Lebenseinstellung Der Schatten in der Lunge

Paul Baxter
Foto: Paul Baxter / SWNS.comDas erste Mal, als seine Lunge rasselte, war Paul Baxter 18 Jahre alt, er hustete, und es fühlte sich an, als würde ihm jemand in die Flanke stechen. Ein Arzt nahm eine Spritze, die an einem Schlauch hing und die in Baxters Erinnerung einem Degen ähnelt, bohrte sie durch sein Rippenfell und ließ die austretende Flüssigkeit in einen Eimer laufen. "Wie Rotwein", sagt Baxter.
Das zweite Mal, vor 13 Jahren, hatte sich Baxter beim Briefeaustragen einen scheppernden Husten gefangen. Eines Morgens lag er im Bett und brabbelte wirr. Im Krankenhaus behandelten ihn die Ärzte, als hätte er eine Hirnhautentzündung, und merkten nach drei Tagen, dass er eigentlich einen Schlaganfall erlitten hatte, weil der Infekt aus seiner Lunge aufs Hirn gesprungen war.
Paul Baxter und seine Frau Hellen lachen, als sie das erzählen. "Was passiert, passiert", sagt Hellen Baxter, und als sie das sagt, lächelt ihr Mann und nickt, als sei das ein schlauer Satz. Baxter streichelt die Ohren seines Pudels und hustet ein wenig, bevor er seine Geschichte erzählt. Man hört diesen Husten und ahnt, dass er viel und gern raucht.
Paul Baxter, 50, Postbote, Dauerbewohner eines Wohnwagens außerhalb Manchesters in England, hat eine erstaunlich ruhige Art, von seinem Leiden zu sprechen. Das dritte Mal kam der Husten vor drei Jahren. Die Ärztin legte ein Stethoskop an Baxters Rücken und horchte. Sie ließ seine Lunge röntgen, sah eine Verschattung und sagte: "Das gefällt mir nicht."
Sie riet Baxter, ins Krankenhaus zu fahren.
Die Familie der Baxters ist nicht mit Gesundheit gesegnet. Pauls Mutter starb jung an Leukämie, Hellens Vater starb jung an einem Hirntumor. Viele Menschen hätten sich an Baxters Stelle gefürchtet vor Verschattungen.
Man könnte sich Paul Baxter anschauen, mit seinen kariösen Zähnen und den nikotingelben Fingern. Man könnte sich seine Frau Hellen anschauen, die einen Arbeiterakzent hat und während des Gesprächs "Bubble Tetris" auf ihrem iPad spielt. Man könnte sich den Wohnwagen anschauen, der nach Duftbaum, Variante "Bali", riecht, man könnte den dreckigen Teppich betrachten, den halb irren Pudel Eric oder den Megafernseher. Und man könnte denken, das sind Leute, die es nicht weit gebracht haben und die, weil sie filterlos rauchen, viel Bier trinken und Grillfleisch essen, jung sterben werden.
Paul Baxter sorgte sich nicht weiter um die Verschattung, machte entspannt einen Termin im Krankenhaus und fuhr sechs Wochen später hin. Er nahm eine Kamera an einem Kabel in den Mund und schaute auf einem Monitor zu, wie die Kamera in seiner Luftröhre nach unten rutschte. Der Arzt sagte, er sehe da etwas, aber sein Instrument sei zu kurz. Baxter dachte, wenn der Verdacht auf ein Lungenkarzinom bestünde, würde ihm ein Arzt sagen, da bestehe der Verdacht auf ein Lungenkarzinom. Baxter machte einen neuen Termin, kam vier Wochen später wieder und schaute sich ein zweites Mal an, wie der Arzt eine Kamera in seinen Hals schob. Dieses Mal war das Instrument lang genug.
"Es ist orangefarben", sagte der Arzt, dann begann er zu lachen. Baxter wollte mitlachen, was schwierig war, weil ein Kabel in seiner Luftröhre steckte.
Er sah auf dem Monitor zu, als der Arzt ihm etwas aus der Lunge operierte. Ein Verkehrshütchen. Orangefarben an der Kante, am Zylinder schwarz vom Zigarettenrauch. Baxter hatte das Hütchen 40 Jahre zuvor schon mal gesehen, als er als Siebenjähriger mit seiner Plastik-Polizeistation der Firma Matchbox spielte. Er habe damals, sagt Baxter, gern Spielzeug gegessen. Er habe zum Beispiel alle Räder seiner Autos abgenagt, weil er das lustig fand. Nicht wegen des Geschmacks, sagt er. Beim Versuch, das Hütchen zu verspeisen, muss er es eingeatmet haben.

Das Hütchen, das Paul Baxter eingeatmet hat
Foto: 2017 BMJ Publishing GroupDer Arzt bat Paul Baxter, die Geschichte aufschreiben zu dürfen. Diesen Herbst erschien der Text in der Ärztezeitung, und Paul Baxter wurde berühmt. Er ist jetzt der Hütchenmann. (Auch SPIEGEL ONLINE berichtete.)
Es ist eine seltsame Welt, in der ein Mensch Ruhm erlangt, weil er ein Spielzeug einatmet. Banal, könnte man sagen. Aber wer sich zu Paul Baxter in den Wohnwagen des Typs "Senator" setzt und ihm zuhört, begreift die Leistung dieses Mannes: Er ist arm, oft krank, aber er macht weiter. Er lebt.
Die Stoiker haben eine ganze Philosophie darauf gegründet, auf diese Art dem Schicksal zu trotzen. Monty Python haben ein Lied darüber geschrieben, eine Zeile lautet: "Life's a piece of shit when you look at it (...) always look on the bright side of life." Hellen Baxter sagt es so: "Die Zeit tickt, während du dich sorgst, deshalb kannst du sie genauso gut zum Leben nutzen."
Paul Baxter raucht weiter, trinkt weiter Ale, grillt weiter auf Holzkohle, verteilt seine Briefe, sagt Hellen jeden Tag, dass er sie liebt, er gibt sein Geld aus, wenn was da ist.
Am Dienstag vor einer Woche sind Hellen und Paul Baxter von einer Kreuzfahrt heimgekehrt. Sie waren von Kopenhagen nach Miami geschippert, das Geld dafür hatten sie gespart. Als die Baxters die Bermudas erreichten, morgens um sieben, stellten sich die beiden aufs Oberdeck. Sie schauten ins türkisfarbene Wasser und auf die alten Häuser am Kai und waren glücklich. Die Sonne ging gerade auf.
"Komm", sagte Hellen an diesem Morgen zu ihrem Paul, "lass uns von diesem Schiff runter, lass uns was entdecken gehen."