Kanadas Premier Trudeau "Europa muss sich entscheiden"

Justin Trudeau wirkt wie der Gegenentwurf zu Donald Trump. Im Interview spricht er über das heikle Verhältnis zum lauten Nachbarn im Süden, das umstrittene Freihandelsabkommen mit der EU und den Klimawandel.
Regierungschef Trudeau: "Die Interessen Kanadas verteidigen"

Regierungschef Trudeau: "Die Interessen Kanadas verteidigen"

Foto: Axel Martens/ DER SPIEGEL

Das Foto entsteht am Ende, in den letzten 30 Sekunden dieses Termins in Zimmer 215 des Hamburger Hotels Atlantic, und auch die Entstehung dieses Fotos erzählt etwas über Justin Trudeau.

Denn er geht zum Fenster, hinter dem die Alster funkelt. Blickt in die Kamera. Senkt das Kinn ab. Lächelt und hält dieses Lächeln. Spannt die Oberarmmuskeln an, hochgekrempelt waren die Ärmel schon, als er den Raum betrat. Beugt den Oberkörper vor. Und ist nun bereit.

Ein Boxer? Ein Tiger? Jedenfalls ein Profi, einer, der weiß, dass Inszenierung Teil der Politik ist, und mehr noch: der gewiss auch weiß, wie er aussieht und wie er wirkt.

Justin Trudeau, 45, ist seit 18 Monaten kanadischer Premierminister und ein Gegenentwurf zu Donald Trump. Einladend. Angstfrei. Lustig. Liberal. Er tritt für den Klimaschutz und für Migration ein; als Trump den Bau von Mauern verkündete, sagte Trudeau, dass Kanada die Welt willkommen heiße. Er will den Freihandel und geht die diffizile Aussöhnung mit Kanadas Ureinwohnern an; als er die Hälfte seines Kabinetts mit Frauen besetzte, wurde er nach dem Warum gefragt und sagte jenen Satz, der berühmt wurde: "Because it's 2015."

Trudeau ist der älteste der drei Söhne Pierre Trudeaus, der von 1968 bis 1979 und von 1980 bis 1984 Kanadas Premierminister war. Der kleine Justin spielte im Regierungsviertel von Ottawa, und vielleicht ist der große Mister Trudeau deshalb heute so sicher, so ganz und gar niemals nervös. Sein Auftreten erinnert an Barack Obama, doch Trudeau riskiert mehr: Er macht Witze über sich selbst, trägt kunterbunte Socken, im Wahlkampf boxte er gegen einen Rivalen - was natürlich auch blaue Augen oder einen K.o. hätte bedeuten können.

Nach dem Studium (Erziehungswissenschaften und Literatur) unterrichtete er Französisch und Sozialkunde, er war Theaterlehrer, und er war Snowboardlehrer in den Bergen von Whistler nahe Vancouver.

Mit einer Rede auf seinen verstorbenen Vater wurde Trudeau vor 17 Jahren berühmt: So souverän und zugleich doch so bewegend sprach er, dass danach die politische Karriere begann, die ihn 2008 ins Parlament und 2013 an die Spitze der Liberalen Partei trug.

Zum G-20-Gipfel in Hamburg traf Trudeau am Donnerstag gegen 14 Uhr ein, er kam aus Edinburgh. Vom Flughafen Fuhlsbüttel aus wurde er durch eine seltsam stille, geradezu menschenleere Stadt zum Hotel Atlantic an der Außenalster gefahren, das für einige Stunden zum Mittelpunkt der Welt wurde: Auch Donald Trump war auf dem Weg, ebenso Angela Merkel, denn auch diese beiden trafen sich hier.

Trudeau betritt das Zimmer, isst nichts, trinkt nichts; nur ein strahlend-knappes Hallo, und das Gespräch beginnt.

Oxfam-Aktivisten in Hamburg: "Oder wütend –- darauf zielen die Linken"

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Foto: Michael Kappeler/ dpa

SPIEGEL: Herr Premierminister, die halbe Welt betrachtet Sie als "Anti-Trump". Haben Sie und Donald Trump auch Gemeinsamkeiten?

Trudeau: Die Kanadier haben mich gewählt, weil ich mich verpflichtet habe, für Wachstum zu sorgen, mich auf die Mittelklasse zu konzentrieren - und auf diejenigen, die hart arbeiten, um Teil der Mittelklasse zu werden. Es ging mir darum, den Menschen, die sich abgehängt fühlten vom Wirtschaftswachstum, zu zeigen, dass es auch um sie geht. Das gleicht den Versprechen, deretwegen die Menschen Trump gewählt haben: Es geht um dieselben Probleme, auch wenn natürlich die Art und Weise, in der wir uns dem Thema nähern, sich sehr unterscheidet. Aber in den Gesprächen, die Donald Trump und ich geführt haben, waren wir uns sehr einig, dass es uns beiden darum geht, für die Menschen in unseren Heimatländern zu sorgen, etwas spürbar zu verändern.

SPIEGEL: Nach der Wahl Trumps konnte man den Eindruck gewinnen, Kanada sei so etwas wie die liberale Version der USA: Während die USA sich gegen Flüchtlinge abschotteten, ließen Sie Flüchtlinge aus Syrien nach Kanada bringen, um ihnen zu helfen. Was ist Ihre Strategie im Umgang mit Trump?

Trudeau: Die Kanadier erwarten von mir als Premierminister zwei Dinge: dass ich mich für die Interessen Kanadas einsetze, sie verteidige, die Werte unseres Landes schütze; und dass ich zugleich dafür sorge, dass wir gute Beziehungen zu unserem größten Nachbarn und wichtigsten Handelspartner pflegen - den USA. Diese beiden Dinge sind nicht inkompatibel. Sie erfordern eine sehr reflektierte und durchdachte Strategie, einen Plan. Aber den haben wir entwickelt.

SPIEGEL: Nämlich? Sie scheinen darauf zu zielen, unabhängig zu sein und Kanada als Alternative darzustellen und zugleich Donald Trump nicht zu provozieren.

Trudeau: Nach 1945 hat Kanada eine eigenständige, damals vom Vereinigten Königreich unabhängig gewordene Außenpolitik. Aber uns ging es schon vorher, schon immer darum, eine eigene Sicht auf die Welt zu haben. Natürlich werden wir aufgrund unserer Position in der Welt und der Größe unseres Nachbarn häufig in Abgrenzung zu den USA wahrgenommen, durch das, was uns von den USA unterscheidet. In der Vergangenheit zum Beispiel, wenn es um Kuba ging, um Vietnam, um Entwaffnung. Schon damals war es so, dass Kanada nicht immer einer Meinung war mit den USA. Wir sind ja nicht der verlängerte Arm der USA.

SPIEGEL: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie erfuhren, dass Donald Trump die Wahl gewonnen hatte?

Trudeau: Ich war überrascht. Ich glaube nicht, dass viele Menschen damit gerechnet hatten. Es war zugleich für mich eine Mahnung, dass die Wut und die Ängste, die viele Amerikaner umtreiben, offenbar sehr groß waren. Mir war klar: Es würde eine Herausforderung in unseren Beziehungen bedeuten, weil Trump Ideologien verfolgt, die nicht mit meinen übereinstimmen. Aber mir war auch klar: Wir müssen uns mit der Wut der Menschen beschäftigen. Mit dem Frust, den sie gegen die herrschenden Institutionen oder auch Eliten und politischen Parteien und Strukturen richten. Denn über die Jahre ist deutlich geworden, dass wir den Menschen nicht gut genug zugehört haben.

SPIEGEL: Stellt diese Wut eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie dar?

Trudeau: Bei den Wahlen in Kanada im Jahr 2015 hat der Amtsinhaber die Ängste der Menschen befeuert, den Sozialneid. Viele dieser Themen haben ihre Verankerung in der rechten, populistischen Bewegung. Wir sind dem entgegengetreten. Statt zu sagen: Wir bewahren euch vor dem Schlimmsten, haben wir gesagt: Lasst uns versuchen, gemeinsam das Beste zu erreichen. Lasst uns eine positive Idee davon gewinnen, wie unser Zusammenleben aussehen kann, lasst uns eine Vision entwickeln. Es ist besser, wenn wir alle an einem Strang ziehen, statt mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen. Emmanuel Macron und Sadiq Khan, der Bürgermeister Londons, haben einen vergleichbaren Ansatz gewählt. Sie haben auch ausgedrückt: Gemeinsam sind wir stärker. Und das hat funktioniert.

SPIEGEL: Viele Menschen erwarten viel von Ihnen, von Macron, von Merkel, Sie werden verklärt und idealisiert. Was eint Sie in der Wirklichkeit?

Trudeau: Es geht uns nicht so sehr um die Weltpolitik. Es geht uns vor allem um die Menschen in unseren Ländern; darum, dass wir sie unterstützen, dass wir Lösungen bieten. Viele Menschen sind frustriert, verängstigt, wütend. Es wird Menschen geben, die daraus ableiten, dass man das System ändern müsse. Uns dreien, Angela, Emmanuel und mir, ist es wichtig zu sagen: Wir können mit den bestehenden Systemen arbeiten und müssen sicherstellen, dass sie für alle Menschen funktionieren. Wir müssen Freiheiten und Chancen sichern, statt ängstlich zu sein - denn darauf zielen die Rechten. Oder wütend - denn darauf zielen die Linken.

SPIEGEL: Sie sehen sich in der Mitte - und die Mitte hat es in lauten Zeiten schwer?

Trudeau: Die Mitte hat immer die Herausforderung zu bewältigen, vernünftig zu sein, ausgewogen. Die Rechten können weiter nach rechts ausholen, die Linken nach links. Die Mitte muss die Menschen erst einmal erreichen. Das hat in der Politik nicht immer funktioniert, denn die Botschaften passen nicht einfach als Slogan auf einen Aufkleber. Aber was wir merken, ist, dass die Menschen vernünftige Lösungen suchen und wir darum nicht nur negative Emotionen füttern dürfen.

SPIEGEL: Angela Merkel ist nun schon etwas länger im Amt als Sie.

Trudeau: Ein kleines bisschen.

SPIEGEL: Können Sie etwas von ihr lernen?

Trudeau: In unserer Zusammenarbeit in den vergangenen 18 Monaten habe ich gelernt, ihr sehr genau zuzuhören. Ich schätze ihre Erfahrung und ihre Sicht der Dinge.

SPIEGEL: Können Sie's genauer sagen?

Trudeau: Sie hat sich auf die richtigen Dinge konzentriert. Sie hat sich um die Bedürfnisse der Menschen gekümmert; nicht in einem engen, kurzfristigen Sinne, sondern ihr liegt daran, die Welt nachhaltig zu verändern, für die kommenden Generationen. Egal, ob es um den Klimawandel geht oder um Migration: Sie schaut sich die langfristigen Entwicklungen an, überlegt sich eine Position und kommt so zu Lösungen, die manchmal nicht naheliegend sind. Die Menschen schätzen an Angela Merkel, dass sie eine langfristige Vision hat.

SPIEGEL: Gibt es für Sie guten und schlechten, legitimen und illegitimen Populismus?

Trudeau: Für mich ist die wichtigste Eigenschaft politischer Führung, mit den Menschen in Verbindung zu stehen, ihnen wirklich zuzuhören. Wir müssen nicht nur sehen, dass die Menschen auf die Straße gehen und protestieren. Wir müssen sie fragen, warum sie das tun. Wir müssen uns fragen, wie wir mit ihnen in Kontakt kommen und ihre Sorgen ernst nehmen können. Das ist für mich kein Populismus. Sondern es bedeutet, dass wir die Menschen in den Blick nehmen und dass sie ein Recht haben, Sorgen, Ängste und Fragen zu äußern. Wenn wir die Bedürfnisse der Menschen nicht ernst nehmen, sind wir auf dem falschen Weg.

SPIEGEL: Das nimmt Donald Trump auch für sich in Anspruch: dass er die Sorgen und Ängste der Menschen aufgreife.

Trudeau: Es ist nicht an mir, über Trump zu urteilen. Es ist Sache der Wähler.

SPIEGEL: Die USA sind aus dem Pariser Klimaschutzabkommen ausgetreten. Wie kann der Klimaschutz nun vorangehen?

Trudeau: Mein Vorgänger Stephen Harper war nicht besonders am Klimaschutz interessiert. Was wir in jener Zeit erlebt haben, war, dass Städte, Provinzen und Unternehmen bei dem Thema die Führung übernommen haben. Trotz der Haltung der Regierung. Etwas Ähnliches erleben wir gerade auch in den USA: Andere Akteure übernehmen die Führung.

SPIEGEL: Können Sie die US-Regierung übergehen und direkt mit den Bundesstaaten sprechen?

Trudeau: Ja, das tun wir, aber wir sind auch in engem Kontakt mit Präsident Trump, um zu schauen, auf welchen Feldern wir zusammenarbeiten können, zum Beispiel in der Energiepolitik. Er hat uns beispielsweise signalisiert, dass er Interesse daran hat, mit uns gemeinsam gegen die Umweltverschmutzung vorzugehen. Es bleibt enttäuschend, dass er aus dem Klimaschutzabkommen ausgestiegen ist.

SPIEGEL: Ist die US-Politik nicht ehrlicher als die deutsche oder auch die kanadische? Deutschland und Kanada reden vom Klimaschutz, aber die Kanzlerin tut der Autoindustrie nicht weh, und in Kanada werden weiter Pipelines gebaut.

Trudeau: Ich kann nichts zu Deutschland sagen. Aber für Kanada kann ich sagen, dass der Klimawandel immer eine Herausforderung war. Ein Land eben, in dem es kalt ist und das so groß ist. Wir arbeiten an grüner Energie. Aber wir wissen, dass wir noch einige Jahre von fossilen Brennstoffen abhängig sein werden. Und momentan sind wir auch abhängig vom amerikanischen Markt. Kanadier denken unterschiedlich über Präsident Trump - je nachdem, wie nahe an der Grenze sie leben. Kurz: Wir sind entschlossen, unseren Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen nachzukommen.

SPIEGEL: Sollte man die USA isolieren - G19 statt G20?

Trudeau: Im Rahmen der G20 kommen die wichtigsten Wirtschaftsnationen zusammen, um sich auszutauschen. Der Klimawandel ist ein zentrales ökonomisches Thema. Die Welt bewegt sich weiter auf Grundlage des Pariser Klimaabkommens. Momentan müssen wir anerkennen, dass die USA zu diesem Thema eine andere Haltung einnehmen.

SPIEGEL: Staatschefs wie Recep Tayyip Erdoan oder Trump setzen auf Abgrenzung, Isolationismus, Sie treten für den Freihandel ein. Glauben Sie wirklich noch an das kanadisch-europäische Abkommen Ceta?

Premierminister Justin Trudeau mit den Redakteuren Klaus Brinkbäumer und Barbara Hans

Premierminister Justin Trudeau mit den Redakteuren Klaus Brinkbäumer und Barbara Hans

Foto: Axel Martens/ DER SPIEGEL

Trudeau: Handel ist gut für die Wirtschaft, Handel schafft Wachstum. Aber der Handel allein beantwortet nicht die Frage, wie Wachstum verteilt werden soll. In den vergangenen Jahren haben nur wenige Menschen davon profitiert. Und viele Menschen fragen sich, warum gerade sie eben nicht vom Wachstum profitieren. Wenn der EU nicht einmal ein Freihandelsabkommen mit einem Staat wie Kanada gelingt - mit welchem Staat will die EU dann ein solches Abkommen abschließen?

SPIEGEL: Vielleicht mit China.

Trudeau: Vielleicht mit China. Genau das ist die Frage, die Europa für sich beantworten muss.

SPIEGEL: Es sieht danach aus, als sei Ceta längst zusammengebrochen. Wie wollen Sie das Abkommen zum Erfolg führen?

Trudeau: Diese Schlagzeilen gibt es seit Jahren: "Ceta ist am Ende." Wir haben getan, was wir konnten. Die EU muss sich entscheiden, ob sie an den Handel mit Kanada glaubt oder nicht.

SPIEGEL: Was kann Europa zum Thema Migration von Kanada lernen?

Trudeau: Die Situation Kanadas ist mit jener Europas nicht vergleichbar. Wir sind umgeben von Ozeanen und haben im Süden mit den USA einen Nachbarn, der seine Grenzen sehr stark sichert. Wir haben keinen unkontrollierten Flüchtlingszustrom. Aber die Menschen bei uns haben gesehen, dass sie davon profitieren und dass auch die Wirtschaft davon profitiert, wenn wir Menschen aufnehmen. Wir alle haben etwas davon, wenn Integration funktioniert. Dazu gehört es auch, dass wir unkontrollierte Einwanderung eindämmen müssen. Das erreichen wir nicht nur durch Einwanderungsbeschränkungen, sondern vor allem durch die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern.

SPIEGEL: Ihr Vater war über 15 Jahre lang Premierminister Kanadas. Was haben Sie eigentlich von ihm gelernt?

Trudeau: Mein Vater hat mir viele Dinge beigebracht, aber zwei fallen mir spontan ein. Erstens: Bleib deinen Werten treu, sonst bist du in der Politik verloren. Zweitens: Hör den Menschen zu. Den Menschen auf der Straße, anderen Politikern, Konzernchefs genauso wie Arbeitern. Lerne von ihnen.

SPIEGEL: Gibt es etwas, das Sie anders machen als Ihr Vater?

Trudeau: Oh, die ganze Welt ist heute eine andere. Social Media ist etwas, das mir dabei hilft, mit den Menschen in Kontakt zu treten. Diese Möglichkeit hatte mein Vater noch nicht. Ansonsten bin ich nicht so sehr damit beschäftigt, das Erbe meines Vaters zu verteidigen, sondern doch eher damit, die Zukunft zu gestalten.

SPIEGEL: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Im Video: Der kanadische Premierminister Justin Trudeau spricht sich eindeutig für das umstrittene Freihandelsabkommen mit der EU aus.

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