Daten zur Gewaltkriminalität Wie sicher ist Deutschland?

In jedem Frühjahr stellt der Bundesinnenminister die Polizeiliche Kriminalstatistik vor. Die Präsentation ist das Hochamt der Innenpolitik, nächste Woche ist es wieder so weit. Mit ihrer Auslegung der Zahlen des Vorjahrs gibt die Politik den Ton der Kriminalitätsdebatten vor, die unweigerlich folgen.
"Besorgniserregend" nannte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière im April 2017 die zunehmende "Verrohung der Gesellschaft". Sie sei zu spüren "in der Alltagskriminalität, in der politisch motivierten Kriminalität, rechts, links und von Ausländern". Mord und Totschlag: plus 14,3 Prozent, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung: plus 12,8 Prozent. Gewaltkriminalität von Jugendlichen: plus 12 Prozent - jede Zahl ein Argument für de Maizières Law-and-Order-Linie.
Wer anschließend in TV-Talkrunden blickte, konnte den Eindruck gewinnen, Deutschland versinke in Chaos und Gewalt. Ein halbes Jahr später zog die AfD in den Bundestag ein.
In diesem Jahr haben die Bundesländer einen neuen Ton angeschlagen. In seltener Klarheit präsentierten sie Erfolge: Bundesweit ging die gemeldete Gewaltkriminalität um 2,4 Prozent zurück, in Hamburg sogar um fast 9 Prozent. In Bayern, sagt der dortige Innenminister Joachim Herrmann, lebe man sicherer als im Rest der Republik, aber auch sicherer als im vergangenen Jahr oder vor 30 Jahren. Das müsse man denen entgegenhalten, "die mit Fake News unterwegs sind und die Mär verbreiten, alles werde immer schlimmer". Eben noch Besorgnis über zweistellige Anstiege bei Gewalttaten, jetzt Entwarnung - ob das die Bürger überzeugen wird?
Seit vielen Jahren weisen die Kriminalstatistiken in diese Richtung: Das Risiko, Opfer einer schweren Gewalttat zu werden, ist in Deutschland niedriger als in früheren Jahren. Trotzdem glauben viele Bürger, es werde immer ärger mit der Gewalt - mehr, brutaler, rücksichtsloser. Wer bei Google als Suchwort "Angst-Ort" eintippt, wird schnell fündig: Berlin-Alexanderplatz, das Oldenburger Kennedyviertel, der Bahnhof im schwäbischen Horb, Stadthaus Bonn - alles Orte voller Drogen, Dreck, Suff, Pöbeleien.
Laut Umfragen machen sich fast 30 Prozent der Deutschen Sorgen, sie könnten Opfer eines Gewaltverbrechens werden. Jeder zweite glaubt, das Risiko werde steigen. Am meisten sorgen sich die Anhänger der AfD. Bestätigt dürften sie sich gefühlt haben, als kürzlich der CDU-Politiker Jens Spahn klagte, der Staat könne nicht mehr für Recht und Ordnung sorgen.
Menschen ein Gefühl dafür zu geben, wie sicher sie leben - für Politiker ist das zur Herausforderung geworden, vergleichbar mit Integration oder Gesundheitsschutz. Eine schwierige Aufgabe, denn längst hat sich die Angst vor Gewaltverbrechen von der Realität abgekoppelt.
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) ist eine der Institutionen, die Kriminalität vermessen und analysieren: Jugendgewalt, Kriminalität von Zuwanderern, Radikalisierung im digitalen Zeitalter. Fragt man KFN-Direktor Thomas Bliesener, welche Botschaft nun stimme, die schlechte vom vergangenen Jahr oder die gute aus diesem, lacht er erst mal und sagt: "Kommt darauf an, welche Strecke man überblickt."
Ohnehin bezweifeln Experten, dass die Polizeistatistik ein realistisches Bild der Sicherheitslage liefert. Politiker fragen nicht weiter danach; sie nutzen das Zahlenwerk wie Knetmasse. Aus veränderten Stellen hinter dem Komma lassen sich Herausforderungen oder Erfolge modellieren. Auf das Risiko jedes Einzelnen haben Einjahresschwankungen keine Auswirkung, die Fallzahlen sind viel zu gering. Für die Wissenschaft sind sie bedeutungslos, es gibt zu viele Möglichkeiten der Verzerrung.
Kriminologen lassen stattdessen lange Zeitreihen sprechen. In Dunkelfeldstudien fragen sie Menschen nach Opfererfahrungen, auch solchen, die sie nicht bei der Polizei gemeldet haben. Sie vergleichen die gefühlte mit der gemessenen Kriminalität.
Blieseners Drucker spuckt Grafiken und Zeitreihen zu allen möglichen Delikten aus. Anfang der Neunzigerjahre ging es mit der Kriminalität in Deutschland deutlich nach oben, eine Wellenbewegung, ausgelöst durch die deutsche Einheit, die Öffnung der Grenzen nach Osten, einen Einwanderungsschub von Russlanddeutschen. Seitdem nimmt die Kriminalität in Deutschland insgesamt ab.
Gewalttaten machen dabei gerade mal drei Prozent aus. Ihre Zahl bewegt sich heute ungefähr auf dem Niveau von 2001, Tendenz fallend. Je mehr Jahre man überblickt, desto weniger verzerren Ausreißer nach oben oder unten das Bild.
Ein Beispiel: Zwar wies die Polizeistatistik für 2016 im Vergleich zum Vorjahr 12,8 Prozent mehr Vergewaltigungen und schwere sexuelle Nötigungen aus. In absoluten Zahlen waren es aber weniger Fälle als ein paar Jahre vor der Flüchtlingswelle, etwa 2012 oder sogar zehn Jahre zuvor. Im Jahr 2011 gaben in einer Befragung des KFN 2,4 Prozent der Frauen zwischen 16 und 40 Jahren an, in den vorangegangenen fünf Jahren Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Anfang der Neunzigerjahre: 4,7 Prozent.
Je schwerer die Folgen eines Delikts, so lautet eine Regel, desto näher kommt die Statistik der Wirklichkeit: Erfasste man in den Siebzigerjahren bis zu zwölf vollendete Sexualmorde an Kindern pro Jahr, sind es heute eher zwei bis vier. Noch eindrucksvoller: Seit den Achtzigerjahren hat sich die Zahl der Menschen, die durch Gewalttaten getötet werden, annähernd halbiert, vielleicht auch, weil dabei nur noch halb so oft geschossen wird. Körperverletzungen kommen laut Polizeistatistik zwar deutlich häufiger vor als damals. Hält man jedoch Opferstatistiken daneben, so wird dabei immer seltener jemand tödlich verletzt. Experten sind sich einig, dass Menschen heute selbst geringfügige Gewalttaten eher anzeigen als früher; Dunkelfeldstudien bestätigen das.
"Nicht nur, dass die gefühlte und die reale Gefahr immer weiter auseinandergehen", sagt Bliesener, "es fürchten sich auch die Falschen. Frauen und ältere Menschen mehr als junge. Die meisten Opfer von Gewaltkriminalität sind junge Männer, die fürchten sich am wenigsten" - das sogenannte Kriminalitätsfurcht-Paradoxon.
Diskrepanzen, zu deren Gründen es viele Vermutungen gibt. Ältere und Frauen könnten sich eher ihrer körperlichen Unterlegenheit bewusst sein; Kriminologen gehen davon aus, dass sich in der Furcht vor Verbrechen viele andere Ängste ein Ventil suchen, die schwerer greifbar sind: Angst vor sozialem Wandel, Existenzängste, Angst vor dem Fremden. Dafür könnte sprechen, dass sich Ostdeutsche mehr fürchten als Westdeutsche, bei vergleichbarer gemessener Kriminalität. Über die stärkste Quelle der Kriminalitätsfurcht hingegen sind sich Experten einig: "Politik und Medien können daraus Kapital schlagen: Quote, Auflage, Wählerstimmen", sagt Bliesener. "Wir sprechen vom politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf." Medien, auch der SPIEGEL, müssen abwägen: Berichten sie über diesen Teil der Wirklichkeit, verstärken sie den Mechanismus, ob sie wollen oder nicht.
Regelmäßig ist der KFN-Direktor in Sachen Aufklärung unterwegs, auf Bürgerforen oder in Volkshochschulen. Mit seiner Botschaft von einer sicherer werdenden Umgebung hat er es schwer: "Wer die Bilder aus der Berliner U-Bahn gesehen hat, wie der Typ die Frau die Treppe runtertritt, der kriegt das nicht mehr aus dem Kopf."
In Endlosschleifen erörtern Talkshows Bedrohungsszenarien, die in der Lebenswelt der meisten Menschen keine reale Bedeutung haben - kriminelle Clans, entflohene Sexualstraftäter, Amokläufe, Terror, dazu Sendungen wie "Aktenzeichen XY ... ungelöst" und immer noch: Bilder von der Kölner Domplatte.
Algorithmen der Suchmaschinen verzerren zusätzlich das Bild, indem sie alle möglichen Sexualmorde der vergangenen Jahrzehnte präsentieren, obwohl man sich nur über den aktuellen Fall informieren will; auch Push-Nachrichten digitaler Medien vermitteln eine scheinbare Häufung extrem seltener Vorfälle.

Viele Zuhörer nehmen es dankbar auf, wenn Bliesener mit seinen Statistiken dagegenhält. Andere sagen, seine Zahlen seien falsch, die Polizei verschweige das wahre Ausmaß. "Meist sind es Männer, die ein Gegenreferat halten, mit Zahlen aus dem Internet, die sich vor Ort nicht überprüfen lassen." Der Mord an der Freiburger Studentin, die Vergewaltigung auf der Bonner Siegaue durch einen "Machetenmann" aus Ghana, der Junge, den seine Eltern zum Missbrauch im Internet anboten, der erstochene Schüler in Lünen - dies alles seien Taten, die das Sicherheitsgefühl der Bürger erschütterten, auch durch die mediale Wiederholung, sagt Bliesener. "Aber aus Sicht der Wissenschaft sind es Einzelfälle. Sie erhöhen das Risiko für den Einzelnen nicht."
Ein Trend würde sich erst ab rund hundert Fällen Veränderung pro Jahr abzeichnen, "darunter ist es schwer, Verläufe und Fallzahlen zu bewerten". 2016 schnellte beispielsweise die Zahl der mutmaßlichen Morde nach oben. Aber allein 72 der 373 Opfer gingen auf das Konto des Krankenpflegers Niels Högel. "Begangen hat er die Morde bis 2005", sagt Bliesener, "verbucht wurden sie 2016."
Das Problem ist: Auch wer sich eher unbegründet ängstigt, ändert sein Verhalten und seine Erwartungen an die Politik. Laut einer Online-Umfrage wünschen sich 70 Prozent härtere Strafen. Und die Deutschen rüsten auf, im Privaten.
Großen Ansturm, sagt Michael Hartmann vom Hamburger Waffenhaus Eppendorf, habe er im Herbst 2015 erlebt und noch mal nach der Kölner Silvesternacht. Hausfrauen kamen in das alteingesessene Geschäft, 14-jährige Mädchen in Begleitung ihrer Mutter, Rentner aus dem feinen Blankenese, ein junges Paar mit Kinderwagen - Menschen, die noch nie in ihrem Leben einen Waffenladen betreten hatten. Ein katholischer Geistlicher fragte nach einer Schreckschusspistole.
"Da ist ein extremes Bedürfnis nach Selbstschutz", sagt Hartmann. Er verstehe das: "Die Leute haben schlechte Erfahrungen gemacht."
Zum Beispiel?
"Dass einem draußen sechs, sieben Leute entgegenkommen, die keinen Platz machen. Einfach der Verdrängungswettbewerb auf den Straßen, auch wenn dann nichts passiert ist."
Ende 2017 waren in Deutschland 557560 kleine Waffenscheine registriert. Damit sind eine runde Viertelmillion mehr Menschen berechtigt, Schreckschusswaffen in der Öffentlichkeit zu tragen, als noch zwei Jahre zuvor.
Über Kriminalität gibt es viele Wahrheiten. Opfer, Täter, Polizei, Strafverfolger, Kriminalpolitiker - jeder hat seine eigene. Wer verstehen will, welche Rolle Statistik dabei spielt, muss nach Konstanz fahren, zu Wolfgang Heinz, dem langjährigen Leiter des Instituts für Rechtstatsachenforschung der Universität Konstanz. Heute ist Heinz emeritiert, er bittet zum Gespräch auf seine Reihenhausterrasse, zwischen Kirschbäumen blitzt von unten der Bodensee herauf.
Quasi im Einmannbetrieb hat Heinz das "Konstanzer Inventar" aufgebaut, eine immense Datenbank, in der Statistiken zusammenfließen, die im Vergleich miteinander ein anderes Bild ergeben als einzeln: Daten von Polizei und Staatsanwaltschaften, Strafverfolgungs-, Bewährungshilfe- und Strafvollzugsstatistiken.
"Schon klar, dass Vertreter von Sicherheitsbehörden sich von Gewalt und Kriminalität umzingelt sehen", sagt Heinz, "ihr Denken kreist ja permanent um Gefahrenabwehr, das ist ihr Job. Nur mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun."
Die Unzulänglichkeiten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) sind bekannt: Die PKS sammelt jeden Verdachtsfall, aber längst nicht jeder Verdacht bestätigt sich. Die Fallzahlen hängen zudem von der Anzeigebereitschaft und vom Ermittlungseifer der Polizei ab. Auch zählt die Statistik Taten, ohne zu erfassen, wie schwer ihre Folgen sind; eine harmlose Körperverletzung wandert in die Kategorie "gefährlich", allein weil eine Waffe im Spiel war; auch festes Schuhwerk gehört dazu.
Fälle wie jener der fünf jungen Flüchtlinge, die in der Berliner U-Bahn beinahe einen Obdachlosen angezündet hätten, verzerren das Bild: "In der PKS tauchen sie auf, wie die Polizei sie erfasst hat, als Mordversuch", sagt Heinz. "Verurteilt wurden die Täter nur wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung. Zu Schaden kam dabei glücklicherweise niemand. Nach dem Muster überschätzt die PKS die Kriminalität."
Aber auch Bewusstseinswandel und neue Gesetze bringen ein Auf und Ab, besonders bei Sexualstraftaten: "In den Sechzigerjahren war die Frau auch aus Sicht von Polizei und Gericht oft selbst schuld, wenn sie kurze Röcke trug." Klar, dass deswegen weniger Vergewaltigungen angezeigt wurden. "In der Ehe kam die Vergewaltigung im öffentlichen Bewusstsein bis zur Gesetzesänderung 1997 gar nicht vor."
Aktuell sind die Zahlen für Sexualstraftaten wieder gestiegen, auch eine Folge von Gesetzesänderungen in den vergangenen Jahren. So können sich Grapscher jetzt wegen sexueller Belästigung strafbar machen; bisher galt das oft nur als Beleidigung.
Selbst wenn sich real nichts verändere, sagt Heinz, "etwas Besorgniserregendes werden Sie in der PKS immer finden. Weil man ihre Daten instrumentalisiert, um damit Forderungen und Entscheidungen zu begründen". Nach mehr Polizei, härteren Strafen oder mehr Befugnissen für Ermittler wie im umstrittenen neuen bayerischen Polizeigesetz.
Was hingegen fehlt, sind Daten, die zeigen könnten, wie sich solche Maßnahmen auswirken. Es gibt keine kontinuierlichen, repräsentativen Dunkelfeldstudien und nicht mal eine fortlaufend geführte Rückfallstatistik. "Statistisch gesehen sind wir Entwicklungsland", sagt Heinz. "Wir leisten uns Kriminalpolitik im Blindflug."
Vor mehr als zehn Jahren war er an dem Versuch beteiligt, im Regierungsauftrag Erkenntnisse über die Kriminalitätslage zu einem objektiven Bild zu bündeln, im "Periodischen Sicherheitsbericht". Heinz steigt in den Keller und kommt mit zwei telefonbuchdicken Bänden zurück, erstellt von Experten aus Kriminologie, Soziologie und dem Bundeskriminalamt, persönlich signiert von der früheren Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.
Das Fazit damals: "Erstens: Wir brauchen mehr Daten. Zweitens: Wir haben Probleme mit Kriminalität, aber im Verhältnis zu anderen Problemen sind sie eher gering. Drittens: Für die Sicherheit bringen harte Strafen wenig. Viertens: Am nachhaltigsten verbessert Prävention die Sicherheit, dazu zählen Investitionen in Bildung, Lebensqualität, Städtebau."
Zweimal erschien der Bericht, im Jahr 2006 war damit Schluss. "Politik ist oft beratungsresistent", sagt Heinz. "Manche Dinge will man lieber nicht wissen. Denn wenn man wüsste, es bringt nichts, könnte man vieles nicht mehr machen."
Sommer 2017, Vorlesung an der Universität Tübingen bei Jörg Kinzig. Regelmäßig wird der Kriminologe zu Expertenanhörungen im Bundestag gebeten. Dort geht es um kriminalpolitische Maßnahmen wie die Verschärfung der Sicherungsverwahrung, den Warnschussarrest für Jugendliche oder härtere Strafen für Angriffe gegen Polizisten. Zuletzt war Kinzig in Sachen elektronische Fußfessel für Terrorunterstützer in Berlin. "Die meisten Fachleute waren sich einig: Das bringt nichts", sagt Kinzig. Die Fußfessel kam trotzdem. Wissenschaft sei das eine, aber Kriminalpolitik funktioniere anders, habe ihm der Vorsitzende des Rechtsausschusses mal offen ins Gesicht gesagt.
Vorlesungsthema an diesem Tag ist die Flüchtlingskriminalität, der Hörsaal ist voll. Selbst unter Studierenden glaubten viele, dass die Kriminalität ansteige. Spätestens seit dem Mord an der Freiburger Studentin Maria L. spricht ganz Deutschland über die Frage, ob Flüchtlinge krimineller sind als Deutsche - und, wenn ja, was dagegen zu tun sei. Kinzigs Antwort: "Kriminalität ist keine Frage des Passes, sondern von Lebenslagen."
Dazu passt das Ergebnis einer Studie, in der das KFN die Kriminalität Deutscher mit der von Nichtdeutschen verglich. Fazit: Auch wenn man Alters- und Geschlechtsunterschiede herausrechnet, wären Nichtdeutsche höher mit Kriminalität belastet. Ganz einfach weil sie als Gruppe Merkmale in sich vereinen, die auch bei Deutschen als kriminalitätsfördernd bekannt sind, wie geringe Schulbildung oder niedriger sozioökonomischer Status. Aber als Kinzig in einem Radiointerview zum Maria-Fall den Umkehrschluss zog, dass Deutsche auch nicht anders kriminell würden als Flüchtlinge, schrieb jemand ins Hörerforum: "Die Welt wäre besser, hätte der Afghane statt der jungen Frau den Herrn Kinzig ersäuft."
Es ist das Vermittlungsproblem, vor dem jeder steht, der angesichts schrecklicher Taten für eine rationale Kriminalpolitik eintritt: Den Opfern, mit denen sich die meisten Menschen identifizieren, nützen kriminologische Erkenntnisse nichts. Es ändert nichts am Horror eines Vergewaltigungsopfers, zu wissen, dass dieses Delikt sehr selten ist. Was Geschädigten als Genugtuung bleibt, ist oft nur die Strafe für den Täter.
Wer versucht, das Leid der Opfer zu würdigen, und gleichzeitig auf sinkende Fallzahlen oder mangelnde Belege für den Nutzen von Repression verweist, steht schnell als Zyniker da. Manchmal fragt sich Kinzig, ob sie irgendetwas übersehen. "Aber den Täter, der vorher ins Strafgesetzbuch schaut, gibt's nicht. Erst recht bei Gewalt- und Sexualstraftaten ist Drohen nutzlos, die folgen meistens dem Impuls." Dass trotzdem seit 20 Jahren die Sexualmorde zurückgehen, führen Kriminologen auf ein freieres Sexualleben zurück und auf bessere Therapiemöglichkeiten.
Es gebe etwas anderes, das Gesetze schaffen könnten: Bewusstsein. "Früher haben einen die Eltern schon mal geschlagen, auch wenn sie einen lieb hatten. Seit das eine Straftat ist, geht die Gewalt in den Familien zurück" - nicht in der Polizeistatistik, da gehen die Fallzahlen für Kindesmisshandlung hoch, weil sich Nachbarn oder Verwandte heute eher an Behörden wenden, aber wenn man Opferbefragungen und Dunkelfeldstudien heranzieht.
Gewalt, früher ein legitimes Mittel zur Problemlösung, gilt heute selbst als Problem, in vielen Gesellschaften ist das so. Aber woher kommt das?
Eine verblüffend simple Antwort lautet: von selbst. Gesellschaften altern. Im Hinblick auf die Kriminalitätsentwicklung ist das eine gute Nachricht: weniger junge Männer gleich weniger Gewaltkriminalität.
Aber auch junge Menschen sind heute weniger gewalttätig als früher, jedenfalls in den westlichen Industrieländern. In Deutschland sind in den vergangenen zehn Jahren schwere Gewaltstraftaten Jugendlicher drastisch zurückgegangen. Ob jüngste Zuwächse von Jugendgewalt in einzelnen Bundesländern auf mehr Anzeigen oder mehr Gewalt zurückgehen? Schwer zu sagen, noch schwerer, ob es sich dabei um eine Trendwende handeln könnte. Und die Gründe für den langfristigen Rückgang von Gewalt? Experten sehen sie vor allem in der gewaltfreien Erziehung und dem veränderten Freizeitverhalten: Statt draußen auf irgendwelchen Parkbänken rumzuhängen und Unsinn zu machen, sitzen Jugendliche vor dem Computer oder am Handy.
Es gibt auch keine Belege dafür, dass die Gewalt Jugendlicher brutaler geworden sei, eher im Gegenteil: Bei schweren Gewalttaten wie Totschlag oder Vergewaltigung haben sich die Verurteiltenzahlen bei Jugendlichen und Heranwachsenden etwa halbiert. Auf Schulhöfen beispielsweise zählten Versicherer 2016 nur noch halb so oft Knochenbrüche wie Mitte der Neunzigerjahre. Dunkelfelduntersuchungen zeigen, dass die Gewaltbereitschaft unter Schülern seit Jahren stetig abnimmt, möglicherweise eine Folge der langjährigen Präventionsarbeit in den Schulen.
Aktuelle Daten des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen legen nahe, dass dieser Effekt in Deutschland derzeit bei den Mittzwanzigern ankommt. Optimistisch gesprochen könnte es sein, dass gerade eine friedlichere Generation nachrückt.
Auch global betrachtet leben wir wohl in der sichersten aller Welten. Allen Schreckensbildern aus den Medien zum Trotz gibt es heute weitaus weniger Kriegstote als in früheren Jahrhunderten. Weltweit stirbt heute weniger als ein Prozent aller Menschen einen gewaltsamen Tod. Noch im 20. Jahrhundert waren es drei Prozent. Die Mordrate in Europa sinkt seit dem 14. Jahrhundert.
Das Institute for Economics and Peace in Sydney errechnet alljährlich einen globalen Friedensindex. Er erfasst Kerndaten wie Mordrate, Sicherheitsempfinden, Zahl der Inhaftierten, Zugang zu Waffen, Betroffenheit durch Terrorismus, Krieg und Bürgerkrieg, aber auch Faktoren wie gewalttätige Demonstrationen, Grad der Militarisierung oder politische Stabilität.
Danach ist Europa mit Abstand die sicherste Region der Erde, Deutschland lag 2017 auf Rang 16 von 163 bewerteten Ländern, hinter Island, Österreich, Dänemark. Zum Vergleich: Die USA liegen auf Rang 114, China folgt auf Rang 116. Am unteren Ende der Skala: Irak, Afghanistan, Syrien.
Eine international gebräuchliche Kennziffer für die Sicherheit einer Gesellschaft ist die Mordrate. Nach einer Studie der Uno aus dem Jahr 2013 verlieren auf der Welt jährlich fast eine halbe Million Menschen durch vorsätzliche Tötung ihr Leben. Mehr als die Hälfte von ihnen verteilt sich auf gerade mal zehn Länder, darunter Brasilien, Indien, Nigeria, Kolumbien, die USA, Venezuela.
In Venezuela lag die Rate bei 53,7 pro 100.000 Einwohner.
Globaler Schnitt: 6,2.
In Europa: 3,0.
In Deutschland: 0,8.

Folgt man dem Harvard-Psychologen Steven Pinker, wird sich der globale Trend zur Gewaltlosigkeit fortsetzen. Vereinfacht lautet seine Botschaft: Menschen wollen ein glückliches Leben führen. Weil Gewalt dem im Weg steht, entwickeln sie immer friedfertigere Formen des Zusammenlebens. Dabei helfe unter anderem die "Verweiblichung" von Gesellschaften. Je mehr Macht Frauen in einer Kultur haben, so Pinker, desto stärker die Abkehr von der machohaften Verherrlichung der Gewalt. Auch mehr Bildung mache die Welt friedfertiger: Gebildetere Menschen kooperieren mehr, sind weniger anfällig für rassistische, sexistische, fremdenfeindliche Einstellungen und begehen weniger Gewalttaten - weltweit genauso wie in Berlin-Neukölln.
Kein Grund zum Zurücklehnen, sagt die Tübinger Kriminologin Rita Haverkamp. "Jedes einzelne Gewaltopfer wird schwer getroffen." Haverkamp forscht in Sachen Sicherheit in Kommunen wie Wuppertal oder Stuttgart. Beliebt bei der Politik sei Kriminaltechnik - Videokameras beispielsweise würden oft als Allheilmittel betrachtet. Haverkamp sieht das kritisch: "Kameras vermitteln Sicherheit, die so nicht gegeben ist." Programme, die sie empfiehlt, umfassen anderes: potenzielle Gewalttäter persönlich ansprechen, Kinder in prekären Verhältnissen unterstützen, die Erziehungskompetenz junger Eltern verbessern, Frauen aus Migrantenfamilien Kontakt und Bildung bieten.
Kurz gesagt beruft sich Gewaltprävention, wenn sie wissenschaftlich basiert ist, auf eine Art Mantra: "Gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik." Formuliert hat es der Rechtswissenschaftler Franz von Liszt, vor mehr als hundert Jahren.
Aber was hilft gegen die Kriminalitätsfurcht? Andere Perspektiven einnehmen, sagt Haverkamp. "Das kann man trainieren." Im vergangenen Jahr war sie zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, Thema: "Wie sicher ist Tübingen?" Kurz zuvor hatte ein Vorfall in der Lokalzeitung Schlagzeilen gemacht: Auf einem Konzert in einer studentischen Party-Location sollten dunkelhäutige Gäste Frauen sexuell belästigt haben. Zwar hatte sich bis dahin bei der Polizei kein Opfer gemeldet. Aber die Rede war von Tübingen als "Gefahrenzone". Ein älterer Herr sagte, dass seine Frau nicht mehr draußen joggen gehe.
Das andere große Thema: Terror, eine der größten Ängste der Deutschen. "Die Gefahr besteht, wird aber überschätzt", sagt Haverkamp. Auch ihre Studenten seien der Meinung, die Terrorgefahr sei höher denn je. Tatsächlich war 2016 in Westeuropa ein schlimmes Jahr mit 142 Terrortoten. Aber in den Siebzigerjahren waren es im Schnitt noch 265 pro Jahr. In Deutschland bewegen sich die Opferzahlen für die vergangenen Jahre im niedrigen zweistelligen Bereich, "trotzdem haben Leute Angst auf dem Weihnachtsmarkt".
Haverkamp macht bei solchen Gelegenheiten gern noch eine andere Rechnung auf: Danach sind die gefährlichsten Orte die eigenen vier Wände: Jedes Jahr sterben in Deutschland fast 10.000 Menschen bei Haushaltsunfällen.
Man kann solche Vergleiche als polemisch abtun - nicht so die finnische Regierung. Im Oktober hat sie ein nationales Aktionsprogramm zur inneren Sicherheit verabschiedet. Darin räumt sie dem hohen Unfallrisiko als öffentlicher Herausforderung einen ebenso hohen Rang ein wie der Kriminalität und anderen Bedrohungen.

"Vermutlich würde es das Sicherheitsgefühl der Menschen enorm heben, wenn sie lernen würden, Risiken richtig einzuschätzen", sagt Haverkamp, am besten schon in der Schule.
Menschen hingegen, die niemand ermutige, ihre Angstmuster zu überprüfen, steckten in einem Dilemma: "Je mehr Sicherheit ich habe, desto sensibler werde ich", sagt Haverkamp. "Für Phänomene, die noch keine Straftaten sind, Menschen, die aggressiv auftreten, lärmende Jugendliche, Obdachlose - all das wird dann als Bedrohung empfunden. Auch wenn nichts passiert." Dass dort nie etwas passiere, kann man von Berlin nicht behaupten. Lokalzeitungen widmen Angst-Orten in der Hauptstadt ganze Kolumnen. Nicht leicht, hier gegen den Strom zu denken. Tanja Knapp, Kriminaldirektorin in Kreuzberg, versucht es trotzdem. Knapps Abschnitt 53 ist mit dem Görlitzer Park und dem Kottbusser Tor im Prinzip ein einziger Kriminalitäts-Hotspot. Und was das Sicherheitskonzept betrifft, ein Experimentierfeld.
Knapp will die Probleme nicht kleinreden: Am Kottbusser Tor, seit Jahrzehnten ein sozialer Brennpunkt, tauchten vor zwei, drei Jahren zusätzlich große Gruppen aus Nordafrika auf, mehr Waffen, mehr Gewalt. An den Eingängen zum Görlitzer Park standen schwarze Dealer Spalier. Wer nichts kaufen wollte, war schnell mal sein Handy los. "Die Leute haben sich empört, zu Recht. Und wir haben entsprechend massiv reagiert."
Und heute? "Können Sie an beiden Orten wieder normal über den Platz laufen."
Nur: Viele Berliner meiden den Park. In der "BZ" war mal zu lesen, für die Anwohner sei er "14 Hektar Angst, eine Tabu-Zone mitten in ihrem Kiez". Es ist einer dieser Orte, an denen sich die Debatte entzündet, ob der Staat die Kontrolle verliere. Wer sich trotzdem hintraut, sieht: Mütter und Väter mit Kinderwagen, Hipster, Radfahrer, Obdachlose, dürre, in Cannabiswolken gehüllte Gestalten - und die Beamten der Brennpunktstreife, die in neongelben Signalwesten Präsenz zeigen. Ihre Aufgabe: ansprechbar sein, die gefühlte Sicherheit erhöhen.
Im "Görli" läuft das Projekt einer Anwohnerinitiative, einzigartig in Deutschland: Bezirksamt, Stadtreinigung, Quartiersmanagement, Kreuzberger - alle zusammen an einem Tisch mit der Polizei. Die setzt im Park auf weniger statt mehr Kontrolle. Wer anderen Angst macht oder am Kinderbauernhof Drogen anbietet, wird konsequent verfolgt. Aber anstatt wie früher in Großeinsätzen Junkies zu jagen, kooperiert die Polizei heute mit Fixpunkt, einem Verein, der Suchtkranken saubere Spritzen anbietet.
Vor zehn Jahren wäre das ideologisch verhindert worden, sagt Knapp. Dabei sei der Kampf gegen die Drogen von der Polizei allein ohnehin nicht zu gewinnen. "Aber wir wollen zeigen, dass wir einen verloren geglaubten Platz zurückerobern können." Es scheint zu funktionieren. Ein Parkmanager residiert in einem Bauwagen, eigens ausgebildete Parkläufer schlichten Streit um wildes Grillen und Pinkeln, der Bezirk hat neue Lampen spendiert und einen Zaun um den Kinderspielplatz. Die Stadtreinigung kommt jetzt öfter vorbei. Und die Kriminaldirektorin hofft auf den Sommer, am Angst-Ort Görlitzer Park ist ein Kulturprogramm geplant.
"Die objektive Sicherheitslage ist beruhigt, deutlich weniger Raub und Taschendiebstähle, kaum sexuelle Belästigungen. Ein schöner Erfolg eigentlich", sagt Knapp. "Jetzt müssen wir nur noch die Berliner davon überzeugen."