Helikopter-Eltern im Verkehr "Noch hat Ihr Mann die Straße nicht gekauft"

Viele Eltern chauffieren ihre Kinder am liebsten mit dem Auto bis zum Schultor - aus Angst, Gewohnheit oder Bequemlichkeit. Das ist nicht nur oft typische Helikopter-Überbehütung, sondern kann gefährlich sein.
Schulkinder

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Foto: Jens Büttner/ dpa

Kurz vor acht Uhr am Donnerstagmorgen reihen sich im Rudolf-Steiner-Weg in Stuttgart die Autos wie bei einem Staatsbesuch: dunkle Limousinen und Oberklasse-Kombis deutscher Hersteller, dazwischen gelegentlich ein grauer oder weißer Geländewagen.

Rechts und links öffnen sich Türen, Kinder mit Schulranzen über der Schulter springen heraus. Eine Mutter hupt ungeduldig. Einige Meter weiter wird rangiert, entgegenkommende Autos müssen auf der schmalen Straße hinauf zur Waldorfschule im noblen Stuttgarter Norden einander ausweichen. Dazwischen überqueren Schüler zu Fuß die Fahrbahn.

Das "morgendliche Verkehrschaos" haben Schulleitung und Eltern-Lehrer-Rat der Waldorfschule am Kräherwald bereits in einem Rundschreiben beklagt. Eltern wurden vor der Schule angesprochen, mit mäßigem Erfolg: Viele Mütter und Väter kutschieren ihre Kinder weiterhin mit dem Auto in die anthroposophische Schule.

Die Auto-Fixierung der Rudolf-Steiner-Anhänger mag erstaunen. Einzigartig ist sie keineswegs, das Problem treibt derzeit vor allem die Grundschulen in Stuttgart und anderen deutschen Städten um - zugeparkte Gehwege und Abgasschwaden vor den Schultoren, Strafanzeigen und Rangeleien inklusive.

An der Altenburgschule im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt erstattete der Elternbeiratsvorsitzende Alexander Böhle Anzeige: Er forderte die Polizei auf, dem "unglaublich anmaßenden und gefährlichen Verhalten der Autofahrer Einhalt zu gebieten". Eine Frau sei an einen Schülerlotsen herangefahren und habe ihn mit wilden Handbewegungen von der Fahrbahn gescheucht. Ein weiterer Fahrer habe einen anderen Schülerlotsen mit dem Außenspiegel gestreift.

Vor der Schule würden sich "regelrechte Wildwestszenen" abspielen, schreibt Böhle. "Es kommt zu Beinahe-Kollisionen, aggressiven Beleidigungen und auch Beinahe-Handgreiflichkeiten." Manche Eltern verteilten bereits selbst gefertigte Strafzettel. "Einige wenige Eltern verhalten sich renitent und egoistisch", sagt die Schulleiterin der Altenburgschule, Katrin Steinhülb-Joos.

Bundesweit diskutieren Experten das Phänomen unter dem Begriff Elterntaxi. "Leider hat die selbstständige Mobilität von Kindern auf dem Schulweg in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen", bilanziert der ADAC. "Schuld daran sind häufig nicht etwa schlechte oder weite Schulwege, sondern die Eltern, die ihre Kinder aus Angst vor Unfällen und Übergriffen, aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit mit dem Auto direkt bis vor das Schultor fahren."

Laut einer Studie im Auftrag des ADAC machen sich nur rund 50 Prozent der Schüler eigenständig auf den Weg zur Schule. Vor 40 Jahren lag der Anteil noch bei über 90 Prozent. Soziologen sprechen von der "Generation Rücksitz", Verkehrsexperten sind beunruhigt. Denn die morgendliche Blechlawine ist gefährlich: Die meisten Kinder verunglücken morgens zwischen sieben und acht Uhr (siehe Grafik). Die häufigste Unfallursache, wenn Kinder als Fußgänger unterwegs sind: "Überschreiten der Fahrbahn, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten".

Gleich mehrere gesellschaftliche Trends befördern indes die Taxivariante. Da ist das Bedürfnis der sogenannten Helikoptereltern, das Kind zu begleiten und zu schützen. Öffentliche Verkehrsmittel nehmen solche Eltern häufig als potenziell gefährlicher wahr, im Gegensatz zur eigenen rollenden Trutzburg. Diese Eltern sind zudem bildungsorientiert, sie wählen Schulen nach Profil oder deren Ruf aus, auch wenn diese weit von der Wohnung entfernt liegen. Viele schaffen es morgens nur mit dem Auto, mehr Mütter als früher sind berufstätig und müssen sich auf den Weg zur Arbeit machen.

Die Kommunen versuchen, den SUV-Stau mit gutem Zureden zu begrenzen. "Sicher zu Fuß zur Schule" nennt die Stadt Stuttgart ihre Aktion, "Schulweg-Safari" heißt es in Frankfurt am Main, anderswo "Gelbe Füße" oder "So läuft das". Das Verkehrsdezernat der Stadt Frankfurt am Main ließ in einem Aufklärungsfilm Helikoptereltern sogar mit einem echten Hubschrauber auf dem Schulhof landen.

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Das Berliner Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf warnt: "Fahrdienste fördern die Bequemlichkeit und bereiten Übergewicht, Diabetes sowie Herz-Kreislauf-Problemen den Nährboden." Bewegung an der frischen Luft fördere hingegen die Konzentrationsfähigkeit.

Doch längst glauben viele Kommunalpolitiker, dass solche Appelle nicht ausreichen. In Berlin haben die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg im Januar eine "temporäre Straßensperrung 30 Minuten vor Schulbeginn" beantragt, ein "Verbot der Einfahrt" sowie Bodenschwellen auf der Fahrbahn. Die Grünen wollen sogar die Einführung eigener "Schulstraßen" prüfen lassen. Zuvor hatten Autofahrer Schülerlotsen an der Werbellinsee-Grundschule im Bezirk Schönefeld mit der Lichthupe bedrängt oder sie ignoriert. Die Rektorin zog daraufhin die Lotsen ab. "Dies kommt einer Kapitulation vor rüpelhaftem Verhalten im Straßenverkehr gleich und kann keinesfalls akzeptiert werden", heißt es in dem Grünen-Antrag.

"Einige Eltern wollen ihre Kinder am liebsten ins Klassenzimmer fahren", sagt Martina Zander-Rade, die Vorsitzende des Schulausschusses im Bezirk. Dabei gelte an den Berliner Grundschulen das Wohnortprinzip, sodass die meisten Grundschüler nicht weit in die Schule laufen müssen. "Viele Situationen, die brenzlig sind, entstehen erst durch die Eltern", sagt die Kommunalpolitikerin.

In Osnabrück hat der Rat die Leiter aller 50 Grundschulen der Stadt befragen lassen. Bis zum Sommer sind Ortstermine geplant, um die gefährlichsten Stellen zu entschärfen. Das Problem sei bekannt, so ein Stadtsprecher: "Alle wollen ihre Kinder sicher in die Schule bringen und parken vor dem Schultor, das gibt Chaos."

Es bringe nichts, das Auto zu verteufeln, warnt Rainer Michaelis, Leiter der Abteilung Verkehrssicherheit beim Straßenverkehrsamt in Frankfurt am Main. "Vielen Eltern ist nicht bewusst, dass es häufig auf dem Weg zur Schule Unfälle gibt", sagt er. Michaelis setzt auf Aufklärung, denn jede Elterngeneration müsse wieder neu lernen: "Jedes Jahr werden in Frankfurt 15.000 Eltern miteingeschult."

Viele Schulen, etwa in Aachen, Mainz oder Karlsruhe, haben inzwischen sogenannte Kiss-and-Go-Zonen ausgewiesen, in denen Eltern sicher anhalten und ihre Kinder zu einem Restfußweg aussteigen lassen können. Der ADAC empfiehlt, dass diese Zonen mindestens 250 Meter Abstand zum Schuleingang haben sollten. Die Frankfurter Schule Riedberg II geht den entgegengesetzten Weg: Sie hat vor der Schule gut abgesicherte Absetzparkplätze eingerichtet.

Das Umweltbundesamt hingegen empfiehlt, gleich den sogenannten Laufbus zu nehmen. Die Kinder gehen in der Gruppe, zunächst begleitet von einem oder mehreren Erwachsenen - vor allem zu deren eigener Beruhigung: "Mit dem Laufbus gewinnen Eltern das Vertrauen, dass die Sicherheit ihrer Kinder auf dem Schulweg gewährleistet ist."

Doch die Einsicht ist offenbar noch nicht verbreitet, der Konflikt unter den Eltern schwelt. Vor der Grundschule Strenge im beschaulichen Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel hing zu Beginn des Schuljahrs der Zettel eines verärgerten Vaters: "Liebe Muddis, schön, dass die Strenge-Schule wieder anfängt und Sie Ihre Geländewagen wieder vorfahren/-führen können und endlich wieder eine sinnvolle Tätigkeit haben. Bitte achten Sie beim Parken jedoch darauf, andere Verkehrsteilnehmer ob Ihres eigenen Fehlverhaltens nicht zu beschimpfen und zu behindern, noch hat Ihr Mann die Straße nicht gekauft."

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