Besuch bei Elke Twesten "Wendehals des Jahres"

Politikerin Twesten in ihrem Garten: "Mit so viel Wut habe ich nicht gerechnet"
Foto: Philipp Schmidt/ DER SPIEGELAuf dem Esszimmertisch liegt ein Stapel voller Hass. Es sind Briefe und Zettel, am Computer getippt oder handgeschrieben. Elke Twesten hat sie geordnet und sorgfältig über dem blau-weiß-rot gestreiften Tischdeckchen aufgeschichtet.
"Sie sind ein Mensch ohne jede Moral, ohne jeglichen Skrupel, ohne Ethik, ohne Niveau und ohne Charakter", schrieb eine Frau aus München. Sie hat ein Foto mit dem Konterfei der niedersächsischen Landtagsabgeordneten in das Dokument kopiert. Daneben steht: "Das Gesicht zeigt schon Widerwärtiges!" Eine Frau aus Herrsching am Ammersee hat ein Julius Caesar zugeschriebenes Zitat geschickt: "Ich liebe den Verrat, aber hasse Verräter." Ob sie sich gar nicht schäme, "einen so rückgratlosen Auftritt hinzulegen".
Auch auf der Facebook-Seite der Politikerin und via Twitter unter dem Hashtag #Twesten ließen die Menschen ihren Aggressionen freien Lauf. "Deine Dummheit ist ungeheuerlich du Opfer", postete jemand. Sie sei gekauft, hieß es, der "Wendehals des Jahres". Nach mehreren Tausend Einträgen hörte die Adressatin des Shitstorms auf zu zählen.
In ihrem Wohnzimmer sitzt Elke Twesten auf einem Stuhl, vergräbt die Hände unter ihren Oberschenkeln. Sie trägt einen dunklen Blazer, wie in ihrer spektakulären Pressekonferenz, dazu eine gemusterte Bluse und ein zartes Silberkettchen. Die vergangenen Tage haben dunkle Schatten unter ihren Augen hinterlassen, ihre Mimik wirkt, als käme sie gerade aus einer Kältekammer. Twesten überlegt lange, bevor sie spricht, beugt sich nach vorn, hüstelt nervös.
"Dass es nicht leicht werden würde", sagt sie, "war klar." Mit so viel Wut habe sie allerdings nicht gerechnet. Wenn sie zum Einkaufen aus dem Haus gehe, sehe sie sich seit dem Wochenende manchmal um, ob etwas verdächtig sei. Dabei kennt sie fast jeden beim Namen in Scheeßel, einer Kleinstadt zwischen Bremen und Hamburg mit alten Fachwerkhäusern an jeder Ecke. Hier ist sie aufgewachsen und zur Schule gegangen. Scheeßel ist bekannt, weil einmal im Jahr Musikfans zum Hurricane-Festival hierher pilgern.
Am 4. August hat Elke Twesten, 54 Jahre alt, Mutter dreier großer Töchter, seit knapp zehn Jahren grüne Landtagsabgeordnete in Niedersachsen, ihren eigenen Hurrikan entfacht. Im Alleingang brachte sie die rot-grüne Regierung unter SPD-Ministerpräsident Stephan Weil zu Fall. Sie werde die Partei wechseln, verkündete sie auf der Pressekonferenz im Landtag, von den Grünen zur CDU. Ihr Landtagsmandat werde sie mitnehmen.
Damit verlor Weil die Macht im Parlament und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ein weiteres rot-grünes Vorzeigeprojekt - nach Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Am 15. Oktober werden die Niedersachsen vorzeitig einen neuen Landtag wählen. Wegen Twesten.
Warum hat sie das getan? Wer ist diese Frau, die gewagt hat, was nicht sein darf in der Politik, wo Parteidisziplin und Fraktionszwang alles sind und das Gewissen, dem die Abgeordneten laut Verfassung allein verpflichtet sind, selten zählt.
Twesten lebt in einer rotverklinkerten Doppelhaushälfte. Unten der großzügige Wohnbereich mit rotbraunen Terrakottafliesen, offener Küche, Essecke und einer beigefarbenen Sofagarnitur. Oben die Schlafzimmer. Auf der Veranda steht unter einer Plastikplane ein Strandkorb.
Vor 20 Jahren hat sie ihr Eigenheim zusammen mit ihrem Mann gebaut, inzwischen ist das Paar geschieden. Als Erklärung für ihre Motive für den Wechsel hat Twesten vor den Journalisten von ihrer "bürgerlichen Grundstruktur" gesprochen. Damit passt sie zur CDU - aber auch zu allen anderen großen Parteien.
In den vergangenen Tagen war Twesten viel unterwegs. Am Montag wurde sie in den Kreisverband der CDU in Rotenburg an der Wümme aufgenommen, am Dienstag in der CDU-Fraktion willkommen geheißen. Auf dem Tisch des Sitzungssaals standen Pralinen. Allerdings waren die nicht für sie, sondern für einen CDU-Abgeordneten, der Geburtstag hatte. Verrat und Egoismus, so kommentierten die Medien den Fall Twesten. Ministerpräsident Weil schimpft über einen "dubiosen Vorgang". "Leicht war der Gang von den Grünen im Landtag zur CDU-Fraktion nicht", sagt Twesten.
Neben den Hassbriefen steht der gelbe Strauß mit Sommerblumen, den sie von einem Anhänger im Ort bekommen hat. Von den neuen Parteifreunden gab es nur einen Handschlag. Was sie an der Partei von Bundeskanzlerin Angela Merkel fasziniere? Twesten überlegt und hüstelt. "Die Verlässlichkeit in der Struktur", sagt sie. Die CDU sei "nah an den Menschen" und stehe für eine Realpolitik, die von den politischen Positionen der Grünen gar nicht so weit entfernt sei.
Es sind Sätze aus dem Baukasten der Politikfloskeln. Leidenschaft klingt anders. Sie werde ihren "Platz in der CDU finden", sagt Twesten. Es klingt ein wenig gequält. Das Ganze sei ja auch ein politischer Neuanfang für sie, "nach mehr als 20 Jahren bei den Grünen".
Ihre politische Karriere begann, als neben dem Kindergarten ihrer Töchter ein Parkplatz geplant wurde. "Wir haben damals eines der ersten Bürgerbegehren in Niedersachsen gegen diesen überflüssigen Parkplatz initiiert und gewonnen", erzählt sie und taut dabei sichtlich auf. Über das Projekt sei sie zu den Grünen gekommen, die sie damals unterstützt hätten.
Schon bald ging es um andere Themen. Um Gasfelder im nördlichen Niedersachsen, die unter der Wümme erschlossen wurden ("Fracking"). Und um die alten Bohrlöcher des Exxon-Konzerns, der in der Region den Rohstoff gefördert hatte und mehr als hundert Schlammgruben hinterlassen haben soll. In Nachbarorten von Twestens Zuhause tauchten in den vergangenen Jahren vermehrt mysteriöse Krebsfälle auf. Das war ihr Thema bei den Grünen.
Bald stieg die energische Kämpferin gegen das Fracking zur Kreisvorsitzenden auf, dann zur Landtagsabgeordneten. Twesten, die nach dem Abitur und einem Abschluss als Diplom-Finanzwirtin beim Hamburger Zoll gearbeitet hatte, wurde zur Berufspolitikerin, die nichts aus der Bahn werfen konnte. Bis zum 30. Mai dieses Jahres.
"Den Glaubwürdigkeitsverlust müssen die Grünen bei sich selbst suchen."
Da änderte sich plötzlich alles. Um 18 Uhr fand im Niedersachsenhof, einem Tagungshotel in Gyhum, eine Kreismitgliederversammlung statt, um die grüne Kandidatin für die Landtagswahl im Januar zu küren. An diesem Tag hatte Elke Twesten eine Gegenkandidatin, die sich ebenfalls gegen Fracking und Schlammgruben in der Region engagiert. Allerdings frei von Parteidisziplin und den Zwängen einer Regierungskoalition.
Birgit Brennecke, 62, ist das genaue Gegenteil der Realpolitikerin Twesten. Sie verkörpert jenen Graswurzelidealismus, der den Grünen nach Meinung vieler in den vergangenen Jahren abhandengekommen ist. "Im Zweifelsfall gehe ich lieber in die Opposition, als meine Identität zu verraten", sagt Brennecke. Am Ende gewann sie mit 17 zu 10 Stimmen.
Für Twesten war das die größte Niederlage ihres Lebens. "Ausgerechnet mit meinem Hauptanliegen, dem Kampf gegen das Fracking, bin ich bei den Grünen gescheitert", sagt sie frustriert. Sie habe auf Landesebene zu wenig erreichen können, "weil weder die Landesregierung noch SPD oder Grüne die große Brisanz dieses Themas erkannt hatten", behauptet sie.
Für Elke Twesten begann eine neue Zeitrechnung. Alles, was danach kam, sieht sie durch die Brille der abgewählten Landtagskandidatin.
Also Rache? "Nein", sagt Twesten und hüstelt wieder. "Die grüne Parteispitze und die Landesregierung konnte ich nicht für das Thema gewinnen." Und das werde ihr in ihrem Wahlkreis nun angelastet.
Verrat? Das sei nicht zutreffend, sagt Twesten, "den Glaubwürdigkeitsverlust müssen die Grünen bei sich selbst suchen. Sie sind nicht mehr nah genug an den Menschen." Egal welche Frage, in ihren Antworten landet Twesten immer wieder bei den Grünen.
Die blonden Haare sitzen immer noch perfekt, das Make-up hält. Aber für einen Moment entgleiten der 54-Jährigen die Gesichtszüge. Traurig sieht sie aus. Am Esszimmertisch in Scheeßel sitzt nun eine Frau, die verletzt und enttäuscht ist. Von ihren Parteifreunden, von der rot-grünen Landesregierung und wohl auch von der Wirklichkeit.
Um sich abzulenken, geht Elke Twesten ins Freibad zum Schwimmen. Zwei- bis dreimal die Woche. Oder sie marschiert mit Nordic-Walking-Stöcken durch die Gegend. Das bringe sie auf andere Gedanken. Außerdem liest sie historische Romane und politische Literatur. Im Bücherregal steht "Außer Dienst" von Helmut Schmidt neben Isabell Allendes "Geisterhaus".
Irgendwann in der Sommerpause sei dann die Idee vom Parteiwechsel in ihr gereift, sagt sie. In Niedersachsen kursieren Gerüchte, die CDU habe ihr ein verlockendes Angebot gemacht. Am 9. Juni, so wurde beobachtet, habe Twesten am Rande einer Geburtstagsfeier mit dem CDU-Chef und Spitzenkandidaten Bernd Althusmann zusammengestanden.
Twesten bestreitet das nicht, es sei damals aber noch nicht um einen Wechsel gegangen. Nach Telefonaten mit CDU-Fraktionschef Björn Thümler gab es zwei Geheimtreffen.
Erst Ende Juli, eine Woche vor dem Eklat, habe sie Althusmann in Bad Fallingbostel auf einen Kaffee getroffen. Es sei um die Landessatzung der CDU gegangen und darum, "was mich erwartet". Eine Stunde hätten die beiden in einem Tagungshotel zusammengesessen. Montags darauf traf sie Thümler zu einem Frühstück im Bremer Intercity-Hotel.
Künftige Posten oder andere Versprechungen seien nie Thema gewesen, sagt Twesten. Als Nächstes will sie Kontakt zu ihrem früheren Arbeitgeber, der Zollverwaltung in Hamburg, aufnehmen und über eine Rückkehr sprechen. "Einfach ist das für alle Beteiligten nicht", sagt sie.
In der CDU möchte sich Twesten nun auf Kommunalpolitik konzentrieren, ehrenamtlich im Kreistag. Außerdem werde sie für die Frauenquote kämpfen. Sie fände es gut, wenn sich auch die CDU zu einer Frauenquote bekennte. "Das ist der Zeitgeist. An diesem Thema kommt die Politik nicht vorbei." Am vergangenen Wochenende hat sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten ihr Büro in der Grünenfraktion ausgeräumt. "Nach einem Entfremdungsprozess", wie sie sagt. Trotzdem sei der Abschied nicht leicht gewesen, "nach so vielen Jahren". Wie es weitergeht? Auf lange Sicht vielleicht wieder Berufspolitikerin in einem Parlament, sagt Twesten und hüstelt. Sicher sei das aber nicht.