Interview mit Forsa-Chef Wie fälschen Meinungsforscher Umfragen, Herr Güllner?

Manfred Güllner
Foto: Jescodenzel.com/ DER SPIEGELSPIEGEL: Herr Güllner, einer der größten Marktforscher weltweit, die GfK, hat vor einigen Jahren eine Umfrage zum Thema Sexualität durchgeführt. Ein Ergebnis: 24,1 Prozent der befragten Männer, die derzeit in einer festen Partnerschaft leben, wünschen sich mehr sexuelle Aktivität. Wie seriös sind solche Umfragen?
Güllner: Eigentlich müssen schon die Alarmglocken schrillen, wenn Institute die Zahlen hinterm Komma herausgeben. Das suggeriert eine Genauigkeit, die das Instrumentarium nicht liefern kann.
Zur Person
Manfred Güllner, 76, hat in Köln Soziologie studiert und 1984 das Meinungsforschungsinstitut Forsa gegründet, das er bis heute leitet. Seit 2003 ist er Honorarprofessor für Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Im Interview äußert er sich zu Missständen in der Marktforschung, über die SPIEGEL ONLINE, der SPIEGEL und SPIEGEL TV in dieser Woche berichten.
SPIEGEL: Ist es nicht unwahrscheinlich, dass jemand einer wildfremden Person so intime Fragen beantwortet?
Güllner: Das hängt davon ab, wie gefragt wird. Früher gingen die Interviewer von Haus zu Haus. Wenn sie sich dann ins Wohnzimmer vorgearbeitet hatten und Fragen zum Sexualverhalten stellten und da die ganze Familie saß, kriegten sie nicht unbedingt ehrliche Antworten. Wenn sie aber am Telefon fragen, dann hört die Partnerin ja nicht mit.
SPIEGEL: Vielleicht denkt sich der Interviewer die Antworten auch selbst aus, um sich Peinlichkeiten zu ersparen. Es gibt neue Vorwürfe, wonach in der Marktforschung viele Umfragen systematisch gefälscht werden.
Güllner: Früher gab es solche Probleme bei Interviews mit Papier und Bleistift. Das hat sich durch computergestützte Telefoninterviews und Onlinebefragungen weitgehend erledigt. Die Kontrollmöglichkeiten sind viel besser als früher.
SPIEGEL: Ein SPIEGEL-Informant hat für Subunternehmer gearbeitet, die ihre Aufträge von großen Marktforschungsinstituten bekamen. Zum Teil erhielt seine Firma nur wenige Euro pro Interview. Um trotzdem wirtschaftlich zu arbeiten, so sagt er, habe er unterschiedliche Identitäten erfunden und die Fragen selbst beantwortet. Kennen Sie solche Arbeitsweisen?
Güllner: Leider sind immer mehr Kunden nicht bereit, angemessen zu bezahlen. Sie drücken die Preise, vor allem wenn die Einkaufsabteilung entscheidet, wer den Auftrag erhält. Es kommt auch darauf an, wer die Umfrage wie ausführt. Manche Institute erheben nicht selbst. Sie geben den Auftrag an Feldinstitute weiter, also an Subunternehmer, die das Befragen der Bürger übernehmen.
SPIEGEL: Arbeiten Sie auch so?
Güllner: In meiner achtjährigen Tätigkeit bei Infas habe ich 1978 ein einziges Mal eine Studie nach außen gegeben. Diese wurde von einem Subunternehmer an einen Subsubunternehmer weitergereicht. Es stellte sich dann heraus, dass diese Firma statt hundert Interviewern nur vier hatte: den Inhaber selbst, seinen Bruder und zwei weitere Verwandte. Die haben die Fragebögen in der Mensa ausgefüllt.
SPIEGEL: Sind das Einzelfälle?
Güllner: Bei den seriösen Instituten kann man Fälschungen ausschließen, weil sie keine dubiosen Feldorganisationen beschäftigen.
SPIEGEL Wie halten Sie es in Ihrem Unternehmen?
Güllner: Wir geben nichts raus. Forsa betreibt vier Telefonstudios und hat den Erhebungsvorgang unter Kontrolle.
SPIEGEL: Die Anfälligkeit für gefälschte Umfragen steigt, wenn Feldinstitute ins Spiel kommen?
Güllner: Uns haben Mitarbeiter, die vorher bei Feldinstituten beschäftigt waren, erzählt, wie sie dort mehrere Wochen nur damit beschäftigt waren, Umfragen selbst auszufüllen. Bei uns im Haus können wir aber ausschließen, dass einzelne Mitarbeiter fälschen. Dass ein Interviewer stundenlang dasitzt und niemanden anruft, verhindert schon der Computer. Es würde auch sofort Supervisoren oder anderen Interviewern auffallen.
SPIEGEL: Welches Gewicht haben Feldinstitute in der Branche?
Güllner: Ich kann das nicht seriös abschätzen. Es tummeln sich weit über hundert Institute im Markt, unter denen leider auch Scharlatane und Gauner sind. Mein Appell an die Kunden: nicht nur auf den Preis gucken, sondern auch auf die Qualität.
SPIEGEL: Vielleicht wollen manche Kunden gar nicht so genau wissen, woher die Zahlen kommen. Hauptsache, die Umfrageergebnisse passen in ihre Firmenstrategie.
Güllner: Natürlich gibt es Auftraggeber, die bestimmte Erwartungen haben. Oder die ungewollte Ergebnisse filtern. Dann nehmen sie nur 20 Prozent der Befunde, die ihnen passen, den Rest lassen sie unter den Tisch fallen. Da ist unsere Zunft gefordert, das zu verhindern. Aber auch die Medien müssen sorgfältiger prüfen, ob Umfragen und Institute seriös sind oder nicht. Und die Auftraggeber müssen sich fragen, ob sie verlässliche Zahlen wollen, die aber ihren Preis haben.
SPIEGEL: Welche Fehler hat die Branche gemacht? Der Markt stagniert seit Jahren.
Güllner: Oftmals ist das Ethos verloren gegangen, dass man Standards unbedingt einhalten muss. Leider ist auch unser Branchenverband ADM kein Ausweis mehr für Seriosität. Er hat Unternehmen aufgenommen, die eher den "schwarzen Schafen" zuzurechnen sind. Wir brauchen eine Allianz der seriösen Institute gegen die unlauteren.
SPIEGEL: Kritiker werfen gerade Ihnen vor, bei Wahlumfragen einen Trend auszurufen, wenn eine Partei ein oder zwei Prozentpunkte gewinnt oder verliert.
Güllner: Das ist natürlich nicht der Fall. Ich drücke mich nur manchmal gern klar aus. Wenn ich sage, die Menschen empfinden Ralf Stegner als Kotzbrocken, dann habe ich dafür auch Belege. Ich sage ja nicht: Ich sehe ihn als Kotzbrocken.
SPIEGEL: Internetkonzerne wie Amazon, Google oder Facebook wissen mittlerweile viel mehr über die Lebensgewohnheiten der Menschen als Sie. Welche Zukunft hat die Marktforschung?
Güllner: Diese Unternehmen können die Warum-Frage nicht beantworten. Nehmen Sie ein Beispiel: Google stellt fest, dass Sie dreimal hintereinander beim Italiener essen waren. Daraus schließt Google: Sie haben ein Faible für die italienische Küche. Dabei können die Besuche auch Zufall sein. Vielleicht essen Sie lieber griechisch, haben aber bislang kein Lokal gefunden, das Ihnen gefällt.
SPIEGEL: Preisdruck, Fälschungen, schlechte Analysen: Sollten wir lieber auf unser Bauchgefühl hören - und die Meinungsforschung beerdigen?
Güllner: Das wäre ein fataler Fehler, denn wir geben den Menschen eine Stimme, was Big Data nicht kann. Und Ihr Bauchgefühl auch nicht. Schon der alte Marx hat gesagt: Wenn ich etwas über die Befindlichkeiten der Menschen wissen will, muss ich sie befragen.