Veganer Bauer Mr Wilde entdeckt sein Gewissen

Wilde
Sein ganzes Leben lang hat Jay Wilde, 59, Rinder großgezogen, manche mit der Hand, er sorgte für genug Gras zum Fressen, dann schickte er sie in den Tod. Einmal im Jahr führte er mit seiner Frau Katja rund ein Dutzend seiner Tiere zu seinem Transporter, oft zerrten sie und bockten, die Fahrt dauerte zwei Stunden und zwanzig Minuten, das weiß er noch genau. Dieser Tag war immer der schlimmste des Jahres für ihn.
Beim Abladen sah er in die schwarzen Augen der Tiere und wusste, dass sie es wissen, vom Schlachter und von ihrem Schicksal. "Es fühlte sich an, als würde ich sie verraten, jedes Mal", sagt Wilde, britischer Ex-Rinderzüchter aus Derbyshire nahe Manchester.
Irgendwann erkennt Jay Wilde, dass er nicht mehr kann. Doch er will die Farm nicht aufgeben. "Ich wollte erhalten, was mein Vater begonnen hatte", sagt er. "Aber ich fühlte mich so schuldig vor den Tieren."
Seine Entscheidung trifft er an einem Tag im Januar. Jay und Katja Wilde sitzen damals in ihrem Haus vier Fremden gegenüber, auf dem schweren Holztisch zwischen ihnen stehen Kaffeetassen, hinter ihnen ticken Uhren. Die Männer von der Vegan Society haben eine Lösung dabei: Wildes Farm wird vegan, dafür müssen seine Rinder verschwinden, 59 Tiere. Doch wie lässt man 59 Rinder verschwinden?
Sie töten, das will niemand. Jay soll sie verschenken, an eine Art Altersheim für Tiere. Die Kühe würden leben, Wilde würde dafür auf 40.000 Pfund verzichten müssen, die ihm ein Schlachter für die Hereford-Rinder, eine Delikatesse, bezahlt hätte. Wilde sagt Ja, ohne zu zögern. Kurze Zeit später ist er weltweit bekannt.
Er ist der erste vegane Farmer Großbritanniens, der erste, der seine Rinderherde verschenkt, um sie zu retten. Die BBC dreht eine Doku über ihn, es folgen die "Times", der "Independent", Lokalblätter. Die Wildes kriegen Post von Bewunderern, manche Briefe kommen aus Kanada, eine Frau kommentiert auf der Facebook-Seite der Farm: "Danke für alles, was du getan hast, und die Inspiration." Wilde sagt: "Die Reaktionen waren enorm."
Sieben Monate nach seiner Entscheidung sitzt Jay Wilde am selben Küchentisch und erzählt seine Geschichte, vor ihm dampft eine Portion Hot Pot im Keramikteller - Eintopf mit Roter Bete, Bohnen und viel Quinoa, alles vegan. Schon vor 25 Jahren ist Wilde zum Vegetarier geworden, mittlerweile isst er kaum noch tierische Erzeugnisse. "Selbst wenn man Käse isst", sagt er, "unterstützt man die Fleischindustrie." Wilde trägt Multifunktionskleidung: grüner Fleecepullover, Gummistiefel, das braune Haar und die weißen Strähnen zum Zopf gebunden. Außerdem hat er ein wenig Schmutz unter den Fingernägeln.
Bereits als kleiner Junge stand er um halb sechs auf, ging in den Stall, molk Kühe, aß sein Porridge. Später übernahm er die Aufgabe, die Kälber zum Markt zu fahren. "Als Kind hinterfragst du so was nicht", sagt er, einen Löffel Eintopf im Mund. Das schlechte Gewissen kam erst später. "Ich habe schon Kühe träumen sehen, wenn sie in der Sonne liegen und dabei mit den Hufen scharren", sagt er. Sie essen konnte und wollte er nicht mehr. Erst aß er stattdessen Cheddar, später Möhren, zu Weihnachten gibt es vegane Würstchen im Schlafrock, Paranussbraten wird sein liebstes Gericht.
Heute ist Veganismus nicht mehr außergewöhnlich, allein in Großbritannien leben rund eine halbe Million Menschen, die auf tierische Produkte verzichten, dreieinhalbmal so viele wie noch vor zehn Jahren, schätzt die Vegan Society. In Deutschland sind es rund 900.000. Doch ein veganer Landwirt, das bleibt eine Art Widerspruch in sich, ähnlich einem Bergsteiger mit Höhenangst oder einem gewaltfreien Boxer. Zwar stellen sich immer mehr Menschen die Frage, ob man Tiere schlachten und essen darf, aber Bauern gehörten bisher kaum dazu - obwohl sie den Tieren doch am nächsten stehen, ihnen Namen geben, mit ihnen sprechen. Sie töten sie trotzdem. "Schwierigkeiten, seine Rinder und Schweine zu schlachten und zu essen, hat kaum ein Landwirt", sagt Wilde.

Von der Website Mirror.co.uk
Auch Jay Wildes Vater hatte kein Problem damit. Der Sohn sprach mit dem alten Mann nie über Alternativen. "Er war ein gleichgültiger Mann, redete nur über das Praktische", sagt er, lacht leise. Dann stirbt der Vater, 2011. Es vergehen noch sechs Jahre, in denen Jay Wilde, der Macht seines alten Lebenswegs folgend, weitere Tiere zum Schlachter karrt.
Es ist der 12. Juni dieses Jahres, der Nieselregen verwandelt den Boden im Hof in Matsch. Jay Wilde geht zwischen einem Transporter und einem Stall aus roten Backsteinen hin und her, bringt ein Rind nach dem anderen auf die Ladefläche. Die Tiere scharren mit den Hufen. Sie sind nervös, erzählt Wilde, er selbst ist es auch, eine Trennung steht für ihn bevor, nicht nur die von seinen Rindern, auch die von seinem bisherigen Leben. Zwei Stunden dauert es, dann geht die Klappe des Lkw zu. Im Stall bleibt ein wenig Stroh zurück.
Wochen nachdem seine Herde weg ist, läuft Jay Wilde über seine Felder. Dann sieht er sie, seine zwölf letzten Rinder und zwei Kälber. Alle hergeben wollte er nicht. "Sie sind ein wenig wie Haustiere", sagt er, "sie sind nur dazu da, unser Gras zu fressen."