Psychiater und Gerichtsgutachter "Unglück, Liebe, Rache - alles live"

Sachverständiger Kröber auf dem Gelände der Charité
Foto: Norbert MichalkeKröber, 66, leitete 20 Jahre lang das Institut für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin und die dazugehörige Ambulanz, die Hochrisikotäter nach ihrer Entlassung betreut. Bekannt wurde der Wissenschaftler durch Gutachten in aufsehenerregenden Strafprozessen. Seit seiner Emeritierung im Herbst 2016 ist er weiter als Gutachter und in der Forschung aktiv.
SPIEGEL: Herr Professor Kröber, seit Jahrzehnten schauen Sie in menschliche Abgründe. Bekommen Sie nie genug vom Seelenleben der Verbrecher?
Kröber: Nein. Die Forensik erweitert die menschliche Erfahrung in Lebensbereiche, die man als braver Bürger nie kennenlernt. Ich war nie im Puff, aber ich konnte mir von Zuhältern viel darüber erzählen lassen, wie der Beruf des Wirtschafters dort ausgeübt wird - mit psychologischem Know-how und dem Baseballschläger. Ich brauche keine Krimis zu lesen, ich kriege alles live: Unglück, Liebe, Rache.
SPIEGEL: Ist der Gutachter der Freund oder der Feind des Menschen, den er beurteilen soll?
Kröber: Er ist Arzt. Er stellt Diagnosen und Kriminalprognosen.
SPIEGEL: Sie sehen sich als unabhängig - sind Sie auch unbeeinflusst vom Zeitgeist?
Kröber: Gerade die Psychiatrie ist davon nicht frei. Als ich mich 1983 bei dem berühmten Professor Wilfried Rasch um eine Assistentenstelle in der Forensischen Psychiatrie der Freien Universität Berlin bewarb, fragte der mich als Erstes: Wie oft sind Sie denn der Justiz schon in den Arm gefallen? Vielen ging es damals darum, die Angeklagten vor dem Zugriff der Justiz zu retten. Resozialisierung war der Zentralbegriff. Das ist passé. Seit 20 Jahren geht der Mainstream des Fachs in Richtung Sicherheit vor dem Täter.
SPIEGEL: Hat man damals die Frage nach der Schuldfähigkeit anders beantwortet?
Kröber: Ja. Wer sich als Richter oder Gutachter für fortschrittlich hielt, musste zum Ergebnis kommen, der Angeklagte sei schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig - auch wenn nichts Krankheitswertiges vorlag. Dafür zog man oft die traurigen Lebensumstände heran. Für die Betroffenen bedeutet das unbefristete Entmündigung, deklariert als Therapie. Ich habe das nie als fortschrittlich betrachtet. Wer psychisch gesund ist, hat eine Strafe verdient, die seiner Schuld entspricht.
SPIEGEL: Wie kam das damals an?
Kröber: Das galt als reaktionär. Es gab um diese Positionen in der forensischen Psychiatrie erbitterte ideologische Grabenkämpfe. Das Paradebeispiel war der Fall Bartsch 1967.

Sexualmörder Bartsch 1967
Foto: Monti Bild / KeystoneSPIEGEL: Jürgen Bartsch hatte Sexualmorde an vier Jungen begangen.
Kröber: Er hat sie zerstückelt. Bartsch hatte eine Horrorkindheit und früh einen sexuellen Sadismus entwickelt. Aber weil er intelligent war und lebhaft über seine Taten berichtete, wurde er zunächst als voll schuldfähig zu "lebenslang" verurteilt. Das Urteil wurde aufgehoben. In das zweite Verfahren zogen Rechtsanwälte, Gerichtsreporter und Psychiater wie in eine Schlacht. Am Ende billigte das Gericht zum ersten Mal einem Täter wegen seiner sexuellen Perversion und einer schwer gestörten Persönlichkeit eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit zu. Bartsch bekam eine Jugendstrafe von zehn Jahren und wurde in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen. Das Urteil war ein Meilenstein. Das reformierte Strafgesetzbuch von 1975 etablierte diese Sichtweise.
SPIEGEL: Danach schlug das Pendel aber in die andere Richtung aus.
Kröber: Ja. Noch als ich 1996 nach Berlin kam, gab es Strafverteidiger, die schockiert waren, dass es für Drogenhändler und Raubmörder auch ein "voll schuldfähig" gab. Jahrzehntelang romantisierte man die trostlosen Schicksale jugendlicher Straftäter. Ihre realen Schäden und Defizite, die sie davongetragen hatten und die dazu führten, dass sie schlimme Taten begingen, wurden wegretuschiert. So schätzte man oft ihre Gefährlichkeit falsch ein. Heute ist unser Blick nüchterner geworden.
SPIEGEL: Schuldfähig oder nicht: Was ist für den Verurteilten leichter zu ertragen?
Kröber: Wenn man als nicht schuldfähig gilt, kriegt man scheinbar was geschenkt. In Wirklichkeit wird einem aber das Wichtigste genommen: Ab sofort entscheiden andere über einen, auf unabsehbare Zeit. Eine befristete Strafe ist dagegen eine reelle Sache. Sexualstraftäter, die Kinder missbraucht haben, haben aber oft mehr Angst vor dem Gefängnis. Sie denken, in der Psychiatrie würde es weniger schlimm. Manche sagen dann: Ich bin mir selbst ein Rätsel, ich will wissen, warum ich das gemacht habe, bringt mich in Therapie.
SPIEGEL: Das klingt, als misstrauten Sie dem Therapiewunsch?
Kröber: Nein, manche leiden wirklich. Aber: "Ich hab dem Jungen zwischen die Beine gefasst und mit seinem Glied gespielt, und jetzt möchte ich wissen, warum?" Das ist doch klar: weil ich dadurch sexuell erregt bin. Diese Antworten kann man sich selbst geben. Die Therapievorstellung dahinter ist: Erzähl mir mal, warum ich nichts dafür kann. Man hofft auf die Mystifizierung eines klaren Sachverhalts. Die meisten, die froh sind, in die Psychiatrie zu kommen, überblicken nicht, dass sie dort drei- oder fünfmal so lange sitzen, als wenn sie eine Strafe bekämen.
SPIEGEL: Wer gehört dann aus Ihrer Sicht in den psychiatrischen Maßregelvollzug?
Kröber: Mehr als die Hälfte der geschätzt 9000 Insassen sind psychosekranke Gewalttäter. Die können wir dort gut behandeln, vor allem mit Medikamenten. Bei Rechtsbrechern, die wegen einer Persönlichkeitsstörung dort hinkommen oder weil sie eine nur eingeschränkte Intelligenz besitzen, also geistig behindert sind, ist das schon schwieriger. Einige Gruppentherapien zeigen da Effekte. Aber was soll man mit denen tun, die schon Kindheit und Jugend in Heimen, in Jugendhaft und in der Jugendpsychiatrie verbracht haben? Da herrscht oft völlige Ahnungslosigkeit, was man therapieren soll und wie.
SPIEGEL: Das ist ein harter Vorwurf. Können Sie den präzisieren?
Kröber: Ich erlebe oft, dass Klinikmitarbeiter an solchen Patienten ihre eigenen Erziehungsvorstellungen exekutieren - und das für Verhaltenstherapie halten. Ständig führen sie dem Patienten seine Schwächen vor. Mit Strafen und Zurücksetzungen will man einen braven Patienten aus ihm machen. Alles, was davon abweicht, kann gegen ihn verwendet werden, auch wenn es mit seiner Delinquenz nicht das Mindeste zu tun hat. Da haben Psychologen und Ärzte einfach sehr viel Macht.
SPIEGEL: Wie üben sie die konkret aus?
Kröber: Ein Beispiel: Ein Sexualstraftäter versucht, vom Kleidergeld ein Trikot von Bayern München zu bestellen. Das stellt der Psychologe als Täuschungsversuch dar, denn das Kleidergeld ist nur für notwendige Bekleidung gedacht. Im nächsten Behandlungsbericht nennt er das "manipulatives, deliktnahes Verhalten" und streicht dem Mann die Ausgänge.
SPIEGEL: Was wäre stattdessen sinnvoller?
Kröber: Es gilt, die Stärken und Ressourcen der Untergebrachten zu entwickeln. Aber dafür muss man sie erst mal erkennen können. Diejenigen, die an der Front mit den Patienten zusammen sind, kommen oft frisch von der Uni, mit relativ wenig Lebenserfahrung. Sie sind geschockt von diesen nervigen, unerzogenen Menschen. Da ist viel Fremdheit zu spüren, eine Art ethnologische Distanz. Und die Klinikchefs sind mit dem Verwalten und den Sicherheitsstandards beschäftigt, anstatt junge Leute anzuleiten.
SPIEGEL: Hat sich Ihr eigener Blick auf die Menschen, die Sie begutachten, im Laufe der Jahre verändert?
Kröber: Ich glaube schon. Ich jage nicht mehr so nach den Risiken. Ich will wissen, wie jemand künftig leben will. Ob er sein Leben ändern will und welche Unterstützung wir dabei geben können. Heute denke ich: Beim Verhindern von Rückfällen geschieht das meiste durch die Verurteilten selbst - bei denjenigen, die was gelernt haben. Sie wollen anders leben. Gäbe es nicht diese vielen Gefangenen, die von sich aus einen anderen Weg einschlagen, hätten wir ganz andere Rückfallquoten.

Maßregelvollzugsklinik für psychisch kranke Straftäter in Dortmund (Archivbild)
Foto: Bernd Thissen/ picture alliance / dpaSPIEGEL: Bei Tätern, die wegen sexueller Gewalt oder Missbrauch verurteilt wurden, sind es immerhin knapp 15 Prozent, die neue Sexual- oder Gewalttaten begehen.
Kröber: Das heißt, gut 85 Prozent tun dies nicht. Gerade der Gelegenheitstäter - der neue Freund der Mutti, der mit der zwölfjährigen Tochter was anfängt: Wenn der für eine Zeit im Gefängnis landet, hat er die Nase voll. Er sagt sich: Es gibt auch interessante erwachsene Frauen, ich brauche keine Zwölfjährige. Da kommt er ganz allein drauf, dafür braucht er uns nicht.
SPIEGEL: Wofür dann?
Kröber: Wir müssen abschätzen, ob er gefährlich ist und was bei ihm Risikofaktoren für ein Leben in Freiheit sind. Und natürlich, was er heute besser kann als früher. Ob er es dann schafft, ohne Straftaten durchs Leben zu gehen, hängt stärker, als ich früher dachte, von den Situationen ab, in die jemand hineinkommt.
SPIEGEL: Mehr als von der Therapie?
Kröber: Ja. In der Unterbringung kann sich jemand ganz toll entwickeln und hinterher doch scheitern, wenn er in fatale Situationen kommt. Andere sind eher dürftig saniert, was das Innere anbetrifft, aber wenn das Schicksal ihnen hold ist und sie in keine verhängnisvolle Situation geraten, schaffen sie das mühelos. Diese situativen Faktoren sind etwas, das wir forensischen Psychiater unterschätzen. Wir suchen immer nach der Täterpersönlichkeit. Wir glauben, kriminelles Handeln liegt im Inneren eines Menschen begründet.
SPIEGEL: Ist es das etwa nicht?
Kröber: Viele Taten sind ein punktuelles Versagen eines normalen Menschen in einer Situation, die ihn moralisch überfordert, in der er sich aus Affekten heraus - Wut, Gekränktheit, romantischen Gefühlen - falsch entscheidet. Aber die schlimme Tat gibt nicht wirklich Aufschluss darüber, dass seine Persönlichkeit anders wäre als die anderer Menschen.
SPIEGEL: Aufgrund von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts mussten in Deutschland zahlreiche Sicherungsverwahrte entlassen werden, alle mit ungünstigen Prognosen. Was ist aus ihnen geworden?
Kröber: In Berlin haben wir sie seit 2012 in unserer Forensisch-Therapeutischen Ambulanz weiterbetreut, zusammen mit der Führungsaufsicht, dem Landeskriminalamt und den Gerichten. Von unseren mittlerweile 32 Verwahrten sind nur 3 wieder zurück im Gefängnis, aber keiner mit wirklich katastrophalen Taten. Die anderen haben sich so durchgeschlagen. Darunter auch einige, die ich selbst zuvor als ungünstig begutachtet hatte. Wir haben uns um jeden Einzelnen sehr intensiv gekümmert - Sozialleben, Freizeitaktivitäten, Wohnungssuche. Ich muss sagen, das war verblüffend erfolgreich.
SPIEGEL: Sicherheit entsteht auch durch Zuwendung?
Kröber: Ja. So gesehen ist die ambulante Nachsorge nach der Entlassung mindestens so wichtig wie die therapeutische Arbeit hinter Gittern. Viele langjährig Kriminelle sind völlig vereinsamt. Institutionen müssen erst mal Freunde oder die Familie ersetzen. Wenn wir erreichen, dass der Entlassene uns annimmt als Gesprächspartner, für die es sich lohnt, heil durch die Woche zu kommen, haben wir 50 Prozent weniger Rückfälle. Wir könnten auch zügiger aus dem Maßregelvollzug entlassen. Da sind sich alle einig, die was von der Sache verstehen.
SPIEGEL: Warum geschieht es dann nicht?
Kröber: Es ist für die Kliniken schwer, das gegen Ängste und die öffentliche Meinung umzusetzen. Nur in 20 bis 30 Prozent aller Fälle, in denen ich eine Entlassung befürworte, stimmt die Klinik zu. In Berlin ist die Quote höher.
SPIEGEL: 2016 wurde der psychiatrische Maßregelvollzug gesetzlich reformiert. Was versprechen Sie sich davon?
Kröber: Das hilft uns, Patienten früher zu entlassen. Bisher musste man beweisen, dass jemand ungefährlich ist, um ihn entlassen zu können. Heute muss man umgekehrt nach sechs Jahren Unterbringung darlegen, dass er wirklich wieder erhebliche Straftaten begehen wird, um ihn drinnen zu behalten. Nach zehn Jahren liegt die Hürde für eine Verlängerung der Unterbringung noch höher.
SPIEGEL: Der Fall Gustl Mollath hat zu einem Psychiatrie-Bashing geführt. Mehrere Gutachter, auch Sie, gerieten unter Beschuss, weil Sie Mollath eine gestörte Persönlichkeit attestiert hatten. Eine Einschätzung, die auch das Gericht im Wiederaufnahmeverfahren für naheliegend hielt. Es stellte fest, dass Mollath seine Frau bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hat; er sei dabei aber möglicherweise wegen einer schweren psychischen Störung schuldunfähig gewesen. Nun ist Mollath schon fast vier Jahre draußen - bisher ist nichts passiert. Wie erklären Sie das?
Kröber: Er ist als Medienstar in eine völlig neue Lebenssituation gekommen. Von seinen Verschwörungstheorien um bayerische Finanzskandale hört man nichts mehr. Stattdessen findet er Bestätigung als Psychiatriekritiker.
SPIEGEL: Im Fall von Ulvi K., einem geistig behinderten Mann, der auch aufgrund Ihres Gutachtens als Mörder der neunjährigen Peggy verurteilt wurde, mussten Sie im Wiederaufnahmeverfahren Ihr Gutachten revidieren. Haben Sie dazu beigetragen, einen Unschuldigen zu verurteilen?
Kröber: Er hatte den Mord gestanden. Ich hielt es bei seinen intellektuellen Fähigkeiten für sehr unwahrscheinlich, dass er die detaillierten Schilderungen erfunden hatte. Jahre nach dem Urteil wurde behauptet, die Polizei hätte Ulvi K. dieses Geständnis eingeredet. Damit war die Beweislage im Wiederaufnahmeverfahren zu dünn; der Freispruch geht in Ordnung. Als Täter kommt er aber weiterhin infrage.
SPIEGEL: Hat die Psychiatriekritik auch ihr Gutes?
Kröber: Am Fall Mollath war erfreulich, dass sich Leute für die Freilassung eines Täters aus der Psychiatrie eingesetzt haben. Bis dahin galt ja: am besten wegsperren für immer. Die Angst vor den Geisteskranken ist groß. Aber eben auch die Angst, zu Unrecht als geisteskrank behandelt zu werden. Gerichte diskutieren jetzt eher die Frage der Verhältnismäßigkeit.
SPIEGEL: Neigen Richter zu einer unkritischen Übernahme der Gutachtermeinung?
Kröber: Das glaube ich nicht. Wenn Urteile abweichen, dann übrigens häufiger zur härteren Seite.
SPIEGEL: Gibt es noch Begegnungen, die Sie erschüttern?
Kröber: Sicher. Ich erinnere mich an einen Mann, er tötete völlig sinnlos. Abends geht er in einem menschenleeren Haus hinter einem anderen die Treppe hoch und sticht ihm ein Messer in den Rücken. Es gab zuvor nicht mal Blickkontakt. Von den Fotos des Täters nach seiner Festnahme geht eine erschütternde Kälte und Finsternis aus. Es ging um pure Zerstörung. Als käme das Böse in Reinkultur aus solchen Leuten heraus. Und dann schließt sich etwas wieder vor diesem Dunkel, und sie gewinnen wieder ein menschliches Angesicht. Es ist nicht die Person, es ist ein Zustand der Person.
SPIEGEL: Was ist es, das in so einem Menschen mordet? Woher kommt dieses Böse?
Kröber: Ich glaube, diese sinnlosen Zerstörungen haben mit Zerstörungen zu tun, die vorher beim Täter selbst angerichtet wurden. Die meisten Gewalttäter sind mit Gewalt aufgewachsen. Als Zuschauer, wenn der Vater die Mutter zusammengeschlagen hat. Oder sie wurden selbst misshandelt. Hasserfüllte Gewalt gegen das Kind birgt ein hohes destruktives Potenzial für später. Auch beim Erwachsenen können schlimme Erlebnisse noch schwere Schäden anrichten. Dieser Mann war Fremdenlegionär gewesen, es spricht viel dafür, dass er da schlimme Sachen erlebt hatte.
SPIEGEL: Sie haben auch Mütter begutachtet, die ihre Kinder getötet hatten - aus innerer Not?
Kröber: Nein, auch aus Hass, wenn ich etwa an die Mutter von Jessica denke, die ihr Kind in einem leeren Zimmer mit verklebtem Fenster verhungern ließ. Es gibt den Hass zwischen Eltern und Kindern. Das Kind als Störer, als Nervtöter und dann als Opfer, an dem man seinen eigenen Sadismus ausleben kann. Die Siebenjährige wurde in schrecklichster Weise gequält und entmenschlicht, und die Eltern gingen um zehn Uhr los ins Einkaufszentrum und tranken Cola und der Vater sein erstes Bier. Die Geschichte ist mir lange nachgegangen.
SPIEGEL: Warum?
Kröber: Es gibt Menschen, an denen man abrutscht wie an den Wänden eines weiß gekachelten, leeren Badezimmers. So war diese Frau. Sie hat alles sachlich und kühl berichtet. Dinge, die ich beim Lesen der Akten kaum ertragen habe. Ich habe schnell geahnt, dass das Ergebnis meiner Begutachtung der Öffentlichkeit nicht passen wird. In Hamburg waren damals ja alle überzeugt, dass Jessicas Mutter ein armes Opfer ist, selbst schwerst traumatisiert, sonst hätte sie das nicht getan. Sie war aber nicht traumatisiert. Sie hat früh gelernt, nur auf den eigenen Vorteil zu achten und nicht auf die Gefühle anderer. Als ich im Autoradio hörte, dass sie, ebenso wie ihr Mann, zu "lebenslang" verurteilt wurde, habe ich die Becker-Faust gemacht.

Grab der 2005 verhungerten Jessica
Foto: Ulrich Perrey/ picture-alliance/ dpa/dpawebSPIEGEL: Woher dieses Triumphgefühl?
Kröber: Weil es das Mindeste war im Angesicht des Leidens dieses Kindes. Und weil ich erlebt hatte, dass Mütter, die ihre Kinder getötet hatten, reihenweise freigesprochen wurden. Verfahren wegen Kindstötung nach der Geburt wurden fast routinemäßig eingestellt. Heute ist das fast ins Gegenteil gekippt.
SPIEGEL: Wären Sie auch gern Richter?
Kröber: Nein. Ob einer drei Jahre bekommt oder sieben, interessiert mich nicht. Ich liefere mein Gutachten ab und gehe nach Hause. Entscheidend ist, was er danach macht, ob er wieder einfährt oder nicht. Daran bin ich ja dann auch beteiligt.
SPIEGEL: Fürchten Sie den Tag, an dem jemand, dessen Entlassung Sie befürworteten, erneut eine schlimme Tat begeht?
Kröber: Ja, natürlich. Ich erinnere mich an den Fall einer brutalen Vergewaltigung. Danach hatten die beiden Täter das Mädchen in einer verlassenen Gegend nackt an einen Baum gefesselt. Als ich die Namen hörte, dachte ich sofort: Um Gottes willen, ist das einer von meinen? Es war dann aber einer der wenigen Fälle, wo jemand gegen meinen ausdrücklichen Rat freigelassen wurde.
SPIEGEL: Aber es wurden auch Täter rückfällig, die Sie positiv begutachtet hatten?
Kröber: Einige. Mit unterschiedlichen Straftaten. Bisher bin ich damit im Reinen, weil ich es als Möglichkeit vorhergesagt hatte. Entscheidend ist, dass man handwerklich korrekt gearbeitet hat. Man kann auf den Kopf eines Menschen draufsehen, aber nicht in ihn hinein, und er selbst kennt seine Gedanken von übermorgen noch nicht.
SPIEGEL: Wie wurde die Psychiatrie Ihr Lebensthema?
Kröber: Ich bin in der Psychiatrie aufgewachsen. Meine Eltern waren Nervenärzte in Bethel, einer großen diakonischen Einrichtung bei Bielefeld. Damals lebten dort 2000 Anfallskranke, psychisch Kranke, Behinderte aller Art. Mein Bruder Klaus war anderthalb Jahre älter als ich und war "mongoloid", wie es damals hieß, heute nennt man es Downsyndrom. Für mich war das normal, wir gehörten zusammen. Bis ich studieren ging, schliefen wir in einem Zimmer.
SPIEGEL: War Bethel eine gute Umgebung für ein Kind?
Kröber: Dort zu leben hat Spaß gemacht. Kranke und Gesunde lebten ganz selbstverständlich im Dorf miteinander. Mit vier, fünf Jahren hatte man als Bethel-Kind gelernt zu unterscheiden. Die Gesunden können sagen: "Du kommst runter vom Kirschbaum und klaust keine Kirschen." Wenn unten ein Patient steht und sagt: "Was machst du da oben?", dann sagt man: "Du hast mir gar nichts zu sagen." Kranke waren oft merkwürdig, machten komische Geräusche oder redeten laut vor sich hin. Es war gut, mit ihnen höflich und umsichtig zu sein. Bethel-Grundsatz war: Alle sind gleichermaßen würdig und Kinder Gottes. Das war auch völlig einleuchtend. An viele Patienten denke ich bis heute.
SPIEGEL: Was genau beschäftigt Sie da?
Kröber: Herr Schrauth arbeitete in der Tischlerwerkstatt der Klinik und wir Kinder guckten manchmal zu, wie er hobelte. Das Holz war schon hell und glatt, und wir fragten uns, warum er immer weiter hobelte. Irgendwann erzählte mir meine Mutter, dass er tot sei. Er hatte sich im Wald die Pulsadern aufgeschnitten. Ich musste oft durch diesen Wald. Immer stellte ich mir vor, wie der arme Mann da im Düsteren lag. Das blieb in mir hängen wie eine dunkle Wolke. Ich bin ja ein ängstlicher Mensch.
SPIEGEL: Und lassen sich auf gefährliche Menschen ein - wie geht das zusammen?
Kröber: Ich käme nicht auf die Idee, dass es gefährlich ist, mit jemandem zu sprechen, der gemordet hat. Ist es auch nicht. Aber vielleicht steckt darin ein Stück antiphobisches Verhalten. Man setzt sich dem, was man fürchtet, in einem gesicherten Rahmen aus. Wie bei Edgar Allan Poe: Man muss sich die Bedrohung anschauen. Wenn man das Muster, nach dem sie funktioniert, erkannt hat, kann man sie unschädlich machen.
SPIEGEL: Herr Professor Kröber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Der Fall Jessica - Mitten in Deutschland verhungert ein Kind, aus Not isst es seine eigenen Haare - und niemand bemerkt etwas. SPIEGEL TV berichtete 2005 über den Fall, der deutschlandweit für Entsetzen sorgte und in dem Gerichtsgutachter Kröber im Prozess eingesetzt wurde.