lässt Rückschlüsse darüber zu, wie der Brennstoff zu verteilen ist, um das Gerät optimal zu steuern.
Doch auch bei Siemens gilt: Noch steht das Geschäft mit Software und digitalen Diensten am Anfang, es macht von rund 80 Milliarden Euro Umsatz 2016 nicht einmal 5 Milliarden aus. Erst jetzt beispielsweise investiert Siemens in ein Instrument, das Amazon seit zwei Jahrzehnten nutzt: Kunden werden anhand ihres Einkaufsprofils weitere Artikel empfohlen; wer einen Motor bestellt, braucht vielleicht auch ein Getriebe oder eine Kupplung.
So überschaubar der Anteil noch ist, so schnell wachsen die digitalen Geschäfte bei Siemens, und sie werfen unerhörte Gewinne ab. Mehr als 26 Prozent beträgt die Marge in der Division "Digital Factory", in der das Unternehmen Hard- und Softwarebausteine anbietet. Siemens verwandelt sich also nicht nur selbst in einen 4.0-Betrieb, es hilft auch den Kunden dabei und verdient daran.
Ein gigantischer Markt ist rund um Industrie 4.0 entstanden. Beratungshäuser wie McKinsey oder Boston Consulting haben ihr Geschäft auf digital getrimmt. Auch die Politik will Teil der Bewegung sein: Die Bundesregierung macht Digitalisierung zum Schwerpunkt ihrer G-20-Präsidentschaft, Ministerien konkurrieren um Aufmerksamkeit: mit Weißbüchern, Plattformen, Kompetenzzentren, Gipfeltreffen.
Mit Staunen verfolgt Andreas Syska die allgemeine 4.0-Euphorie. Syska ist Professor für Produktionsmanagement in Mönchengladbach, Anfang der Neunzigerjahre leitete er eine Fertigung bei Bosch. Ihn fasziniert, wie Produktion funktioniert, wie Abläufe schlanker werden, doch den neuen Heilsversprechen misstraut er. Syska hält Industrie 4.0 für einen Hype, ja sogar für eine Gefahr.

Das Konzept Industrie 4.0 vertraue zu stark der Leistung von Rechnern und Algorithmen, sagt er, vernachlässige aber den Menschen: Mitarbeiter würden zu Empfängern von Maschinenbefehlen degradiert. Syska hält es zudem für leichtfertig, wenn deutsche Industriebetriebe hochsensibles Wissen in die Cloud oder auf Plattformen verlagerten, damit würden sie die Basis ihres Wohlstands aus der Hand geben, fürchtet er.
Wie überschwänglich viele Wirtschaftsführer, Berater, Forscher, Politiker und auch Journalisten die smarte Fabrik feierten, findet der Professor unangemessen. Auf ihn wirke das Ganze, als wäre ein Narrenschiff unterwegs, spottet er. Nur eine Gruppe wolle partout nicht mit an Bord: Die mittelständische Wirtschaft halte auf Distanz zur Industrie 4.0. Syska findet das gut. Doch die Skepsis dieser Unternehmen ist auch ein Problem.
Daten statt Dinge
Während die Konzerne den digitalen Wandel an ihren Standorten vorantreiben, lässt sich der deutsche Mittelstand in der Tat oft treiben. Viele Unternehmen fürchten, dass ihre Daten in falsche Hände geraten oder dass sie Ziel von Hackerattacken werden könnten. Vor allem zweifeln sie daran, dass sich die Investitionen rechnen. Manche erinnern sich an Erfahrungen aus den Achtzigerjahren, als mit "Computer Integrated Manufacturing" (CIM) hohe Erwartungen an die hochproduktive Fabrik geweckt wurden - und unerfüllt blieben.
"Uns gibt es noch, weil wir nicht jeder Fliege hinterhergerannt sind", laute eine typische Argumentation, die Reinhard Geissbauer, Geschäftsführer der Strategieberatung von PwC, von Klienten zu hören bekommt. Unter den Firmen mit weniger als 500 Millionen Euro Umsatz beschreiben sich in der PwC-Umfrage nur zwei Prozent als "voll digitalisiert". Gerade mittelständische Betriebe täten sich zuweilen schwer mit dem Thema Industrie 4.0, berichtet Geissbauer. Einigen rät er dann, in einem Pilotprojekt erst einmal Möglichkeiten auszuprobieren.
Einen typischen Einstieg bietet "Predictive Maintenance". Sensordaten von Windrädern oder Aufzügen werden aus der Ferne erfasst und mit bekannten Datenmustern verglichen, um Probleme zu erkennen, bevor sie auftreten. So können Maschinenbauer Wälzlager von Antrieben mit einem Fettsensor ausstatten, um den "Grease Check" vorzunehmen: An der Trübung des Schmierstoffs sehen sie, wann sie nachfetten müssen. "Mit überschaubarem Aufwand lassen sich zählbare Ergebnisse erzielen", sagt Berater Geissbauer.
Andere Mittelständler engagieren sich auch deshalb digital, weil es ihre Auftraggeber verlangen. Der Monheimer Spediteur Ferdi Hilgers transportiert für einen Großkunden Aluminiumprofile zu Autofabriken, und zwar "just in time". Jeder der Beteiligten sieht den aktuellen Status der Fracht auf dem Tablet. "Wir tauschen die Daten fast minütlich aus", sagt Hilgers.
Wenn sich ein Laster dem Ziel nähert, bekommt der Staplerfahrer ein Signal und kann sich bereit machen. Und sobald die Profile abgeladen sind, geht automatisch die Rechnung raus. Gut 25000 Euro habe er in das System gesteckt, sagt Hilgers, schon nach einem Jahr habe sich die Investition ausgezahlt.
Telematik und Fernwartung gehören gewissermaßen zum Starterset von Industrie 4.0. Einige Mittelständler gehen jedoch weiter, oft sind es die "Hidden Champions", die verborgenen Weltmarktführer. Homag gehört dazu, ein Hersteller von Holzbearbeitungsmaschinen, gegründet 1960. Die Zentrale liegt in Schopfloch am Nordschwarzwald. Gleich hinter dem Wald, nur vier Kilometer entfernt, befindet sich das Stammwerk des Dübelfabrikanten Fischer.
Die provinzielle Herkunft von Homag lässt nicht vermuten, welche Rolle das Unternehmen in der Branche spielt - und in der Frage, wie sich Menschen zu Hause einrichten: Fast jedes dritte industriell gefertigte Möbelstück auf der Welt wird von einer Homag-Maschine produziert. Die Anlagen funktionieren, grob vereinfacht, so: Vorn kommt die Sperrholzplatte rein, hinten der Tisch heraus - dazwischen werden millionenfach Daten verarbeitet.
Ernst Esslinger ist IT-Manager bei Homag, seit 32 Jahren dabei, er hat hier schon die Zeit erlebt, als man zum Laden des Betriebssystems eine Floppy Disk einschob. "Und der Monitor wurde da noch Fernseher genannt", erinnert er sich amüsiert. Der Maschinenbauer Homag versteht sich heute als Technologiefirma, 150 Softwareprogrammierer arbeiten in Schopfloch, nun denkt das Unternehmen auch darüber nach, im indischen Bangalore ein Team aufzubauen.
Esslinger steht in einer Werkshalle vor einer Anleimmaschine. Die Anlage legt los, ein Laser leuchtet auf, er verschmilzt die Kante fugenlos mit der Platte, das Werkstück trägt einen Barcode, es hat gewissermaßen eine Identität. Es weiß, was aus ihm werden soll, wie es zu bearbeiten ist, wo es sich gerade in der Produktionskette befindet, zwischen Lagern, Zuschneiden, Bohren, Montieren und Verpacken. Und wie es mit anderen Werkstücken zusammen einen Auftrag ergibt: für ein Regal, einen Tisch oder eine Küche.
Millionen Varianten lasse das vernetzte "Syschdem" zu, schwäbelt Esslinger, ohne dass der Hersteller die Fertigungsanlage aufwendig verändern müsse. 1,5 Sekunden betrage die Umrüstzeit. Solche technischen Finessen haben das Zeug, das Möbelgeschäft grundlegend zu verändern. Selbst der Massenhändler kann den Küchenschrank nun nicht mehr nur im Standardmaß von 45, 60 oder 90 Zentimetern liefern, sondern individuell in jeder beliebigen Breite. Dazu war bis dahin nur der Tischler in der Lage.
Theoretisch könnte Homag, statt Maschinen zu verkaufen, auch dem Händler die Anlage überlassen und ihm nur den Einsatz in Rechnung stellen, bemessen zum Beispiel in Quadratmetern verarbeiteter Spannplatte. Noch weiter gedacht: Homag könnte selbst Möbel verkaufen. Am Tablet würde dann der Kunde in 3-D-Ansicht ein Regal nach seinen Wünschen konfigurieren, auf "Enter" drücken und das Paket ein paar Tage später zugeschickt bekommen, fertig zur Montage.
Solche Vorstellungen sind Homag indes zu kühn. Man werde keine Möbel verkaufen, dies passe nicht zum Haus, heißt es aus dem Unternehmen, und daran werde sich nichts ändern.

Montage einer Gasturbine: Rund 1500 Sensoren sammeln Daten
Foto: Maurizio Gambarin/ Picture Alliance/ DPADen Sprung vom Produkthersteller zum Anbieter neuer, datenbasierter Geschäftsmodelle wagen bislang erst wenige Unternehmen der deutschen Industrie. Nur vereinzelt vermarkten Betriebe ihre Produkte "as a Service": Dann verdienen Druckerhersteller mit dem Verkauf von Ausdrucken statt von Druckgeräten, Turbinenbauer stellen Schubkraft in Rechnung statt Turbinen, und Autohersteller bieten nicht einzelne Fahrzeuge zum Kauf an, sondern Mobilität, in Kilometern gemessen.
Noch sei Deutschland, "flapsig gesagt, ein Land der Klamotten", sagt Dieter Spath, Präsident der Wissenschaftsakademie Acatech in Berlin: Die höchste Wertschätzung gelte nach wie vor dem Produkt, Daten und Dienste würden eher nebensächlich betrachtet, bedauert der Wissenschaftler.
Die Industrie sollte ihre Perspektive umkehren, fordert Spath: "In der Welt der Industrie 4.0 werden Daten und Dienstleistungen vom Beiwerk zum Hauptstück." Einige Vorreiterunternehmen hätten diese Transformation begriffen. Vielen Mittelständlern dagegen fällt es nach seiner Beobachtung schwer, sich vom "Prinzip des Ladentischs" zu verabschieden: hier die Ware, da das Geld.
Es ist also noch nicht entschieden, wer im Wettbewerb um die Vorherrschaft in der digitalen Wirtschaft die Nase vorn haben wird. Die deutschen Hersteller von Maschinen, Anlagen oder Fahrzeugen kommen voran, aber sie ticken noch sehr metallisch. Sie haben einen unschätzbaren Trumpf in der Hand, sie wissen, wie man exzellente Produkte herstellt. Doch manchmal fehlt die Mühe, aus den Betriebsdaten neue Ideen zu entwickeln. Und der Wille, sie umzusetzen.
Sonst tun dies andere. Sonst werden die nächsten disruptiven Innovationen in Mountain View oder Menlo Park erdacht. Oder in Hangzhou oder Shenzhen. Aber bestimmt nicht wie 1924 am Neckar.