"Die neuen Deutschen" Wer ist eigentlich wir?

Flüchtlinge im September 2015 an der geschlossenen ungarischen Grenze
Foto: Akos Stiller / DER SPIEGELVor einem Jahr hat Deutschland die Welt verblüfft. Die praktizierte Willkommenskultur, die freundliche Aufnahme der über Ungarn ankommenden Flüchtlinge an den Bahnhöfen etwa in München und Frankfurt war ein Moment der Ausnahme; als hätte sich die deutsche Geschichte eine Pause von ihrer üblichen Ernsthaftigkeit gegönnt. Die Bewertung dieser Ereignisse, die Abschätzung ihrer Folgen und die Erörterung ihrer Implikationen stehen noch ganz am Anfang.
Die Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof und die Anschläge bei Würzburg und in Ansbach erscheinen vielen wie eine Strafe für den Leichtsinn von damals, als bekämen die Gutmenschen nun die realpolitische Quittung. Und viele, die sich damals engagiert haben, die aus voller Überzeugung halfen, den Flüchtlingen eine menschenwürdige Ankunft zu ermöglichen, fühlen sich im Stich gelassen, als sei der unternommene Versuch allzu früh abgebrochen worden, als die Umfragen ungünstiger wurden. Heute ist das Land in diesen Fragen tief gespalten. Alle haben Probleme damit, sich auf die Ereignisse vom Sommer 2015 einen Reim zu machen.
Genau an diesem Punkt setzt das wichtige Buch von Herfried und Marina Münkler ein. Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Politologe und die Literaturwissenschaftlerin von der TU Dresden eröffnen Perspektiven, die im allgemeinen Staunen über die Ereignisse noch gar nicht richtig gesehen und formuliert wurden. Es geht ihnen um eine analysierende Beschreibung, vor allem aber um eine politische Einordnung der Ereignisse des vergangenen Sommers - und um einen Leitfaden, der sicher aus dem gegenwärtigen Gefühlslabyrinth hinausführt. Bislang war die Flüchtlingskrise eher der Gegenstand beschreibender Darstellungen, die sich mit der Herkunft und den Erfahrungen der Flüchtlinge beschäftigten. In "Die neuen Deutschen" geht es schon um die darauf folgende Stufe, um die Frage also, wie sich die bundesrepublikanische Identität unter neuen Gegebenheiten beschreiben und gestalten lässt.
Marina und Herfried Münkler beginnen ihre Überlegungen mit einer Analogie zur pascalschen Wette. Der Mathematiker und Philosoph entwickelte mit diesem Gedankenspiel ein Argument für den Glauben an Gott: Man verliert nichts, wenn man davon ausgeht, dass es Gott gibt. In der aktuellen Debatte, so die Autoren, sei eben davon auszugehen, dass das Vorhaben, diese große Menge an Flüchtlingen in Deutschland zu integrieren, gelingen wird, denn wer das Scheitern antizipiert, verliert auf jeden Fall. Sie laden in diesem Buch dazu ein, eine langfristige historische Perspektive einzunehmen und Migration nicht als katastrophischen Ausnahmefall zu begreifen, sondern als den zivilisatorischen Normalfall.
Sie zitieren den großen französischen Historiker Fernand Braudel, der die Migration sogar als zivilisatorische "Unentbehrlichkeit" charakterisiert. Städte nämlich - eine historische Konstante - sind immer auf den Zuzug von Landbevölkerung angewiesen, um ihre Bevölkerung, ihre Arbeitskräfte zu erneuern. Was da also passiert, ist keineswegs die große Disruption unserer Geschichte, sondern eine schlichte Normalität. Schon immer waren Bewohner ländlicher Gebiete und der Peripherie von den Möglichkeiten der Stadt angezogen, schon immer gab es deswegen Konflikte und ebenso die Instrumente, solche Konflikte zu beseitigen.
Etwas anderes kommt hinzu, und hier entwickeln die Autoren ein zentrales Argument, das in der bisherigen Debatte zu kurz kommt: Deutschland versteht sich als Teil der westlichen Wertegemeinschaft, wie sie sich durch Humanismus, Aufklärung und die Freiheitsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts herausgebildet hat. Doch was ist der eigentliche, konkrete Kern dieser Werte? Den identifizieren die Autoren nicht bei den politischen Theoretikern des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern wesentlich früher: bei dem französischen Philosophen Michel de Montaigne. Er bezeichnete als das größte unter den menschlichen Lastern die Grausamkeit. Da er in einer Zeit der anhaltenden, religiös begründeten Bürgerkriege lebte, deren Symbol die Bartholomäusnacht wurde, als in Paris Protestanten massakriert wurden, wusste er genau, wovon er sprach. Das ist gewissermaßen unser normativer Mindeststandard:
Wir dulden keine Grausamkeit, keine Gewalt gegen Zivilisten, keine Folter.
Wenn der Westen also nicht werden will wie China, sondern tatsächlich als Teil seiner Identität auch eine minimale moralische Orientierung behauptet und verteidigt, kann er nicht einfach zuschauen, wenn in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Leute massakriert werden. Es ergibt sich die Pflicht, dabei zu helfen, die Rechte dieser Menschen zu wahren, auch wenn ihr eigener Staat dazu nicht willens oder in der Lage ist. Und wenn man dazu militärisch nicht helfen möchte, dann soll man wenigstens den Geflüchteten beistehen. Das ist, so machen es die beiden Autoren klar, keine Ermessensfrage, sondern eine Pflicht, wenn wir mit uns selbst identisch bleiben wollen.

Sommeralltag in einem Park in Berlin
Foto: imago / Hoch Zwei Stock / AngererDieses Buch zeigt, dass die Bundeskanzlerin also nicht aus Gefühlen, Launen oder Kalkülen heraus gehandelt hat, sondern im Einklang mit den heiligen Werten des Westens. Es ist daher eine treffende Aussage, wenn die französische Politikerin Martine Aubry, die Bürgermeisterin von Lille und Tochter des großen Europäers Jacques Delors, festgestellt hat, Merkel rette mit ihrer Entscheidung "die Ehre Europas". Das Verhalten der meisten anderen EU-Staaten hingegen bewerten die beiden Autoren, sonst um sachlichen Stil und zurückgenommene Formulierungen bemüht, als ziemliche Blamage.
Normalität der Migration und Werteorientierung der merkelschen Realpolitik sind die beiden Elemente, die von den Autoren in die ziemlich wirre Debatte um die Aufnahme der Flüchtlinge eingeführt werden. Noch wichtiger ist aber jener Teil des Buches, in dem es ganz praktisch darum geht, Fehler zu benennen und Lösungen aufzuzeigen. Denn das Buch ist durchaus für Praktiker, für Bürger und Mandatsträger geschrieben. Der Vorteil des deutschen Modells der Integration ist, so beschreiben es die Autoren im Vergleich mit den Ansätzen anderer Staaten, dass es eigentlich keines gibt. Man improvisiert, korrigiert zwischen den drei wesentlichen Akteuren Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, ohne sich an hergebrachten Ideologien abzuarbeiten.
So kann hier auch ganz offen thematisiert werden, wo es hakt, wo es zur Bildung krimineller Strukturen kommen kann. Sie zeigen ganz präzise legale und bürokratische Fallen auf, zum Beispiel jene, in der sich solche Personen befinden, die hier zwar keinen dauerhaften Aufenthalt bewilligt bekommen, aber auch nicht abgeschoben werden können, weil sie keine Papiere mehr haben. So bildet sich rasch ein Milieu, in dem weder eine bürgerliche Existenz hier möglich ist noch eine Rückkehr; die Betroffenen geraten in ein Zwischenreich, aus dem die Kriminalität als einziger Ausweg erscheinen mag. Proportional wenige Fälle reichen, um die übrige Bevölkerung außerordentlich zu bedrücken.
Der Katalog der in diesem Buch formulierten Empfehlungen, die auf den Erfahrungen gelungener Integrationsgeschichten basieren, reicht von Reformen der Klassenbildung in Schulen bis hin zur Gestaltung von Wohnvierteln, die durchmischt genug sowie gepflegt und bewahrenswert erscheinen sollen.
Wer diese Passagen liest, erkennt, dass sich das große historische Ereignis in viele kleinere Erfolgsgeschichten verwandeln muss, dass das aber nur klappen kann, wenn der große diskursive Rahmen stimmt, wenn die einzelnen Bürger und die Flüchtlinge wissen, wo sie stehen, wohin es geht und worauf es ankommt. Etwas verhalten kritisieren die Autoren darum die Tatsache, dass es im vorigen Sommer keine große Bundestagsdebatte zur Flüchtlingspolitik gab. Die Linie der Bundesregierung hätte klar werden müssen, aber auch die Haltung der CSU. Ebenso die Positionen der Opposition - es hätte die Debatte angestoßen und informiert.
Denn diese Maßnahme, so erweist es sich nun, war ein tiefer Einschnitt, der in gewisser Weise das kulturelle Referenzsystem der Bundesrepublik überfordert hat und eine Art Neustart erforderlich macht. Das gesamte Thema geht weit über die übliche politische Meinungsbildung hinaus, es rührt, wie die Ostpolitik und die Nachrüstung, an die Frage der nationalen Identität.
Um zu ermessen, weshalb dieses Buch in der gegenwärtigen Situation so wichtig ist, muss man einen Schritt von seinem Inhalt zurücktreten. Die Bewertung solcher komplexen historischen Ereignisse erfolgt bei den meisten Menschen nicht nach dem Studium von Artikeln, Untersuchungen oder Forschungspapieren. Der amerikanische Linguist George Lakoff hat in wegweisenden Arbeiten aufgezeigt, dass sich Werturteile, auch politische Entscheidungen, nach tief sitzenden Mustern richten, die von der üblichen medialen Kommunikation nur zum Teil beeinflusst werden können. Wir lernen die Welt in der Familie kennen - so geht, kurz gefasst, Lakoffs Argument - und ordnen sie gemäß den in der Familie erlebten oder empfohlenen Strukturen. Später reagieren wir besonders stark auf jene Bilder und Begriffe, die in dieses erlebte und erlernte Weltdeutungsmodell passen.
Natürlich gibt es in einer pluralen Gesellschaft mehrere, miteinander konkurrierende Familienentwürfe, aber Grundtypen lassen sich feststellen. Die deutsche Ausländerpolitik folgte lange Zeit einem klassisch paternalistischen Modell. Helmut Kohl wies in seinen Reden oft darauf hin, dass es sich mit der Migration verhalte "wie im privaten Leben": Wer sich hier nicht benimmt, wird rausgeworfen. Er agierte als pater familias, der die Regeln im Hause vorgibt und durchsetzt. Dem gegenüber steht ein offenes Familienmodell, in dem diskutiert und im Konsens entschieden wird, wo man sich tolerant gibt, den Problemfällen hilft und die Einzelnen ermutigt, sich selbst zu verwirklichen.
Es gibt auch jede Menge Zwischenstufen; wichtig ist im Zusammenhang der Flüchtlingsdiskussion aber eines: Begriffe, die mit außen und innen, fremd und eigen, mit elterlichen oder Geschwisterbeziehungen zu tun haben, berühren die tiefsten Überzeugungen, auch die heftigsten Befürchtungen - ganz egal, wie besonnen man zuvor argumentierte, welche Differenzierungen und Einzelfallbetrachtungen man ansonsten anzustellen vermag. In der Flüchtlingsfrage geht es vordringlich um solche Bilder und Begriffe.
Historisch wurde das Plakat eines Flüchtlingsmädchens, das die Bundeskanzlerin als "Mama Merkel" um Hilfe bittet. Jeder erinnert sich an den Moment, als sie sich zum Selfie mit einem Migranten einfand. Es waren banale Informationen, eigentlich nur für die Abteilung Vermischtes einer Regionalzeitung geeignet. Aber sie erwiesen sich als Wendepunkte, denn plötzlich war die sich kümmernde, sorgende Kanzlerin, die sich in ihrem letzten Wahlwerbespot wie die Therapeutin der Nation inszenierte, die Mutter anderer Menschen. Die ersten Konfliktpunkte betrafen alsbald klassische Geschwisterkonflikte: Die Flüchtlinge besetzen unsere Turnhallen, tragen teure Kleidung, besitzen tolle Smartphones und sind überhaupt die neuen Lieblinge der Nation.

Kanzlerin Merkel
Foto: AXEL SCHMIDT/ REUTERSNoch wenige Wochen zuvor hatte sich die Kanzlerin ganz anders gegeben: Im Gespräch mit dem Flüchtlingsmädchen Reem hatte sie die klassisch konservative Rolle der Gatekeeperin eingenommen und dem verzweifelten Mädchen erklärt, es könnten nun mal nicht alle hierbleiben, die das gern möchten. Dieser Rollenwechsel war nicht bloß einer ihrer üblichen Politikwechsel, denen man, weil sie die Chefin der konservativen Partei ist, nun mal folgt, er beinhaltete einen völligen Wechsel des zugrunde liegenden Familienbildes: Denn plötzlich war offen, wer zur Familie gehört, wo die Grenze zwischen Innen und Außen verläuft und wer überhaupt das Sagen hat. Im System solcher konservativen symbolischen Grundmuster war es ein fundamentaler Wandel, ebenso gut hätte der Papst zu den Hare-Krishna-Jüngern konvertieren können.
Das hatte weniger mit konkreten Ängsten zu tun, mit Fremdenfeindlichkeit oder der Sorge um das hiesige Lebensniveau, sondern berührte die Frage der kollektiven Identität: Wer sind wir, wenn alle Grenzen offen sind, wenn die Kanzlerin auch für Syrer zuständig ist? Diese Frage unterminiert die Wirkung des schönen Satzes "Wir schaffen das!". Denn vielen wertkonservativen Deutschen - darunter sind übrigens keineswegs nur Wähler der Union, sondern auch viele Grüne und Sozialdemokraten - ist nicht mehr spontan verständlich, wer dieses "Wir" eigentlich sein soll. Und ein beschwörender, aufmunternder Satz, der sein Subjekt verliert, ist wirkungslos.
Darum ist der Versuch so wichtig, den die Münklers am Ende des Buches unternehmen. Dort gehen sie der Frage nach, was das eigentlich ist, ein Deutscher - in der heutigen Zeit und in Zukunft. Sie zeichnen das Phantombild des neuen Deutschen - jemanden, der sich wirtschaftlich um sich selbst kümmern möchte, aber auch der Gemeinschaft vertraut, der Religion, der Liebe und Familie im Privaten verhandelt und gestaltet und der das Grundgesetz respektiert. In dieser Trias aus Arbeitsethos, Respekt vor dem Recht und Vertrauen in die Zivilgesellschaft könnte sich durchaus die Mehrheit der hier lebenden Menschen erkennen, seien sie nun schon länger im Lande oder eben wenige Monate.
Eine moderne Gesellschaft funktioniert ähnlich wie eine Familie, eine Wohngemeinschaft oder ein Verein: Wenn es irgendwo kracht und scheppert, wenn sich etwas verändert, muss jemand erklären, was eigentlich gerade passiert ist - auch dann, wenn es alle gesehen haben. Menschen deuten sich ihre Welt mit Begriffen. Dieses Buch leistet, was eigentlich die Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre.
Das ist gewissermaßen unser normativer Mindeststandard: Wir dulden keine Grausamkeit.

Herfried und Marina Münkler:
Die neuen Deutschen
Ein Land vor seiner Zukunft
Rowohlt Berlin; 336 Seiten; 19,95 Euro.
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