SPIEGEL-Leitartikel Humanität hat Grenzen

Kanzlerin Merkel ist es in der Flüchtlingskrise nicht gelungen, Menschlichkeit und politische Vernunft zu vereinen. Dabei könnte Deutschland zeigen, dass beides möglich ist.
Geretteter Flüchtling

Geretteter Flüchtling

Foto: ullstein bild

Als Angela Merkel vor gut einem Jahr gefragt wurde, was geschieht, wenn der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer wieder anschwillt, sagte sie nicht, dass Deutschland selbstverständlich zu helfen bereit sei; sie kündigte nicht an, dass die Regierung wieder Sonderzüge auf den Weg bringt und Turnhallen räumt. Sondern sie sagte: "Dann macht Österreich den Brenner dicht."

Es war ein erstaunlich nüchterner, ja kalter Satz, den Merkel vor den Fraktionschefs von CDU und CSU in Berlin sprach. Wahrscheinlich wäre in der Flüchtlingskrise vieles anders gekommen, wenn Merkel von Anfang an jenen Pragmatismus an den Tag gelegt hätte, der sonst ihre Politik kennzeichnet.

Nichts hat Europa mehr auseinandergetrieben als die Verlogenheit, mit der die Debatte über die Flüchtlinge geführt wurde. Theoretisch sind sich alle einig, dass Europa des Problems nur Herr wird, wenn alle an einem Strang ziehen.

Aber Merkel hat im Flüchtlingsherbst 2015 einen hohen moralischen Ton gesetzt, den viele als Zumutung empfanden. Die Osteuropäer wiederum taten so, als sei allein das Ausrollen von Stacheldraht schon eine Lösung. Dieser Zwiespalt blockiert bis heute eine vernünftige Debatte. Doch diese ist dringend erforderlich.

Wie nötig eine europäische Flüchtlingspolitik ist, zeigt das Drama, das sich in diesem Sommer wieder auf dem Mittelmeer abspielt. Jeden Tag machen sich Hunderte Menschen von Libyen aus auf den gefahrvollen Weg nach Italien. Rom ruft um Hilfe, aber niemand hört hin.

Eine gemeinsame Politik kann nur gelingen, wenn sich alle von ihren Lebenslügen verabschieden. "Asyl kennt keine Obergrenze", sagte Merkel im Sommer 2015. Aber schon in den Neunzigerjahren, Merkel war damals Ministerin, hat die Regierung den Artikel 16 so weit ausgehöhlt, dass nur noch die Fassade stand. Theoretisch versprach das Grundgesetz weiter einen individuellen Anspruch auf Asyl. Praktisch aber galt das nur, wenn der Flüchtling vorher keinen sicheren Staat durchquert hatte. Er musste also quasi vom Himmel fallen.

Merkel hat im September 2015 einen mutigen Entschluss gefasst, als sie den in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen die Grenzen nach Deutschland öffnete. Aber weil sie danach den Zuzug zu einem Naturereignis erklärte, gegen das die Politik leider nichts auszurichten vermochte, zerstörte sie, was sie zu fördern gehofft hatte: ein Gefühl der europäischen Solidarität.

Angeschwemmte Leichname von Flüchtlingen in Libyen

Angeschwemmte Leichname von Flüchtlingen in Libyen

Foto: Str/ dpa

Was ist noch zu retten? Die Deutschen, das ist die gute Nachricht, haben sich durch die Flüchtlingkrise nicht irremachen lassen. Sie haben still getrauert, als Anis Amri im Dezember 2016 mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt raste. Aber sie sahen auch, mit welchem Mut sich Männer aus der Türkei, aus Afghanistan und Tunesien dem Messerstecher von Hamburg-Barmbek in den Weg stellten und ihn niederrangen.

Sie sind cool geblieben, und mit diesem nüchternen Realismus sollte auch Merkel ans Werk gehen. Wer eine europäische Flüchtlingspolitik verlangt, der kommt nicht darum herum, genau zu definieren, wie viele Flüchtlinge die EU aufnehmen will. Man kann das Kontingent nennen, Quote oder Obergrenze, aber klar ist, dass kein EU-Land noch einmal eine ungesteuerte Zuwanderung zulassen wird.

Gerade die Deutschen haben sich lange an der Fiktion festgehalten, dass ein individuelles Asylrecht unbegrenzt gewährt werden kann. Aber es ist unmöglich, dies unter den Bedingungen der Globalisierung aufrechtzuerhalten. In vielen Regionen der Welt herrschen Krieg und Verfolgung. Wenn Europa alle aufnähme, die einen Anspruch auf Schutz geltend machen können, würde das die Gemeinschaft wirtschaftlich und vor allem politisch überfordern.

Europa muss selbst Kriterien entwickeln, nach denen es Menschen Schutz gewährt. Dazu gehört die Frage, ob ein Verfolgter in seiner direkten Nachbarschaft Unterschlupf finden kann. Schon jetzt zahlt die EU Milliarden an die Türkei, damit diese keine Flüchtlinge mehr durchlässt.

Merkel hat Vertrauen in Europa verspielt, weil es ihr nicht gelungen ist, Humanität mit politischer Vernunft in Einklang zu bringen. Dass dies möglich ist, kann sie immer noch zeigen. Deutschland könnte Italien einen Teil jener Flüchtlinge abnehmen, die Aussicht auf Asyl haben, und bei der Abschiebung der anderen helfen. Merkel kann sich bemühen, den weiteren Zerfall Libyens zu verhindern - zur Not mit militärischer Gewalt. Sie darf auch Polen und Ungarn mit Sanktionen drohen, wenn diese sich einer Verteilung von Flüchtlingen verweigern.

Aber am Ende können die Europäer nur gemeinsam entscheiden, wie viel Menschlichkeit sie sich leisten wollen.

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