Ahnenforschung Mein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa und ich

Sie entziffern Pfaffen-Gekrakel, fotografieren Grabsteine, lassen ihre DNA analysieren: Die Suche nach Vorfahren fasziniert Hunderttausende in Deutschland. Vielleicht ist ja jemand Berühmtes unter den Ahnen.
Ahnenforscher Kracke

Ahnenforscher Kracke

Foto: Maria Feck / laif / DER SPIEGEL

Irgendwann zu den Zeiten, als Johannes Gutenberg am Buchdruck tüftelte, muss der Bauer Sander Upte Hurlo eine Frau unbekannten Namens geschwängert haben. Wäre dies nicht geschehen, gäbe es Timo Kracke nicht, der an einem Abend im März fast 600 Jahre später bei Apfelschorle und Salzbrezeln an seinem Esszimmertisch sitzt, in Ganderkesee, einem Ort bei Bremen.

Kracke, 42, arbeitet im Kundendienst eines Automobilzulieferers; gerade hat er Feierabend gemacht und sein Oberhemd gegen ein lässiges T-Shirt getauscht, das auch wegen seines Kinnbärtchens irgendwie besser zu ihm zu passen scheint. Es trägt die Aufschrift "Genealogy" - Krackes Hobby, zu Deutsch: Ahnenforschung.

Bei seiner Arbeit stieß der Laienwissenschaftler bereits auf die Namen von über 8000 Vorfahren. Wobei es sich hier nur um einen Bruchteil seiner Ahnen und der seiner Frau und der beiden Kinder handeln kann, aber die schiere Zahl bedeutet, dass Kracke weiter in die Vergangenheit vorgedrungen ist als die meisten seiner Hobbyforscherkollegen. Er fand zum Beispiel eine Art altes Grundstücksregister und schaffte es auf diesem Wege zurück ins Jahr 1415, als besagter Sander Upte Hurlo geboren wurde; der Herr erreichte ein für mittelalterliche Verhältnisse hohes Lebensalter von 78 Jahren und ist Krackes Opa mit mindestens 20 Urs davor.

Kracke mit seinem Spleen für die Vorfahren passt schlecht ins Klischee vom ahnenforschenden Pensionär, der Archivare mit Anfragen und Freunde mit ausuferndem Geschwafel über anno dunnemals nervt. Dabei gibt es viele wie ihn: vergleichsweise junge Leute, die sich der Suche nach Urururopa verschrieben haben. "Es ist ein Hobby, das süchtig und glücklich macht", sagt Kracke.

Die Begeisterung für Ahnenforschung ist in Deutschland zwar noch nicht so groß wie in Schweden, Großbritannien oder gar den USA, wo "Genealogy" ein Breitensport ist und Messen zum Thema auch mal 30.000 Besucher anlocken. Doch auch hier werden Veranstaltungen, Onlineangebote und Vereine beliebter. "Es wächst da eine sehr wirkmächtige Geschichtskultur von unten heran", sagt die Münsteraner Kulturanthropologin Elisabeth Timm, 48.

Hauptgrund für die Lust an der Ahnenforschung dürfte sein, dass es noch nie so einfach war, den Toten hinterherzuschnüffeln. Unternehmen wie "Familiy Search", "My Heritage" oder "Ancestry" haben in den vergangenen Jahren zumindest einen Teil der deutschen Kirchenbücher, Auswanderungslisten und andere Schriftstücke digitalisiert und online gestellt. Es braucht also nur noch einen Internetzugang und unter Umständen eine Kreditkarte, schon kann es losgehen mit der Familienrecherche. Ein Angebot, das allein bei My Heritage Deutschland schon etwa vier Millionen Menschen annahmen - freilich meist mit dem Ergebnis, dass man um den Besuch echter Archive nicht herumkommt, wenn man es ernst meint mit der Ahnensuche; bisher steht nämlich nur ein Bruchteil des genealogisch interessanten Materials im Netz zur Verfügung.

Timm, die zum Thema forscht, vermutet, dass viele Menschen auch deswegen nach ihren Vorfahren suchen, weil sie sich in einer komplexen und unübersichtlichen Welt nach einer Art "Sinnzusammenhang" sehnten. Außerdem gebe es eine große Begeisterung für kriminalistisch anmutende Arbeit - und immer weniger Vorbehalte gegenüber der Ahnenforschung.

Durch die NS-Zeit geriet vieles in Verruf, was mit Herkunft und Abstammung zu tun hatte. Genealogie wurde damals in erster Linie betrieben, um einen "Ariernachweis" erbringen zu können. Jetzt gehe es den meisten Familienforschern nicht mehr um Abgrenzung, sondern um Vernetzung, behauptet Timm. Und weil auch der letzte Altnazi bald gestorben sein dürfte, läuft man beim fröhlichen Forschen auch nicht mehr Gefahr, einen noch lebenden Uropa oder Großonkel aus Versehen als SS-Schergen zu enttarnen und damit den Familienfrieden zu stören.

Oft ist es der Todesfall eines nahen Verwandten, die Geburt eines Kindes oder irgendein anderes biografisches Großereignis, das laut Timm am Anfang einer Ahnenforscherkarriere steht. Bei Kracke hatte der Einstieg allerdings rein gar nichts mit Trauer, Freude oder Sinnsuche zu tun. Ihm fehlten nur die Ideen, was er sonst hätte tun können.

Es war Ende 1997, und er hatte sich die Internetdomain Kracke.org gesichert. Nun brütete er darüber, was er auf seiner Homepage veröffentlichen sollte. News aus Ganderkesee? Fotos vom letzten Urlaub mit den Kumpels? Ein Freund riet ihm, die Domain wörtlich zu nehmen und etwas über die Familiengeschichte zu veröffentlichen. Kracke fand das bestechend und tat erst einmal das, was alle tun sollten, wenn sie mit der Genealogie beginnen: Verwandte besuchen, sich über längst vergangene Zeiten berichten lassen und nach Stammbüchern, Fotos und anderem Material fragen.

Er könne es nicht näher erklären, aber irgendwie habe es sich "gut angefühlt", über die Alten zu reden, sagt Kracke. Also besuchte er einen VHS-Kurs zum Thema "Genealogie" - und war prompt angefixt: Er wollte jetzt ganz genau wissen, wer seine Vorfahren waren, unter welchen Bedingungen sie lebten und was er vielleicht von ihnen geerbt hatte.

Kracke, der mittlerweile Vorstandsmitglied der nach eigenen Angaben größten genealogischen Vereinigung Deutschlands ist, dem Verein für Computergenealogie (CompGen), zog durch Standesämter, Pfarrbüros und Archive. Er lernte den Geruch alten Papiers lieben, das Blättern in Büchern mit dicken Ledereinbänden, die Recherche mit Mikrofilmen, auf denen viele Stammbücher und andere Abstammungsdaten verewigt wurden.

Kracke findet auch nach fast 20 Jahren detektivischen Sammelns kaum etwas spannender, als die Lebensumstände seiner Vorfahren zu rekonstruieren, ihre Geschichte wieder lebendig zu machen und sie dann auf seiner Website zu veröffentlichen. Und wenn er darüber hinaus auch noch Verwandte aus den USA ausfindig machen kann, wie es ihm schon vor Jahren gelang, kennt seine Begeisterung kaum Grenzen. "Genau wie die meisten meiner Vereinskollegen habe ich durch das Hobby sehr viele nette Menschen kennengelernt, mit denen ich nun Kontakt halte", erzählt Kracke.

Ahnenforschung, so berichten die, die sich ihr verschrieben haben, öffne den Blick dafür, wie sehr Migration zu allen Zeiten die Weltgeschichte bestimmt hat. Sie erzähle Geschichten, indem sie an ferne Orte führt, auf andere Kontinente, zu Menschen, deren Leben von Flucht, Krieg und Familienkatastrophen geprägt waren.

Dabei gilt es aufzupassen, dass man bei der schieren Menge an Orten und Menschen, die einem bei der Recherche unterkommen, nicht den Überblick verliert.

Weil es den sogenannten Ahnenschwund gibt, auch Implex genannt, der nichts mit Inzest zu tun haben muss und auch immer dann eintritt, wenn entfernte Verwandte Kinder miteinander zeugen, verdoppelt sich die Zahl der Vorväter und -mütter zwar nicht mit jeder Generation. Doch wer es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts schafft und damit etwa zehn Generationen zurück, kann schon mit mehr als tausend Ururururururururgroßmüttern und -vätern rechnen, die von Forschern praktischerweise "Stammeltern" genannt werden. Noch einmal zehn Generationen weiter wäre man dann bei den "Erzgroßeltern" angelangt und müsste bereits mit etwa einer Million Namen jonglieren.

Wer wissen will, wie schwierig sich Ahnenforschung zuweilen gestalten kann, muss nach Leipzig zur "Deutschen Zentralstelle für Genealogie" fahren und dort Thekla Kluttig, 48, besuchen. Die promovierte Historikerin ist die Hüterin des größten genealogischen Schatzes Deutschlands.

Im Staatsarchiv lagern etwa 21 Regalkilometer Kirchenbücher, Polizeiakten, Leichenpredigten, Familienchroniken und andere Schriftstücke, die von anderen Behörden übernommen wurden und für Genealogen interessant sein könnten. Viele Dokumente stammen aus den ehemaligen Ostgebieten, aber in Leipzig werden mittlerweile auch Schriftstücke aus anderen Teilen der heutigen Republik archiviert.

Bücher im Staatsarchiv Leipzig

Bücher im Staatsarchiv Leipzig

Foto: Martin Jehnichen / DER SPIEGEL

Als Kluttig 2008 zur Leiterin der Zentralstelle berufen wurde, erntete sie von Kollegen eher Mitleid als Bewunderung. Die Ahnenforschung galt damals noch in erster Linie als Belastung für die Archive, als Zumutung für "echte Historiker", die zur Recherche kamen. Genealogen, so hieß es, seien in erster Linie komische Kauze, die zum Beispiel die Abstammung von Karl dem Großen oder eine adlige Herkunft nachweisen wollten.

Das mit Karl, der 814 starb, ist nahezu unmöglich, weil im tiefen Mittelalter praktisch keine genealogisch verwertbaren Schriftstücke produziert wurden. Die wenigen Unterlagen, die es gab, wurden zu einem großen Teil im Dreißigjährigen Krieg zerstört, viele davon verbrannten. Und die Suche nach adligen Wurzeln endet häufig mit einer Enttäuschung oder einer Lüge: Die meisten Deutschen stammen eben von Bauern oder anderen armen Teufeln ab - und nicht von Fürsten oder Königen.

Kluttig hat immer noch gelegentlich mit Genealogen zu tun, die sich in einen regelrechten Ahnenkult verrennen. Den Großteil ihrer Kunden hat sie aber als "sehr gewissenhafte Hobbyforscher" kennengelernt, und nun will sie zeigen, welch anspruchsvollen Job diese in ihrer Freizeit erledigen.

Die Archivarin geht eine Treppe hinunter, öffnet eine schwere Eisentür und betritt einen turnhallengroßen Raum voller Schieberegale aus Metall. Sie greift ein altes Kirchenbuch von 1713 heraus. "Schauen Sie sich diese Schrift an", sagt sie und zeigt auf ein unleserliches Pfaffen-Gekrakel, das so oder so ähnlich jedem Ahnenforscher mal unterkommt. Wer da nicht aufpasst und etwas Falsches herausliest, recherchiert sich schnell eine falsche Familie zusammen.

Genealogen müssen im Grunde neu lesen lernen, wenn sie bei ihren Forschungen in jener Zeit ankommen, als Schreibmaschinen noch nicht zur Grundausstattung von Ämtern und Pfarrgemeinden zählten. So sollten sie Kurrentschriften entziffern können, die oft mit dem erst 1915 eingeführten und später von Hitler verbotenen Sütterlin verwechselt werden.

Ebenso müssen Ahnenforscher zusehen, dass sie sich nicht von alten Ortsnamen täuschen lassen. Viele deutsche Kommunen heißen heute anders als noch vor 100 Jahren, wurden eingemeindet oder liegen gar in einem völlig anderen Teil der Welt. Im einstigen Bessarabien zum Beispiel gab es ein Leipzig, was laut Kluttig den Effekt hat, dass etliche Ahnenforscher verzweifelt in Sachsen nach Vorfahren fahnden, ihre Suche aber eigentlich auf ukrainisches Staatsgebiet ausweiten müssten.

Die namentliche Erschließung des oft verwirrenden und schwer lesbaren genealogischen Erbes ist eine gewaltige Aufgabe, und sie könne weder von der öffentlichen Hand bezahlt noch von deren Mitarbeitern geleistet werden, sagt Kluttig. Einen Teil des Jobs übernehmen die Onlineanbieter, doch auch Vereine wie CompGen wollen dazu beitragen.

Historikerin Kluttig

Historikerin Kluttig

Foto: Martin Jehnichen / DER SPIEGEL

So schlossen sich 700 der über 3600 Mitglieder zusammen, um die Verlustlisten des Ersten Weltkriegs zu erfassen. Sie können nun neben vielen anderen Daten, die bereits von den Hobbyforschern digitalisiert wurden, auf der Internetseite compgen.de eingesehen werden.

Derlei Crowdsourcing-Projekte gibt es viele in der Genealogenszene, und oft packen Menschen aus aller Welt mit an. So haben sich Zehntausende Hobbyhistoriker in aller Welt daran beteiligt, amerikanische Volkszählungsdaten zu digitalisieren. Außerdem widmen sich CompGen-Mitarbeiter und andere Ahnenforscher derzeit einem weiteren Megaprojekt, das späteren Forschergenerationen dienen soll: Sie wollen nach und nach jeden Friedhof im Lande besuchen, alle Grabsteine fotografieren und die eingemeißelten Namen und Daten elektronisch erfassen.

Wie quirlig und wissbegierig Deutschlands Hobbyhistoriker sind, lässt sich an einem Samstag im März in Altenberge bei Münster beobachten. Die Westfälische Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung hat zum Genealogentag eingeladen, einer der größten Veranstaltungen dieser Art in Deutschland.

Kurz vor zehn Uhr, die Türen der Sporthalle an der Ludgerischule sind noch geschlossen, und doch sind schon alle Parkplätze besetzt. Etliche Gäste kurven mit ihrem Auto durch die angrenzenden Siedlungen, einige davon sind laut Kennzeichen 500 und mehr Kilometer bis hierher gereist. Kurz darauf strömen die ersten Besucher in die Halle, am Ende des Tages werden es etwa 1200 gewesen sein. Zu den Ausstellern zählen Vereine, Buchverlage, Berufsgenealogen und Designer, die das Erforschte optisch aufbereiten und Stammbäume gestalten, die bis zu 2000 Euro kosten können.

Mitten im Saal hat Silvia da Silva, Deutschlandbeauftragte für My Heritage, ihren Stand aufgebaut. Sie bietet eine Dienstleistung an, die unweigerlich an Schwerverbrechen und TV-Krimis denken lässt. Die 33-Jährige schiebt ein "Kit" über den Tisch, in dem Wattestäbchen und zwei kleine Plastikröhrchen stecken. Wer es kauft, soll Proben seines Speichels sichern und diese dann an ein Labor schicken, wo die DNA analysiert und anschließend zerstört werde, wie da Silva versichert. Einen guten Monat später erfährt man dann, aus welchen Teilen der Welt die Vorfahren der vergangenen Jahrtausende stammen könnten und welchen Ethnien sie angehörten.

Datenschutzrechtlich finden das viele deutsche Ahnenforscher heikel, aber das ändert nichts daran, dass die Szene in der DNA-Genealogie auch eine große Chance sieht. Denn in dem Maße, in dem sich überall auf der Welt Menschen analysieren und ihre Daten speichern lassen, wird es vielleicht leichter, Afrikaner, Asiaten oder Inuit ausfindig zu machen, mit denen man dieselben Vorfahren teilt.

Da Silva hofft, dass die Begeisterung für DNA-Genealogie auch in Deutschland so groß wird wie in den USA, wo bereits Tausende Menschen bei My Heritage und anderen Dienstleistern eine Speichelprobe abgegeben haben. Sie erlebe die deutsche Ahnenforschergemeinde mittlerweile auf jeden Fall als "sehr aufgeschlossen und modern", sagt sie. Als sie vor acht Jahren bei My Heritage begann, habe sie fast ausschließlich "70- bis 80-jährige Opas" am Kundentelefon gehabt, die erste Gehversuche im Netz unternahmen. Heute werde sie deutlich häufiger von Menschen angerufen, die um die dreißig seien.

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Timo Kracke hat seine DNA bereits 2008 analysieren lassen, doch die genealogische Aussagekraft war damals noch sehr gering. Geholfen hat ihm das bei seiner Arbeit bisher nicht. Ohnehin musste er sich bei der Recherche immer wieder eine Frage stellen, die mit Blick auf heutige Familienkonstellationen immer wichtiger werden dürfte für Genealogen: Was ist es eigentlich, das einen Menschen zum Ahnen macht? Der Umstand, dass man vom gleichen Blute ist, wie es oft heißt?

Bei seiner Arbeit stieß Kracke auf einen Fall aus der jüngeren Familienvergangenheit, genauer will er es nicht verraten. Dabei handelte es sich um einen Mann, der nicht der biologische Vorfahr eines Blutsverwandten Krackes war, sondern dessen Stiefvater. Streng betrachtet war dieser Mann also kein Ahn, doch die folgenden Generationen tragen seinen Familiennamen.

Was tun? Den Stammbaum abändern und den "echten" Vater einsetzen, egal wie dessen Verhältnis zum Nachwuchs war? Oder es beim Stiefvater und dessen Vorfahren belassen? Kracke entschied sich für die zweite Lösung. "Familie", sagt er, "hat nicht vorrangig mit DNA und biologischer Abstammung zu tun." Sondern? "Mit Liebe."

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