Vorwürfe gegen Institut für Zeitgeschichte Haben Deutschlands renommierteste NS-Aufklärer die Nazis verharmlost?

Fotos jüdischer NS-Opfer in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem
Foto: ABIR SULTAN/EPA/REX/ShutterstockDas Register enthält Tausende Namen: von Schreibtischtätern und Exzessmördern, Unternehmen und Behörden, Konzentrationslagern und Hinrichtungsplätzen. Wer wissen will, wie die Deutschen rund sechs Millionen Juden umbrachten, wird in Raul Hilbergs "Die Vernichtung der europäischen Juden" rasch fündig. Die Studie erschien 1961 auf dem US-Markt. In den Händen deutscher Staatsanwälte wäre sie "eine Waffe gewesen", schrieb Hilberg später. Nirgendwo sonst konnten sich Ermittler damals in gleicher Weise über den Judenmord informieren.
Doch der ausdrückliche Wunsch deutscher Strafverfolger, eine Übersetzung in der Bundesrepublik herauszubringen, blieb lange unerfüllt. Erst nach dem Mauerfall wurde das Standardwerk des Professors aus Vermont zum Bestseller.
Für die Gründe der Verzögerung interessieren sich bislang nur Fachleute, aber das könnte sich nun ändern. Nächste Woche präsentieren die Historiker Götz Aly und René Schlott auf einer Hilberg-Konferenz in Berlin unbekannte Dokumente, die einen großen Schatten auf Deutschlands renommierteste Institution zur Aufarbeitung der NS-Geschichte werfen: das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ).
Es geht um zwei Gutachten für die Verlage Droemer Knaur (1964) und C.H. Beck (1980). Sie erwecken den Verdacht, das Institut habe ein Erscheinen von Hilbergs Buch auf dem westdeutschen Markt "hintertrieben", wie Aly urteilt. Mit teilweise fadenscheinigen Argumenten rieten die Gutachter von einer Veröffentlichung ab; zumindest der Beck-Verlag entschied sich nachweislich aufgrund des IfZ-Papiers gegen eine Publikation. Und da Hilberg nicht der einzige jüdische Historiker war, der, wie Schlott sagt, "Schwierigkeiten oder Konflikte" mit dem IfZ hatte, stellt sich die böse Frage: Haben ausgerechnet die Münchner NS-Forscher jüdische Kollegen ausgegrenzt?
Der Ruf des Instituts für Zeitgeschichte ist legendär, seine Historiker haben schon für den berühmten Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) Gutachten gefertigt, die zu Standardwerken wurden. Seit Jahrzehnten spielen IfZ-Experten eine führende Rolle in den internationalen Debatten über den Nationalsozialismus. Erst kürzlich erregte das Institut weltweit Aufsehen, weil es "Mein Kampf" in einer wissenschaftlichen Edition herausbrachte (SPIEGEL 2/2016).
Viele Ministerien und Bundesbehörden greifen auf die Koryphäen des Instituts zurück, wenn sie den Umgang mit der braunen Vergangenheit erforschen wollen. Vor wenigen Wochen verkündete das Kanzleramt, es werde seine Nachkriegszeit aufarbeiten lassen: natürlich von den Wissenschaftlern aus München.
Doch der Fall Hilberg lässt vermuten, dass es auch eine dunkle Seite in der Geschichte des Hauses gibt.
So hat das IfZ bereits in den Fünfzigerjahren die Übersetzung einer Pionierarbeit über die "Endlösung" abgelehnt. Autor war der jüdische Brite Gerald Reitlinger.
Rund zehn Jahre später stritt das IfZ mit dem Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf, wie vor einigen Jahren der Historiker Nicolas Berg berichtete.
Wulf hatte den Präsidenten des Bundesgesundheitsamts und ehemaligen Leiter des Warschauer Gesundheitsamts, Wilhelm Hagen, beschuldigt, als Helfershelfer am Massenmord beteiligt gewesen zu sein. Hagen klagte, und IfZ-Experte Martin Broszat sprang ihm zur Seite. Selbst als Wulf nachwies, dass Hagen verlangt hatte, "vagabundierende Juden" seien zu erschießen, blieb Broszat bei seiner Haltung.
Wulf beging später Selbstmord, auch aus Verzweiflung über den Umgang der Westdeutschen mit dem Holocaust.
Der als liberal geltende Broszat hingegen übernahm 1972 die Leitung des IfZ. In einem Disput mit Saul Friedländer, dem späteren Träger des Pulitzerpreises und des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, behauptete er, es gebe "wissenschaftlich operierende Zeitgeschichtsforschung" durch deutsche Historiker, also Männer wie ihn - und eine "mythische Form des Erinnerns" durch die Opfer. Friedländer hatte seine Eltern in Auschwitz verloren. De facto sprach Broszat ihm die Fähigkeit ab, NS-Geschichte objektiv zu beurteilen.
Broszat hatte in der Wehrmacht gedient, die NSDAP führte 1944 den damals 18-Jährigen als Mitglied. Glaubte er, das "Dritte Reich" unbefangen zu analysieren?
Seine Haltung zu jüdischen Historikern könnte erklären, warum das IfZ gleich zweimal gegen Hilbergs Buch Stellung bezog.
Der Wiener Hilberg war als 13-Jähriger mit der Familie gerade noch rechtzeitig entkommen und über Umwege in die USA geflüchtet. Nach dem Holocaust mied er die Bundesrepublik. 1963 zeigte Droemer Knaur Interesse an seinem großen Werk und bat das IfZ um eine Einschätzung.
Diese erste Expertise liegt nicht vollständig vor, Autor war wohl Broszat. Gleich eingangs wird Hilbergs Studie gelobt, sie sei bemerkenswert sachlich gehalten - offenbar wurde das von einem jüdischen Kollegen nicht erwartet.
Von einer Übersetzung riet der IfZ-Autor allerdings ab, weil drei Werke deutscher Historiker in Vorbereitung seien, die Hilberg "durch eine moderne Sehweise überlegen" seien. Zwei der drei Werke erschienen freilich nie, und an Hilbergs Niveau kam jahrzehntelang niemand heran. Aly vermutet denn auch als ein Motiv, das IfZ habe das "eigene wissenschaftliche Stammesgebiet gegen einen überlegenen Kollegen" verteidigen wollen.

Studienautor Hilberg um 1990: Bemerkenswert sachlich
Foto: Owen Stayner/ APDas zweite Gutachten von 1980 stammt von Ino Arndt, einer Wissenschaftlerin aus der zweiten Reihe des Instituts. Sie erklärte, Hilbergs Buch sei zwar ein "Standardwerk", aber veraltet, was nicht stimmte. Der Professor schrieb es kontinuierlich fort. Und Arndt führte merkwürdigerweise kommerzielle Argumente an, etwa dass es zu wenig potenzielle deutsche Leser gebe.
Dabei hatten Millionen Zuschauer im Vorjahr die TV-Serie "Holocaust" gesehen; erstmals nach Kriegsende zeigten die Deutschen ein überwältigendes Interesse an dem Menschheitsverbrechen.
Arndt ist lange tot. Man kann immerhin Horst Möller fragen, damals stellvertretender Direktor am IfZ. Das Arndt-Gutachten ging nachweislich über seinen Tisch.
Er verteidigt die Expertise als "vollkommen sachlich und gut begründet", verweist aber darauf, dass es eine "persönliche Stellungnahme" gewesen sei, die "nicht als offizielles Institutsgutachten versandt wurde". Im Haus sei nach seiner Erinnerung nie darüber diskutiert worden.
Möller bat seinerzeit den Beck-Verlag, das "Anerkennungshonorar" auf Arndts Privatkonto zu überweisen. Doch mit dem Hinweis auf solche Formalien wird das IfZ die inhaltliche Verantwortung für das Gutachten kaum loswerden.
Magnus Brechtken, der aktuelle stellvertretende Institutsdirektor, findet denn auch Arndts Papier "aus heutiger Sicht schwer verständlich". Die These von einer systematischen Ausgrenzung jüdischer Historiker will er sich beim jetzigen Kenntnisstand nicht zu eigen machen, sie müsse aber untersucht werden.
Das IfZ wurde viele Jahre auch von Historikern geprägt, die wie Broszat im "Dritten Reich" zu den Mitläufern zählten. Sie wollten aufklären: über das Versagen der Eliten, die Verbrechen des Regimes, die Begeisterung für Hitler. Daneben scheint es aber eine "Entlastungssehnsucht" gegeben zu haben, wie der Historiker Berg argumentiert.
So schrieb etwa der Wissenschaftler und Wehrmachtveteran Hans Buchheim, einer der viel gerühmten IfZ-Gutachter für den Auschwitz-Prozess, apologetische Expertisen für die Bundesregierung. Sie liegen dem SPIEGEL vor. Die Gutachten entstanden 1961, als auch Hilbergs Buch in den USA erschien. Damals stand der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht, und Bonn fürchtete "antideutsche Komplexe" in der Welt.
Eine interministerielle Arbeitsgruppe wurde eingerichtet; neben dem Kanzleramt, Geheimdiensten und den wichtigsten Ministerien war auch das IfZ vertreten, durch Buchheim (SPIEGEL 15/2011). Nach außen bestritt Broszat allerdings die Teilnahme an der Runde.
Adenauers Beamte wollten verbreiten, dass die Deutschen vom Holocaust bis Kriegsende nichts gewusst hätten, von den Nazis durch ein "Heer von Geheimpolizisten" in Schach hätten gehalten werden müssen, mit den Morden wenig zu tun gehabt hätten.
Und Buchheim lieferte.
Kein Wort über die riesige Mordmaschinerie, die Hilberg so eindringlich analysierte. Stattdessen schrieb Buchheim unter IfZ-Briefkopf über die Frage: "Wie viele Deutsche waren an der Bewachung der Konzentrationslager und in welchem Maße waren sie an den KZ-Gräueln beteiligt?"
Das Bemühen, zu einer kleinen Zahl zu kommen, ist unübersehbar. Buchheim klammerte Vernichtungslager wie Sobibór und andere Stätten des Grauens aus. Anschließend attestierte er den Schergen der dann noch verbleibenden KZ, von ihnen sei "sicher nur ein Bruchteil in strafbare Handlungen verwickelt" gewesen.
Solche Gutachten waren damals sehr willkommen.
Auch die Ausarbeitung "Was hat das deutsche Volk über die Verfolgung und Ausrottung der Juden gewusst?" kam zu genehmen Ergebnissen. Zwar mochte nicht einmal IfZ-Mann Buchheim bestreiten, dass Informationen über das "grauenhafte Schicksal der Juden" während des Krieges durchsickerten. Aber er behauptete einfach, "weite Kreise des deutschen Volkes" hätten "keine Feindschaft gegen die Juden gehegt". Ein Protest gegen den Holocaust sei nicht etwa ausgeblieben, weil den Deutschen das Schicksal ihrer jüdischen Nachbarn egal war, sondern allein, weil er zu gefährlich gewesen wäre.
Das IfZ will nun die Erforschung der Hausgeschichte "mit externen Wissenschaftlern intensivieren" und erwägt sogar, eine Historikerkommission zu berufen. Für das Haus in der Leonrodstraße wäre die Arbeit eines solchen Gremiums eine neue Erfahrung: Nicht die Vergangenheit der anderen stände auf dem Prüfstand - sondern die eigene.