Arzt auf Lampedusa "Ich träume viel. Es sind keine guten Träume"

Mediziner Bartolo auf Lampedusa
Foto: Maria Feck / DER SPIEGELAuf einer Insel im Meer, hinter blühendem Oleander, unter dem Bild des Heiligen Vaters, sitzt ein müder Mann, den seine Freunde Pietro nennen und der als "il dottore" bekannt ist: der Doktor.
Die Insel, auf der er arbeitet, ist nicht wie andere Inseln. Das Kreuz in der Kirche ist aus Holzpaddeln geformt, und unter Wasser wacht die Skulptur einer Madonna über die Toten. Shakespeare soll hier sein Drama "Der Sturm" angesiedelt haben, und auf dem Friedhof tragen Gräber keine Namen. Pietro Bartolo ist auf Lampedusa vor 60 Jahren geboren worden. Sein Vater war Fischer, sein Großvater war Fischer, und 20 Seemeilen Richtung Afrika nennen sie eine ungewöhnlich fischreiche Stelle nach seiner Familie, "mare di Bartolo", das Meer der Bartolos.
Wer Bauchschmerzen hat, wem das Herz rast, der geht zu Bartolo, der eigentlich Gynäkologe ist, aber hier alles macht. Das ist sein Leben am Tage. Sein anderes Leben beginnt in der Nacht, wenn die Touristen schlafen und die Küstenwache anruft. "Pietro, duecento", sagen sie dann, "fra un'ora": 200 Flüchtlinge werden ankommen, in einer Stunde soll er da sein. Dann steigt Bartolo aus dem Bett, zieht sich an und geht runter zur Mole, wo die Boote anlegen. Dann wird er den 200 Menschen, die ankommen, die Hand geben und ihre Hände nach Anzeichen der Krätze befühlen, er wird die Leisten untersuchen und ihnen in die Augen sehen. Er wird nach Zeichen von Unterkühlung, Dehydrierung, Verbrennungen, Traumatisierung suchen, die häufigsten Folgen der Flucht. Er wird die Schwerkranken nach Sizilien weiterleiten, die Schwangeren aufnehmen, die Toten registrieren, die Gesunden vergessen.
Mehr als eine Viertelmillion Menschen hat er in den vergangenen 25 Jahren untersucht, durchschnittlich 30 Flüchtlinge jeden Tag. Er ist der einzige Arzt auf Lampedusa, der das ganze Jahr über dort arbeitet. Zwei weitere Kollegen aus Sizilien helfen ihm bei den Erstuntersuchungen, aber sie bleiben nur eine Woche, dann reisen sie nach Hause, und neue Ärzte kommen. Lampedusa ist eine kleine Insel, keiner will hier lange bleiben. Bartolo blieb.
Einige der Ankommenden sieht er nur ein paar Sekunden, an andere denkt er ein ganzes Leben. Einer, den er rettete, trägt seinen Namen, ein Dank der Mutter, einen anderen hat er adoptiert.
Die Frage ist: Wie hält er das alles aus? Wie ist es, der Pförtner Europas zu sein?
SPIEGEL: Herr Bartolo, Sie hätten Lampedusa verlassen können, für einen besser bezahlten Job auf dem Festland. Warum sind Sie all die Jahre geblieben?
Bartolo: Ich möchte Ihnen eine Gegenfrage stellen: Wissen Sie, wie es ist zu ertrinken?
SPIEGEL: Nein.
Bartolo: Ich war nicht immer Arzt. Früher war ich Fischer, wie die meisten hier. Als ich 16 Jahre alt war, fuhr ich mit meinem Vater zur See, wir waren 40 Seemeilen vor Lampedusa, beim Wasserschöpfen rutschte ich aus und fiel über Bord. Keiner auf dem Schiff bekam es mit. Es war Nacht. Das Wasser war eiskalt. Ich rief nach meinem Vater, einmal, zweimal, aber das Boot fuhr weiter. Ich trieb allein im Meer. Nach drei Stunden haben sie mich gefunden. Ich habe tagelang nicht gesprochen. Ich ahnte: So fühlt sich also Sterben an. Danach beschloss ich, Arzt zu werden. Wenn ich in die Augen der Flüchtlinge am Kai blicke, wenn ich ihre Angst sehe oder ihre Erleichterung oder ihre Gleichgültigkeit - dann denke ich an diesen Augenblick in meinem Leben zurück. Ich verstehe diese Menschen. Ich bin ein Sohn derselben See. Ich kann ihnen helfen. Deshalb bin ich geblieben.

Kruzifix aus Holzpaddeln in der Kirche Lampedusas
Foto: Maria Feck / DER SPIEGELSPIEGEL: Papst Franziskus hat bei seinem Besuch auf Lampedusa gesagt, dass wir im Wohlstand, in schönen Seifenblasen leben, die zur Gleichgültigkeit gegenüber anderen führen, ja zu einer Globalisierung der Gleichgültigkeit. Er sagte: "Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt, es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an."
Bartolo: In diesem Jahr, das jetzt zu Ende geht, starben mehr Menschen auf dem Meer als je zuvor. Und, ja, das Schlimmste ist, dass es keinen mehr interessiert. Man hört: 100 Flüchtlinge in Catania, 200 in Lampedusa, 1000 in Palermo. Das sind Zahlen im Radio. Es tut den Leuten leid, es sind ja gute Leute, und dann vergessen sie es wieder. Aber es sind keine Zahlen, die da ertrinken. Es sind Menschen. Das vergessen wir leicht. Ich erinnere mich an viele dieser Menschen, ich wünschte, jeder Italiener oder Deutsche hätte sie gesehen. Dann würde er verstehen, was ich meine.
SPIEGEL: An wen erinnern Sie sich?
Bartolo: Ich erinnere mich an eine Dame, sie kam aus Gambia und war wunderschön. Ich erinnere mich an ihre Haltung und ihren Stolz. Sie trug bunte Kleider und hielt einen Koffer in einer Hand, als stiege sie nicht aus einem lecken Flüchtlingsboot, sondern gerade am Bahnhof aus dem Zug. Ich erinnere mich an Hassan, der seinen gelähmten Bruder während der gesamten Reise auf dem Rücken getragen hat. Ich erinnere mich an Faduma, die ihre sieben Kinder zurücklassen musste, um es schaffen zu können. Ich erinnere mich auch an Amina. Sie hatte sich vor der Abfahrt bei der Explosion eines Gaskochers schwere Verbrennungen zugezogen. Die Schleuser in Libyen haben sie trotzdem aufs Boot getrieben. Als die Soldaten sie an Land brachten, muss sie fürchterliche Schmerzen gehabt haben, aber sie hat nicht geschrien, nicht geklagt, nicht geweint. Daran erinnere ich mich. Bei jedem Boot, das ankommt, frage ich mich, was mich erwartet. Ich weiß nie, welche der vielen Fachrichtungen, die ich nicht studiert habe, ich nun anwenden muss. Und selbst als Gynäkologe mache ich Dinge, für die ich nicht ausgebildet bin. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.
Bartolo steht auf und geht um den Schreibtisch seines Arztzimmers herum. Seine Haare sind grau geworden mit den Jahren. Früher hat er barfuß auf der Insel gespielt, ein schüchterner, schmächtiger Junge. Wenn er heute unten an der Mole steht, arbeitet er ohne Mundschutz. Er sagt, er habe keine Angst mehr vor ansteckenden Krankheiten, die Flüchtlinge seien viel anfälliger dafür, sich bei uns anzustecken als umgekehrt. Das Telefon klingelt die ganze Zeit, irgendein Ministerium aus Rom versuche ihn zu erreichen, sagt er, dann nimmt er den Hörer ab und legt ihn wieder auf die Gabel. Er sucht eine Weile auf seinem Handy, dann hat er das Bild gefunden, das er zeigen will. Es ist ein kleiner Körper, ein Kind, auf dem Meer geboren.

Neugeborenes auf Bartolos Handy
Foto: Maria Feck / DER SPIEGELBartolo: Dieser Junge ist vor einem Monat auf die Welt gekommen. Auf einer Motovedetta, einem Patrouillenboot der Marine. Als ich im Hafen ankam, war das Kind schon da und noch mit einer Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich habe die Nabelschnur mit meinem Taschenmesser durchtrennt und mit meinen Schnürsenkeln abgebunden. Die beiden sind jetzt in Palermo. Es geht ihnen gut, die Mutter schreibt mir manchmal. Sehen sie die helle Haut? Sie dunkelt erst nach, wenn die Melaninbildung in Gang kommt. Wir sehen alle ähnlich aus bei Geburt, in uns allen fließt dasselbe Blut. Das war ein schönes Foto. Nun zeige ich Ihnen ein nicht so schönes Foto.
Das nächste Bild ist schrecklich. Es zeigt eine junge Frau. Aber statt ihrer Haut ist rohes Fleisch zu sehen. Der Doktor setzt sich wieder, stützt sich auf seinen Schreibtisch, atmet aus, er sieht müde aus. In der vergangenen Nacht kamen zwei Boote aus Tunesien, die Nacht davor ein großes Boot aus Libyen. Tagsüber rufen die Ministerien an, die Inselverwaltung, Patienten, seine Kollegen. Nachts erlebt er die Tragödien, sagt seine Assistentin in einer Gesprächspause, tagsüber muss er sie erklären. So komme er nie zur Ruhe.
Bartolo: Was Sie auf diesem Bild sehen, sind Folgen einer schweren Verätzung. Sie kommen durch ein Gemisch aus Salzwasser, Urin und Benzin zustande, das sich im Boden der Flüchtlingsboote ansammelt. Vor allem Frauen und Kinder sind betroffen. Das ist die schlimmste Verletzung, die ich in 25 Jahren behandeln musste. Ich sehe sie erst seit ein paar Jahren, seit dem Start der italienischen Mission "Mare Nostrum".
SPIEGEL: Warum?
Bartolo: Seitdem werden die Flüchtlinge näher vor der libyschen Küste aufgegriffen. Also benutzen Schlepper statt Holzbooten billigere Schlauchboote mit kleinen Benzinmotoren, um Geld zu sparen. Während der Reise müssen Flüchtlinge oft Benzin nachfüllen, das sie in Kanistern mitführen. Auf hoher See wird das leicht verschüttet. Frauen sitzen im Inneren des Bootes und tragen ihre Kinder auf dem Arm. Dort unten aber sammelt sich auch Salzwasser und mischt sich mit dem Benzin. Wenn die Kleidung über Stunden mit diesem Gemisch getränkt ist, verbindet sie sich mit der Haut. Am Anfang wirkt die Lösung noch angenehm warm, dann aber verätzt sie den Körper. Die Folgen sind sehr schwer zu behandeln und oft tödlich. Es ist zynisch: Europa wollte helfen, stattdessen entstehen neue Wunden.
SPIEGEL: Wie ließe sich das Sterben verringern?
Bartolo: Wir müssen die Überfahrten sicherer machen. Wir müssen noch näher an die Küste heran. Wir müssen legale Möglichkeiten für Flüchtlinge finden, nach Europa zu kommen. Und wir müssen die Lebensbedingungen der Menschen in ihren Heimatländern verbessern. Bis es jedoch so weit ist, gilt das Gesetz des Meeres, das hier von jedem Fischer seit Jahrhunderten respektiert wird: Man hilft den Schiffbrüchigen. Es ist ein einfaches Gesetz, das manchmal, glaube ich, auf dem Festland in Vergessenheit gerät.

Nigerianer am Hafen
Foto: Maria Feck / DER SPIEGELSPIEGEL: Konservative Regierungen und rechte Parteien in Europa befürworten eine Politik der Abschreckung, wie sie zum Beispiel Australien praktiziert. Was halten Sie davon?
Bartolo: Ich habe mir von vielen Flüchtlingen ihre Geschichten erzählen lassen. Diese Menschen haben Kriege erlebt, Hunger, Misshandlung - oder haben einfach keine Zukunft mehr zu Hause gesehen. Sie sind durch die Sahara gegangen, sie haben jahrelang als Sklaven in Libyen geschuftet. Sie sind verprügelt und vergewaltigt worden, sie haben ihr letztes Geld bezahlt für diese Flucht. Sie wollen uns nicht überfallen. Sie wollen hier in Würde leben. Das ist alles. Kein Meer der Welt wird sie abschrecken. Und dieses Meer da draußen heißt Mare Nostrum, unser Meer. Es gehört uns allen. Das ist das Meer von Italienern, Griechen, Türken, Arabern, Juden. Das war schon immer so, das wird auch immer so bleiben.
SPIEGEL: Dieses Jahr haben mehr als 700.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Können Sie verstehen, dass viele Deutsche Angst vor der großen Zahl von Flüchtlingen haben?
Bartolo: Ja, das kann ich verstehen. Wenn man Flüchtlinge nicht als Menschen, sondern nur als Zahlen in den Nachrichten wahrnimmt, entsteht der Eindruck: Hier findet eine Invasion statt, wir werden überrannt von einem Menschenstrom, der über unsere Grenze kommt. Aber eine Invasion entsteht durch einen Feind, der stärker ist, aufgrund seiner Bewaffnung oder seiner bloßen Anzahl. Aber diese Menschen sind nicht stärker. Sie sind uns auch nicht zahlenmäßig überlegen. Und vor allem sind sie nicht unsere Feinde. Es sind Opfer. Sie sind verletzlicher als wir. Und es sind viel weniger. In der Europäischen Union wohnen 500 Millionen Menschen. 2016 kamen etwa 350.000 Flüchtlinge über das Meer. Ein neuer Flüchtling auf 1400 Europäer. Das ist ein neuer Mensch auf ein ganzes Dorf. Müssen wir Angst vor ihm haben?

Flüchtlinge beim Fernsehen
Foto: Maria Feck / DER SPIEGELSPIEGEL: Wie hat sich Ihr Leben durch die Flüchtlinge verändert?
Bartolo: Ich weiß es nicht, ich kenne nur dieses Leben. Ich habe einen Sohn adoptiert, der über das Meer gekommen ist. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Schlaganfall. Und manchmal denke ich, dass ich das alles nicht schaffe. Aber sehen Sie da die beiden großen Kartons mit Spielzeug? Das sind Spenden aus der ganzen Welt. Die eine Hälfte kriegen die Flüchtlinge, die andere die einheimische Grundschule auf Lampedusa. Das ist schon okay, die brauchen auch Spielzeug.
SPIEGEL: Nach allem, was sie gesehen haben, haben Sie sich an die Arbeit gewöhnt?
Bartolo: Das sagen mir die Leute oft: "Na, Sie haben sich sicherlich daran gewöhnt." Das würde helfen. Vor ein paar Jahren stand ich am Kai und nahm eine Mutter auf, die auch ein Kind geboren hatte, nur waren beide tot. Ich habe sie beide in denselben Sarg gelegt. Sie waren noch mit der Nabelschnur verbunden, ich habe sie nicht getrennt. Wie kann man sich daran gewöhnen? Man gewöhnt sich nicht an die Schändung, die es bedeutet, wenn man einen Finger oder ein Ohr von einem toten Körper abtrennt und ihn ins Labor schickt, um die DNA registrieren zu lassen, damit Eltern Gewissheit haben, dass ihr Sohn umgekommen ist. Jedes Mal, wenn ich einen der grünen Säcke öffne, in denen die Toten liegen, ist es, als wäre es das erste Mal.
2016 ist das Jahr der meisten Toten auf dem Mittelmeer. 4742 Menschen sind laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk bei der Überfahrt ums Leben gekommen. Fast 360.000 Menschen haben die Reise angetreten. Das sind nur etwa ein Drittel so viele Flüchtlinge wie im Vorjahr, dennoch starben in diesem Jahr mehr Menschen. Schlepper verwenden billigere, schlechtere Boote, geben zu wenig Benzin mit, beladen die Boote mit zu vielen Menschen, teilen keine Schwimmwesten aus und lassen die Boote oft nachts starten, um Kontrollen zu umgehen.
Mehr als 700.000 Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Gambia, Nigeria, Mali und dem Sudan sollen noch in Libyen festsitzen. Wer das Geld für die Überfahrt nicht zahlen kann, 1000 bis 1500 Dollar, bleibt als Arbeitssklave in Libyen. "Ärzte ohne Grenzen" berichtet dort von extremer Gewalt und Unsicherheit, von Menschenhandel, Erpressung, Misshandlung, Zwangsarbeit, Vergewaltigung und Zwangsprostitution.
SPIEGEL: Verfolgt Sie Ihre Arbeit in Ihren Träumen?
Bartolo: Ich träume viel. Es sind keine guten Träume. Manchmal träume ich noch davon, wie ich über Bord gegangen bin. Nur werde ich diesmal nicht gerettet. Ein Albtraum. Aber es sind neue Albträume hinzugekommen. Einen Traum habe ich, der mich seit Jahren begleitet: Ich betrete ein Flüchtlingsschiff, wir helfen den Menschen auf das Patrouillenboot. Dann entdecken wir, dass unter den Flüchtlingen ein weiteres Deck ist. Wir öffnen die Luke und suchen nach Überlebenden. Aber es gibt keine Überlebenden. Die Toten sind noch nicht erwachsen, es sind Jungen und Mädchen. Ich muss auf den Leichen gehen, weil es sonst keinen Platz gibt für die Suche. Dann sehe ich an der Wand Handabdrücke, sie sind aus roter Farbe. Als ich näher herangehe, sehe ich, dass es Blut ist. Blutige Handabdrücke. Die Menschen wollten sich befreien und haben sich ihre Hände blutig gekratzt dabei. Das hätte ich nicht sehen sollen. Leider ist es kein Albtraum. Es ist mir passiert, das ist nun sechs Jahre her.
SPIEGEL: Sie sehen müde aus.
Bartolo: Müde? Natürlich bin ich müde. Ich hoffe, dass diese Arbeit aufhört. Aber ich bin Arzt. Ich muss weitermachen.

Im Dunkeln: Foto-Essay von Maria Feck