Kolumbien Das zweite Leben von Escobars Auftragskiller

Selbstdarsteller Popeye
Foto: Nicolò Filippo Rosso / DER SPIEGELKürzlich gab es in Medellín mal wieder eine dieser Partys, auf denen sich die Dinge im flackernden Rauch der Nebelmaschinen aufzulösen scheinen. Schwer zu sagen, was Vergangenheit war und was Gegenwart, was Wirklichkeit war und was Fiktion.
Harte Reggaeton-Beats wummerten durch das Koko Bongo, eine kleine, fensterlose Diskothek im Viertel Laureles. An den runden Tischen entlang der Tanzfläche saßen gut angezogene Geschäftsleute, deren vom Rum getrübte Blicke den aufgespritzten Hintern einiger kaum volljähriger Mädchen folgten, die wohl auch Pablo Escobar gefallen hätten, dem berühmtesten aller Drogenbosse. Ein paar Rapmusiker waren da und hippes Filmvolk, das an diesem Abend im Koko Bongo die letzten Szenen eines Mafiastreifens mit dem Titel "Auftragskiller" abdrehen wollte.
Und natürlich Popeye, der Hauptdarsteller. Popeye, der eigentlich Jhon Jairo Velásquez heißt, hat im richtigen Leben als rechte Hand Pablo Escobars mehr als 300 Menschen umgebracht. Jetzt ist er so etwas wie ein Filmstar. Als er im August 2014 nach fast 22 Jahren aus der Haft entlassen wurde, nahm er ein paar Stunden Schauspielunterricht. Nach einer ersten kleineren Rolle in der Netflix-Serie "Alias J.J.", die auf seiner hunderttausendfach verkauften Autobiografie basiert, verkörpert er in "Auftragskiller" nun einen Gangster, der nebenbei eine Disco managt.
Nachdem die letzte Klappe gefallen war, stand Popeye auf der Tanzfläche und hielt ein Mikrofon in seiner Hand. Auf seinem rechten Unterarm war der tätowierte Schriftzug "El General de la Mafia" zu erkennen, auf seinem Hals die Schatten zweier sich kreuzender Berettas. Popeye trug ein weißes Hemd und eine feine Brille, weil er mit seinen 55 Jahren nicht mehr so gut sieht.
Er setzte an zu einer kurzen Rede, in der er sich im Wesentlichen dafür bedankte, dass man ihm die Chance auf ein zweites Leben gebe. Er wolle sie nutzen, sagte Popeye, ehe er sein Bierglas in die Luft reckte und sein Schicksal mit dem von Joaquín Guzmán verglich, dem mexikanischen Drogenboss, der kürzlich an die USA ausgeliefert wurde. "Davon kann ,El Chapo' in seiner Einzelzelle in New York nur träumen", sagte er mit einem breiten Grinsen.
Willkommen in Medellín, wo ehemalige Massenmörder wieder zu Helden werden und Backpacker nun die Schauplätze des Drogenkriegs besichtigen. Willkommen im aufregendsten Resozialisierungsprojekt Südamerikas.

Metropole Medellín
Foto: Nicolò Filippo Rosso / DER SPIEGELLange Zeit galt Medellín als hoffnungsloser Fall. Zu tief schienen die Wunden, die der nicht enden wollende Drogenkrieg in der kolumbianischen Millionenstadt hinterlassen hatte, zu allumfassend die Logik der Gewalt. 1991, zwei Jahre vor Escobars Tod, gab es 6810 Morde in der Stadt. Medellín-Bilder aus dieser Zeit zeigen Menschen, die auf Bürgersteigen in ihrem eigenen Blut liegen, Präsidentschaftskandidaten, Richter, Polizisten, auf die Escobar ein Kopfgeld ausgesetzt hatte; sie zeigen verstörte Kinderblicke, wenn Männer wie Popeye wieder mal ein Auto in die Luft gesprengt hatten, und im Hintergrund leuchten die Fassaden neuer Wohntürme und Shoppingmalls, in die das Geld aus dem Verkauf des Kokains geflossen ist.
Auch Escobars Exekution durch ein Spezialkommando änderte nicht viel an diesen Bildern. Andere führten seine Kriege fort. Rebellengruppen und paramilitärische Milizen trugen ihre Konflikte in die Stadt. Wer in dieses Medellín geboren wurde, der lernte, sich beim Spielen in der Wohnung nicht am Fenster aufzuhalten. Der wuchs auf mit einem tiefen Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden, die von den Kartellen kaum zu unterscheiden waren. Der lächelte nur milde, als eine Gruppe junger Politiker um die Jahrtausendwende herum versprach, den Frieden nach Medellín zu bringen.
Es klang wie ein Experiment, das eigentlich nur scheitern konnte, aber in den Jahren, in denen Popeye seine Haftstrafe absaß, sank die Mordrate tatsächlich auf das durchschnittliche Niveau einer südamerikanischen Großstadt. Immer öfter schoben sich nun neue Bilder über die alten, und auf ihnen zu sehen waren jetzt die Gondeln neuer Seilbahnen, die vom Stadtzentrum die Armenhügel hinaufschwebten, neue Schul- und Bibliotheksgebäude, die entlang dieser Linien entstanden, um den Kindern Karrierewege jenseits des Verbrechens aufzuzeigen. Sie zeigten futuristische Museen, Parks und öffentliche Gärten, in die das Leben zurückkehrte, und wenn der Bürgermeister wieder mal im Ausland einen Preis entgegennahm, dann musste er einer erstaunten Welt erklären, was das Geheimnis intelligenter Stadtplanung ist.
Was hat es also auf sich mit dem Wunder von Medellín, von dem seit einiger Zeit zu hören ist? Und wie passt es dazu, dass junge Menschen einen Mann wie Popeye jetzt wieder hofieren, den letzten Überlebenden von Escobars Kartell?
Die Sache ist ja nicht nur die, dass Popeye sich in Low-Budget-Filmen selbst spielt. Über seinen YouTube-Kanal, den mehr als 300.000 Menschen abonniert haben, mischt er sich in aktuelle Diskussionen ein. Bei Massendemos gegen das Friedensabkommen der kolumbianischen Regierung mit der linken Guerilla Farc marschierte er vorneweg, und kürzlich hat er angekündigt, er wolle als Senator kandidieren, um mit der Korruption aufzuräumen.
Es sieht so aus, als wäre Popeye, dessen Geschichte wie keine andere mit den dunklen Jahren Medellíns verwoben ist, zum ersten Mal in seinem Leben salonfähig geworden. Ausgerechnet er, der Profikiller aus einer längst überwunden geglaubten Epoche, gibt jetzt eine Art professionellen Unruhestifter, der das neue Medellín auf eine Probe stellt. An Popeyes Resozialisierung hängt auf gewisse Weise auch die Resozialisierung seiner Stadt.
Seine Rückkehr fällt in eine Zeit, in der internationale Erfolgsserien wie "Narcos", die die schillernde Karriere Escobars in Dutzenden Kapiteln ausleuchten, die alten Medellín-Bilder wieder zum Leben erwecken. Touristen aus Europa, China und Australien strömen scharenweise in die Stadt, aber viele von ihnen suchen nicht die Spuren einer komplexen Wirklichkeit, die diese Serien kaum abbilden. Es geht um den Kick. Um Sex und Crime und ein paar Linien Koks. Stellvertretend für viele dieser sogenannten "Narco"-Touristen stellte der amerikanische Rapper Wiz Khalifa im März das Bild eines Blumenstraußes ins Netz, den er auf Escobars Grab niedergelegt hatte. Um die Pflege dieser Kultstätte kümmert sich übrigens Popeye, der nebenbei auch gut besuchte Touren zu den Stationen seines Wirkens anbietet.
An einem Morgen im Mai steuert er einen rostigen Leihwagen durch den dichten Innenstadtverkehr. Weil er weiß, dass Routinen tödlich sein können, wechselt er auch heute noch, sooft es geht, das Auto und den Schlafplatz. Unentwegt scannen seine Augen die Umgebung. Als Popeye 1993 in den Knast ging, war die Stadt noch überschaubar. Damals, sagt er, hatten wir hier 60.000 Motorräder, heute sind es 600.000, und ihre Abgase stauen sich zwischen den Hügeln. Abgesehen davon ist ihm aufgefallen, dass sich die jungen Leute heute mit Kopfhörern auf die Straße trauen, was damals undenkbar gewesen wäre.
Am Grab des Mannes, den er noch immer "El Patrón" nennt, kniet er demütig nieder. Dann steckt er dem Friedhofsgärtner 50 Dollar zu. Wenig später fährt er die Serpentinen zu dem ehemaligen Gefängnis La Catedral hoch, das sich Escobar Anfang der Neunzigerjahre nach Verhandlungen mit der Regierung selbst gebaut hatte und von wo er auch seine Geschäfte weiterführte. Popeye schwärmt von der "Genialität" des Ortes, der meist im Nebel lag und deshalb vom Militär kaum zu kontrollieren war.
"Zwölf Zellen und eine Luxussuite", sagt Popeye, während er mit einem Lachen auf das Gebäude zeigt, in dem sich heute ein Seniorenstift befindet. "Wie Jesus und seine Apostel." Anekdoten dieser Art sind jetzt Popeyes Routine. Er hat sie so häufig wiederholt, dass seine Worte sich von ihrem Inhalt abgekoppelt haben. Die Beiläufigkeit, mit der er erzählt, wie ihn "die Umstände" zu dem Monster machten, das er damals war, lässt seinen Vortrag nur noch unheimlicher wirken.
"Wenn du schwul bist, bist du schwul", sagt er einmal. "Und wenn du ein Killer bist, bist du ein Killer."
Popeye sagt, er habe es schon früh geahnt. Als in dem Dorf, wo er als Bauernsohn aufwuchs, ein Mann mit einer Machete umgebracht wurde, habe ihn auf sonderbare Weise der Geruch des Blutes angezogen. Die Leiche lag vor einer Eisdiele auf seinem Schulweg, und statt wegzurennen wie die anderen Kinder, sah er sie sich an. Anderntags wurde der Pfandleiher erschossen, und Popeye sagt, der Sound der Waffen habe ihn verrückt gemacht.
Er versuchte es auf der Polizeischule und danach bei der Marine, wo man ihn wegen seiner starken Unterarme Popeye rief, nach der Comicfigur. Nach einigen Gelegenheitsjobs verschaffte ihm ein Freund schließlich eine Stelle als Chauffeur einer Geliebten von Pablo Escobar, der sich in der Gegend gerade einen Namen machte. Während Popeye auf das Mädchen wartete, sah er Escobars Villen, seine Autos, seinen Privatzoo mit den Nilpferden und Elefanten, den ganzen absurden Reichtum, und als Escobar das Mädchen fallen ließ, fuhr er all die Orte wieder ab.
"Ich wartete auf meine Chance", sagt Popeye. "Irgendwann bat mich El Patrón zum Lunch. Er fragte mich: Was willst du hier? Ich sagte: Töte mich, oder gib mir einen Job."
Die Jobs, die Escobar ihm gab, erledigte er nüchtern, sagt er, wie ein Notar. Popeye trank nicht, er nahm keine Drogen. Seine Opfer, so erzählt er es, beseitigte er mit zwei Schüssen in die Stirn. Er fühlte nichts dabei. Und zögerte auch nicht, als Escobar ihm auftrug, seine eigene Geliebte umzubringen, weil er sie verdächtigte, für ein anderes Kartell zu spionieren.
"Es war tatsächlich wie eine Religion", sagt Popeye. Die Kokainmilliarden ihres Stifters ließen Medellín erblühen. Während viele der alten Textilfabriken angesichts der aufkommenden Billigkonkurrenz aus Asien langsam starben, baute Escobar Hochhäuser und Einkaufszentren, er baute Fußballplätze, Schulen, Krankenhäuser, ein ganzes Stadtviertel, das noch heute seinen Namen trägt und in das er zweimal wöchentlich den Milchmann schickte.

Während die Regierung Escobar verfolgte, tauschte die Zentralbank gern seine im Ausland eingenommenen Dollar um. Die Menschen litten unter seinem Terror, aber sie lebten auch von ihm. In einem Land, das seine Bürger zu vergessen schien, gelang es Escobar, sich als Mann der Tat zu inszenieren. Im Vergleich zu kolumbianischen Politikern galt er in der Stadt als der anständigere Gangster.
Auch das gehört zur Geschichte Medellíns: der heimliche Respekt vor einer alles durchdringenden Kultur der Mafia. Eine Bewunderung, die auch heute noch durchschimmert, wenn Menschen Popeye auf der Straße um ein Foto bitten. Wenn er im Koko Bongo für ein Selfie seine Arme von hinten um eine junge, vollbusige Frau schlingt, die mit einem Kichern sagt, sie fange an zu schwitzen. In diesen Augenblicken wirkt Popeye nicht wie ein harmloses Überbleibsel aus der Vergangenheit. Es wirkt, als lebte in ihm auf beunruhigende Weise etwas fort.
Die Behörden reagierten jedenfalls mit einer gewissen Nervosität, als im Dezember ein Internetvideo auftauchte, in dem Popeye auf offener Straße mit einer Beretta herumfuchtelte. Auch wenn Popeye sagt, es habe sich nur um einen Filmdreh gehandelt, kündigte der Bürgermeister Federico Gutiérrez eine Ermittlung wegen unerlaubten Waffenbesitzes an. Gutiérrez ist zunehmend genervt davon, dass die Vergangenheit einfach nicht vergehen will.
"Wohin führt das, wenn sich die jungen Leute heute noch an einem Mann wie Popeye orientieren?", fragt er mit einem gequälten Lächeln. Er sitzt auf einem großen Sofa in seinem Büro und schlägt die Beine über Kreuz. Zu seinem schmalen Anzug trägt er Turnschuhe. Obwohl Gutiérrez mit 42 Jahren selbst zur Kernzielgruppe der "Narco"-Serien gehört, kann er ihnen wie viele Bewohner der Stadt nichts abgewinnen. "Sie reißen alte, längst verheilte Wunden wieder auf", sagt er.
Am Nachmittag ist er im heruntergekommenen Barrio Florencia, um eine Mehrzweckhalle einzuweihen, die die Stadt gemeinsam mit den Anwohnern geplant hat. Während zwei Dutzend Polizisten den Eingang sichern, spielt Gutiérrez Boccia mit behinderten Kindern. Dann nimmt er sich ein Mikro und wendet sich an die Leute auf den Tribünen. "Das ist spektakulär!", ruft er. "Wir erreichen alle Ecken dieser Stadt und investieren dort, wo es am dringendsten gebraucht wird."
Das ist das Medellín, das Gutiérrez zeigen will. Es ist ein Projekt, das Ende der Neunzigerjahre begann, als sich ein paar Wissenschaftler, Menschenrechtler und Architekten zu einer Bewegung zusammenschlossen, die endlich etwas verändern wollte. Um zu verstehen, wie diese Stadt tatsächlich funktioniert, streiften sie jahrelang immer wieder zu Fuß durch Viertel wie Florencia, in denen sich die alte Politik kaum blicken ließ. Als der Mathematikprofessor Sergio Fajardo 2003 zum ersten Bürgermeister des neuen Medellín gewählt wurde, zog Gutiérrez als jüngstes Mitglied in den Stadtrat ein. Er hatte gerade sein Bauingenieurstudium beendet.
Auf ihren Märschen hatten sie gelernt, dass es auf drei Dinge ankam, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen: Sie mussten etwas tun gegen die Angst, gegen die Korruption und gegen die soziale Ungleichheit.

Besucherinnen im Nachtklub Koko Bongo
Foto: Nicolò Filippo Rosso / DER SPIEGELKonkret bedeutete dies, dass fortan 40 Prozent des Haushalts in die Bildung flossen. Behörden wurden verpflichtet, regelmäßig Rechenschaft abzulegen über ihre Ausgaben. Und um eine von Gewalt zersetzte Gesellschaft im verwaisten öffentlichen Raum wieder zusammenzubringen, investierten sie in den Nahverkehr, in Plätze, Gärten und Gebäude wie die Casa de la Memoria, die das blutige Erbe des Drogenkriegs aus Sicht der Opfer aufarbeitet.
Es entstanden identitätsstiftende Orte, die zeigten, dass die Stadt es ernst meint. Als 2011 im von Banden beherrschten Armenviertel Comuna 13 mehrere gigantische Rolltreppen in den Hang gesetzt wurden, war dies die erste nicht militärische Intervention im Viertel seit Jahrzehnten. Entlang der Röhren gibt es jetzt Wände mit Street-Art und kleine Geschäfte. Viele der Betreiber haben in den kostenlosen Kursen einer Stadtentwicklungsagentur gelernt, wie man einen Businessplan erstellt.
Gutiérrez und seine Vorgänger haben viel erreicht. Die Wirtschaft wuchs über Jahre um durchschnittlich sechs Prozent. Ausländische Großkonzerne eröffnen Büros in der Stadt. Vor dem Planetarium treffen sich sonntagnachmittags Familien zum Picknick, und die Zahl der Schulabbrecher hat sich seit 2003 mehr als halbiert.
Aber es lässt sich eben nicht alles mit der neuen Politik der Stadt erklären.
Warum ist die Zahl der Morde von einst fast 7000 auf zeitweise 350 im Jahr gefallen? Und wie konnte es dennoch dazu kommen, dass vergangenes Jahr innerhalb weniger Tage ein Däne, ein Israeli und ein Mexikaner an öffentlichen Plätzen umgebracht wurden? Auch wenn Gutiérrez versucht, die Vorfälle mit dem Verweis auf die normale Großstadtkriminalität herunterzuspielen ("Ärger mit Dealern oder Zuhältern"), lenkten die drei Toten den Blick auf eine unbequeme Wahrheit, die unter all den neuen Postkartenmotiven verschüttet liegt: Das organisierte Verbrechen ist noch da. Eigentlich war es nie weg.
"Die Unterwelt entscheidet immer noch über den Frieden in der Oberwelt", sagt Popeye, und mit dieser Meinung steht er nicht allein. Ein anderer, der sie vertritt, ist Luis Fernando Quijano. Er forscht als Menschenrechtsaktivist seit Jahren dazu, was aus den Überresten von Escobars Kartell geworden ist. An den Wänden seines Büros hängen Tafeln, auf die Quijano komplizierte Organigramme kritzelt. Er trägt Pfeile ein, die auf Erbfolgen und wechselnde Allianzen hindeuten. Am Ende seines Vortrags sagt er, dass sich zwei rivalisierende Strukturen herausgebildet hätten, die Medellín heute unter sich aufteilten: die Oficina de Envigado und der Clan del Golfo.
Quijano lehnt sich hinter seinem Schreibtisch zurück. Er lächelt. "Wussten Sie, dass wir heute 500-mal mehr Kokain exportieren als zu Escobars Zeiten?"
Die Kartelle, sagt Quijano, hätten ihre Schlüsse aus Escobars Fehlern gezogen. Sie hätten gelernt, dass zu viele Geräusche die Geschäfte stören. Sie wickelten ihre Deals diskreter ab als früher, ohne auffällige Autos, ohne Zoos und diese sichtbaren Exzesse der Gewalt. Medellín, das ist heute nicht mehr die Zentrale global agierender Drogenmultis; die befindet sich heute in Mexiko. Aber die Stadt ist eine bedeutende Filiale, in der man Einkünfte in einer friedlich boomenden Umgebung gewinnbringend investieren kann.

Szene aus dem Popeye-Film "Auftragskiller"
Foto: Nicolò Filippo Rosso / DER SPIEGELZweimal, sagt Quijano, hätten sich die Kartelle an einen Tisch gesetzt, um einen Pakt zu schließen. Das erste Mal 2003, das zweite Mal 2013, als die Verteilungskämpfe nach der Verhaftung eines Capos namens Sebastián wieder eskaliert waren. Im Rahmen dieser sogenannten Pax mafiosa sicherte sich die Oficina einen Anteil an den Exportrouten in der Gegend, während der Clan del Golfo beim Drogenhandel in der Stadt einsteigen durfte, was nicht nur wegen der vielen Touristen ein wachsender Geschäftszweig ist. 350 kriminelle Banden, schätzt Quijano, operieren in Medellín, und wie aktiv sie seien, erkenne man auch daran, dass weiterhin jedes Jahr Hunderte Menschen als vermisst gemeldet werden.
"Morde sind ein Instrument des Krieges", sagt Quijano. "Jemanden geräuschlos zu entsorgen ist ein Instrument in Friedenszeiten."
Das ist die dunkle Seite Medellíns, über die Leute wie Bürgermeister Gutiérrez nicht gern sprechen. Nachdem die Polizei im Januar versucht hatte, einige niederrangige Bandenmitglieder festzunehmen, kursierten Gerüchte über ein bevorstehendes Attentat auf ihn. Auch deshalb standen an dem Tag vor der Turnhalle so viele Sicherheitskräfte: Der Bürgermeister des neuen Medellín fürchtet um sein Leben.
Er bewegt sich in engen Grenzen: Niemand sagt etwas, wenn er eines von Escobars Wohngebäuden abreißen und in eine Gedenkstätte umwandeln will; wenn aber die Angehörigen von hundert Verschwundenen fordern, eine Müllkippe zu untersuchen, die bekanntermaßen als Massengrab diente, dann kann ihnen auch der Bürgermeister nicht helfen.
Es regnet draußen, als Popeye in einem muffigen Treppenhaus die Tür zu einem Büro aufschließt, wo ihm ein bärtiger Hipster zur Begrüßung auf die Schulter klopft. Er ist der Mann, der Popeyes YouTube-Videos filmt. Über einem seiner Rechner hängt eine Plakette, die ihm für 25 Millionen Klicks verliehen wurde. 400 Dollar zahlt das Unternehmen jeden Monat dafür, dass der ehemalige Killer seine Meinungen mitteilt. Das ist er heute vor allem, ein politischer Aktivist.
An diesem Tag will Popeye über einen früheren Justizminister sprechen, der am Morgen aus seiner Gefängniszelle in Bogotá in den Hausarrest verlegt wurde. Alberto Santofimio steckte Ende der Achtzigerjahre gemeinsam mit Escobar hinter dem Mord an einem Präsidentschaftskandidaten, der den Drogenhandel mit Härte bekämpfen wollte. Es war eines jener Verbrechen, durch deren Aufklärung Popeye seine vorzeitige Entlassung aus der Haft erwirkte.
Er setzt sich eine schwarze Sonnenbrille auf und tritt vor eine Pappwand, an der das Fahndungsfoto hängt, mit dem die Behörden damals nach Escobar suchten. Vor der Kamera lässt er sich minutenlang über Santofimios Beziehungen aus, die in höchste Kreise reichten und ihm für Popeyes Empfinden viel zu früh das Privileg des Hausarrests bescherten.
"In Wahrheit", brummt er, "ist der Mann eine korrupte Ratte."
Diese Videos, die Popeye einmal in der Woche aufnimmt, sind heute das, was seine Beretta früher war. Eine Waffe, mit der er auf andere Menschen zielt. Und anders als bei jemandem wie dem Menschenrechtsaktivisten Quijano hat jedes seiner Worte Gewicht.
Wenn Popeye den Frieden von Medellín einen Waffenstillstand nennt, den einflussreiche Politiker mitverhandelt hätten, dann berichten tags darauf die Zeitungen darüber. Nicht anders war es, als er forderte, die Verfassung umzuschreiben, damit er trotz seiner Verbrechen als Senator kandidieren könne. Popeye argumentiert, dass für ihn die gleichen Rechte gelten sollten wie für die Rebellen der Farc, denen die Regierung im Zuge der Aussöhnung künftig die Wahl ins Parlament ermöglicht.
"Der Patrón ist tot, ich kann heute frei denken", sagt Popeye, aber es gibt viele, die das bezweifeln. Auch wenn er offiziell keiner Partei angehört, decken sich seine Positionen auffällig oft mit denen eines Mannes, der als einflussreichster Strippenzieher der Region gilt: des ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe.
Das muss kein Zufall sein. Uribe war einst Gouverneur des Bundesstaates Antioquia, zu dem Medellín gehört. Als Präsident Kolumbiens führte er einen blutigen Krieg gegen die Farc, die er beschuldigt, seinen Vater umgebracht zu haben. Heute, sieben Jahre nachdem er aus dem Amt ausgeschieden ist, ist Uribe mit seiner ultrarechten Partei Centro Democrático einer der schärfsten Kritiker von Präsident Juan Manuel Santos und des Friedensprozesses mit den Farc. Uribe sind immer wieder Verbindungen zu den Gegnern der Farc, den rechten paramilitärischen Milizen, nachgesagt worden; ebenso wird er beschuldigt, einst Pablo Escobar nahegestanden zu haben. Beides hat Uribe stets bestritten.
Popeyes alte Weggefährten sind alle tot. Als Escobar ihn nicht mehr brauchte, ging Popeye in den Knast, weil es, wie er sagt, der einzige Weg war, lebend aus der Sache rauszukommen. Von seinen Millionen, sagt er, sei nichts geblieben. Er habe sie aufgebraucht für teure Anwälte und seine Sicherheit im Knast.
Er ist ein Veteran vergangener Kriege, ein Überlebender, der diese Stadt an das erinnert, was sie einmal war und vielleicht noch immer ist. Dazu passt auch, dass niemand weiß, welche Rolle Popeye in der Stadt darüber hinaus spielt und ob er vielleicht doch ein Handlanger des Expräsidenten ist.
Ist Popeye, wie Quijano glaubt, ein gefährlicher Soldat, über den noch immer ein Patrón seine schützende Hand hält? Ist er jemand, der womöglich ein Interesse daran hat, die Stadt in Angst zu halten? Oder ist er doch nur ein Aufschneider, der gern bekifften Ausländern von seinem Traum erzählt, als alter Mann durch eine Ladung Blei zu sterben?
In Kolumbien, dem Land des magischen Realismus, hat jeder, mit dem man spricht, seine eigene Wahrheit. Fast immer gibt es eine zweite, dritte oder vierte Ebene. Es gibt keinen Staat, keine Autoritäten, denen man vertrauen kann.
Das ist das eigentliche Medellín: eine Stadt, in der die Dinge ineinanderfließen, in der die Wirklichkeit sich auflöst in einem Nebel brüchiger Versionen, und genauso kann es jeden Augenblick auch mit dem Frieden sein.