Von wegen "Jahrhundertfigur" Warum Kohl kein großer Kanzler war

Über Tote nur Gutes? Geht leider nicht: Helmut Kohl war provinziell, patriarchalisch, abwehrend gegenüber Ausländern, herablassend zu Intellektuellen - und ganz gewiss kein Glücksfall für Deutschland, so unser Autor.
Demonstranten bei Kohl-Auftritt 1998: Ein beeindruckendes Vermächtnis sieht anders aus

Demonstranten bei Kohl-Auftritt 1998: Ein beeindruckendes Vermächtnis sieht anders aus

Foto: Dirk Dobiey/ Action Press

Rudolf Augstein hat einmal über den letzten deutschen Kaiser geschrieben: "Wilhelm II. war ein Unglück." So weit sollte man bei Helmut Kohl nicht gehen. Ein Unglück für Deutschland war der bekennende Pfälzer nicht, aber er war auch kein Glücksfall für die Bundesrepublik; und keine "Jahrhundertfigur", als welche der Altkanzler seit seinem Tod monoton gepriesen wird.

Kohl steht für ein konservatives Rollback, das in den Achtzigerjahren die Bonner Republik prägte. Nach den wilden Sechzigern und den sozialdemokratischen Siebzigern schwang mit ihm das Pendel zurück. Wieder nach rechts. Sein provinzieller und patriarchalischer Habitus drängte bei vielen unangenehme Erinnerungen an den Mief der Fünfzigerjahre auf.

Die Studenten- und Jugendbewegung des Jahres 1968 hatte dazu beigetragen, dass der vormalige Antifaschist Willy Brandt (SPD) das Ex-NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Kanzler ablösen konnte. Unter dem Diktum "Mehr Demokratie wagen" hatte die Bundesrepublik einen gesellschaftlichen Aufbruch und einen Reformschub erlebt.

Zunächst waren es kleine radikale Gruppen, die in den Siebzigerjahren ihre zukunftsweisenden Forderungen erhoben: die Gleichberechtigung von Frauen; das Ende der Diskriminierung von Homosexuellen; den Schutz der Umwelt; die Demokratisierung des Bildungswesens, die Integration von Einwanderern; eine umfassende Liberalisierung.

Ein Opfer dieses sozialdemokratischen Jahrzehnts war schließlich die SPD selbst. Kohl kam auch deshalb 1982 an die Macht, weil die SPD zwar einen Teil der Ideen der neuen sozialen Bewegungen aufgenommen hatte. Nicht aber ihr Kanzler Helmut Schmidt, der viele gesellschaftliche Reformen entschieden abgelehnt und so die Gründung der Grünen gefördert hatte.

Bereits im Bundestagswahlkampf 1980 hatte Kohl eine "geistige und moralische Wende" gefordert, ohne präzise zu benennen, was diese ausmachen und wohin sie führen sollte. Und kaum hatte er seine Macht als Kanzler und Parteivorsitzender gefestigt, schien ihn sein politischer Gestaltungswille bereits verlassen zu haben. Falls er je einen besaß.

Zumindest in der Innenpolitik hatte er keine Ideen, für die er brannte. Kohl verfolgte keine großen politischen Projekte, es ging ihm vor allem anderen um die beständige Konsolidierung seiner Macht. Notfalls durch Aussitzen. Die Mechanismen der Macht waren es, die ihn weitaus mehr faszinierten als die Sachthemen - zumindest in diesem Punkt ähnelt ihm Angela Merkel.

Kohl, den Wirtschaft nicht interessierte und der nichts von Wirtschaft verstand, machte eine klassische SPD-Sozialpolitik. Die Ökonomen forderten eine Reform der Sozialsysteme, doch Kohl ließ verkünden, dass die Renten sicher seien.

Die geistig-moralische Wende fiel Kanzler Kohl bald auf die eigenen Füße, sie zerschellte ab 1984 in der Flick-Parteispendenaffäre. Er hatte als CDU-Chef Parteispenden des Flick-Konzerns angenommen, mehr als eine halbe Million Mark nach Unterlagen des Unternehmens; die Staatsanwaltschaft ermittelte nach einer Strafanzeige des damaligen Grünen Otto Schily gegen ihn wegen uneidlicher Falschaussage, und der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler attestierte seinem Parteivorsitzenden einen "Blackout".

In welch schneidendem Ton ihn Schily vor dem Flick-Untersuchungsausschuss des Bundestages verhörte, das hat Kohl dem späteren SPD-Innenminister nie vergessen. Kohl hatte ein Elefantengedächtnis, und er war - im Gegensatz zu seinem bayerischen Verbündeten und Rivalen, dem CSU-Chef Franz Josef Strauß - schnell beleidigt und sehr nachtragend.

Im Koalitionsvertrag der ersten Kohl-Regierung hieß es: "Deutschland ist kein Einwanderungsland." Als er 1983 für seine Wiederwahl warb, versprach er, die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer zu senken. Seiner britischen Kollegin Margaret Thatcher verriet er vertraulich, dass es notwendig sei, "die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren". Öffentlich könne er das leider nicht sagen.

Kohl und die konservativen Christdemokraten verschlossen sich hartnäckig der Erkenntnis, dass eine globalisierte Welt zwangsläufig Migration in großem Maßstab mit sich bringt. Mit ihrer Ignoranz und Ablehnung gegenüber den Einwanderern unterminierten sie deren Integration.

Kohl hatte etwas für Ressentiments übrig. Intellektuelle mochte er gar nicht. Professoren in seinem Kabinett wie Rita Süssmuth und Klaus Töpfer setzte er klare Grenzen. Im Gegensatz zu dem zeitweise grüblerischen Willy Brandt fehlte Kohl die Fähigkeit zur kritischen Selbstbetrachtung. Und seine Selbstgefälligkeit infizierte die politische Klasse der Bonner Republik und das ganze Land. Sie wirkte wie ein Narkotikum.

Michail Gorbatschow, der die Sowjetunion und das sozialistische Lager demontierte, den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ermöglichte, rettete Helmut Kohl vor dem Machtverlust. Ohne den durch den Prozess der Wiedervereinigung induzierten Rechtsruck wäre Kohl wohl Anfang der Neunzigerjahre von einer rot-grünen Bundesregierung abgelöst worden. Das Ende der deutschen Teilung, das ihm in den Schoß gefallen war, bescherte Kohl bei den Wahlen Ende 1990 noch einmal einen Triumph.

Seine Vision von den "blühenden Landschaften" in der einstigen DDR und die Prophezeiung "Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor, dafür vielen besser" wirkten bald zynisch, angesichts der rabiaten Privatisierung und der Massenarbeitslosigkeit im Osten.

Ein Jahr nach seiner Wahlniederlage im Herbst 1998 holte Kohl das illegale Finanzgebaren der CDU noch einmal ein. Er musste einräumen, dass er in den Jahren 1993 bis 1998 insgesamt rund zwei Millionen D-Mark an Spenden entgegengenommen habe. Die Namen der Wohltäter der CDU nahm er mit ins Grab. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Untreue wurde gegen Zahlung von 300.000 Mark an die Staatskasse und eine wohltätige Organisation eingestellt.

Kohl und die Wahrheit: Die idyllischen Familienurlaubsfotos vom Wolfgangsee entpuppten sich als falsche Fassade einer dysfunktionalen Familie, in der das Glück von Frau und Kindern der Karriere des Patriarchen geopfert wurde.

Was ebenfalls gegen seine nun allenthalben bejubelte Größe spricht: Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Helmut Schmidt, der nach seiner Abwahl als Kanzler ein zweites Leben als populärer politischer Publizist begonnen hatte, fiel Kohl nach seinem Rückzug aus der Politik in ein schwarzes Loch. Sein letzter politischer Akt war es, den ungarischen Rechtspopulisten Viktor Orbán zu sich nach Hause einzuladen. Ein beeindruckendes politisches Vermächtnis sieht anders aus.

Sieben Bundeskanzler und eine Bundeskanzlerin hat der Deutsche Bundestag seit 1949 gewählt. Von ihnen konnte Kohl sich bisher am längsten im Amt halten. Aber Quantität schlägt nicht zwangsläufig in Qualität um. Zu den großen Kanzlern der Bundesrepublik zählt Kohl nicht. Das waren Konrad Adenauer, Willy Brandt und - wenn sie so weitermacht - vielleicht Angela Merkel.

Für die Deutschen in West und Ost wäre es besser gewesen, wenn Kohls Kanzlerschaft Anfang der Neunzigerjahre ihr Ende gefunden hätte. Doch er konnte das Land noch einmal acht Jahre mit dem Mehltau der Stagnation überziehen. Rudolf Augstein schrieb ein Jahr vor der Abwahl über ihn: "Helmut Kohl ist es gelungen, ein Mann ohne Konturen zu werden."

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