Geschlechterdebatte Wenn politische Korrektheit auf Kunst trifft

In Manchester verschwindet ein Gemälde, in Berlin ein Gedicht - und immer geht es dabei um Sexualität. Bedroht die Debatte um das Geschlechterverhältnis die Freiheit der Kunst?
Courbet-Gemälde "Der Ursprung der Welt" im Pariser Musée d'Orsay: Radikale Geste

Courbet-Gemälde "Der Ursprung der Welt" im Pariser Musée d'Orsay: Radikale Geste

Foto: Philippe Wojazer / REUTERS

Es gibt auf dieser Welt ein Bild, das alle Fragen stellt und keine Antwort gibt. Auf geheimnisvolle Weise hat es mit allen Menschen zu tun, also auch mit Catherine Deneuve und mit Harvey Weinstein, mit #MeToo-Aktivistinnen und Herrn Dr. Wedel, mit den Asta-Leuten der Alice-Salomon-Hochschule, mit Kuratoren in Manchester und mit Kevin Spacey, der nicht mehr zu sehen ist in Ridley Scotts neuem Film "Alles Geld der Welt", obwohl er darin doch mitgespielt hat.

Das Bild hängt, Öl auf Leinwand, 46 mal 55 Zentimeter groß, in einem kleinen Saal des Pariser Musée d'Orsay. Sein Maler, Gustave Courbet, nannte es "L'Origine du monde", das heißt "Der Ursprung der Welt", und das Gemälde zeigt, in vollendetem Naturalismus, den Unterleib einer Frau, ein entblößtes weibliches Geschlecht. Vor dem Gemälde spielen sich tagtäglich viele kleine Szenen ab, die zur großen menschlichen Komödie gehören. Auch diese Woche, als der Winter mit tanzendem Schnee nach Paris kam, war es nicht anders. Da waren die Besucher, die zum allerersten Mal vor das Bild gerieten und zwischen zwei Wimpernschlägen um Fassung rangen. Da waren junge Frauen aus aller Herren Länder, die vor dem Bild in fröhliches Gelächter ausbrachen, oder war da auch eine kleine, kichernde Angst? Es gab wie stets die jungen Männer, die so taten, als hätten sie das Gemälde wirklich fast überhaupt nicht bemerkt, es gab die Liebespaare, die sich im Angesicht der prachtvollen behaarten Vulva noch ein wenig tiefer in die Augen schauten. Es gab Menschen, in deren Augen echte Panik stand, und dann spazierten wieder ruhige alte Damen vorbei, hoben kurz den Blick und gingen lächelnd davon.

Courbets Werk, entstanden 1866, gilt Kunsthistorikern als ein entscheidender Schritt auf dem Weg in die Moderne. Das Bild stellt eine radikale Geste schöpferischer Freiheit dar, einen Bruch: Hier wurde ein Geschlechtsorgan ohne historisches oder mythologisches Alibi abgebildet, durchaus verherrlicht und auch noch gotteslästerlich überhöht, eine unglaubliche Provokation - die allerdings bis heute fortwirkt. "Der Ursprung der Welt" darf im Februar 2018 noch immer als so gefährlich und als so gefährdet gelten, dass das Museum einen Bediensteten eigens zu seiner Überwachung abstellt. Mit Bilderstürmern und anderen Zensoren ist jederzeit zu rechnen und neuerdings auch mit Bilderstürmerinnen und Zensorinnen.

Facebook hat den "Ursprung der Welt" gelöscht, ein Pariser Lehrer führt nun einen Prozess deswegen, im März soll das Urteil fallen.

Wenn es nicht um Moral und Anstand, Pornografie und Jugendschutz geht, dann um die Frau als Objekt und als Opfer, um die pornografische Zerstückelung des weiblichen Körpers, um Männerfantasien, um maskulin dominierte Machtverhältnisse. Aber müsste es nicht mindestens ebenso laut darum gehen, was Kunst darf und dürfen muss und wer das zu bestimmen hat? Hat die Kunstfreiheit Grenzen? Und werden die von Berliner Studenten definiert? Oder von wem? Führen unser neues Leben in der digitalen Empörungsdemokratie und das Veröden in selbst geschaffenen Blasen dazu, dass Toleranzschwellen sinken? Dass, was früher einfach ignoriert oder abgetan wurde, heute als unerträglich gilt und zum Verschwinden gebracht werden muss?

Das sind Stichworte der aktuellen Debatte. Wer sich hinstellt vor Courbets unglaubliches Gemälde, lernt binnen wenigen Momenten des Betrachtens, dass die Frontverläufe zu gerade, die Argumente zu clean, die Gewissheiten gerade viel zu groß sind. Wer aber über das Verhältnis von Männern und Frauen reden will, kann über Sexualität, Eros, Leidenschaften, auch die dunklen, nicht schweigen. Dort beginnt, in jedem Menschen, unkartiertes Gelände, also die Domäne der Kunst, die nicht nach Korrektheit fragt und die Welt zum Beben bringen kann - und sei es, weil die Kunst plötzlich verschwunden ist, weil ein Bild abgehängt wird, wie in Manchester, in der Art Gallery, einem klassizistischen Kunsttempel aus dem 19. Jahrhundert, jener Zeit, als die Kunst für das Schöne, für das Edle stand, keinen Ärger machte, sondern ihre Betrachter zu erbauen hatte. Saal Nummer zehn im ersten Obergeschoss ist dem viktorianischen Schönheitsideal gewidmet, gegenüber der Tür hängt im aufwendig verzierten Rahmen das Gemälde, über das seit vergangener Woche weltweit geredet wird. Eben weil es nicht mehr da war.

Die Dielen knarzen auf dem Weg dorthin, als wären sie eine Alarmanlage, die Botschaft, je nach Sichtweise: "Vorsicht, Kunst!", "Vorsicht, Zensur!", "Vorsicht, Sexualität!". Das Bild heißt "Hylas und die Nymphen", gemalt hat es 1896 ein Mann namens John William Waterhouse, ein sogenannter Präraffaelit, das ist eine etwas in Vergessenheit geratene englische Kunstrichtung des 19. Jahrhunderts. Waterhouse zeigt sieben sehr junge Frauen in einem mit Seerosen bedeckten Tümpel. Lange Haare, sinnlicher Blick, ein bisschen sieht jede so aus, als hätte man Uschi Obermaier in ein Gemälde des 19. Jahrhunderts verbannt. Eine Männerfantasie. Womöglich. Und dann ist da dieser Knabe am Rande des Teichs, Hylas. Er kniet, streckt seinen Arm aus. Es ist eine Szene aus der griechischen Mythologie. Gustav Schwab hat sie, auch im 19. Jahrhundert, in seinen "Sagen des klassischen Altertums" ins Deutsche übertragen: "Wie er sich nun eben mit dem Kruge nach dem Wasserspiegel neigte, erblickte ihn die Nymphe des Quelles. Von seiner Schönheit betört, schlang sie den linken Arm um ihn, mit der Rechten ergriff sie seinen Ellenbogen und zog ihn so hinunter in die Tiefe." Nicht Hylas ist der Täter, nicht die Nymphe das Opfer. Es ist umgekehrt. Vielleicht die erste Pointe dieser Geschichte. Eine zweite könnte sein, dass Hylas der jugendliche Geliebte des Herakles war, man könnte das Pädophilie nennen. Aber was wäre dann die Nymphe? Eine Frau, die einen Jungen aus den Fängen eines Pädophilen befreit? Es gibt so viele Lesarten, für die Literatur, und auch für ein Gemälde.

Aber wer kennt diesen mythologischen Plot heute noch?

Unter dem Bild und auch auf dem Boden kleben gelbe Post-it-Zettel, es sind weit mehr als hundert, auf denen die Museumsbesucher ihre Meinung notiert haben.

"Hände weg von diesem Gemälde."

"Welcher Scheiß. Waterhouse' Hylas & Nymphen abgenommen für diesen Unsinn."

"Traurig."

"Befreit die Nippel."

"Das ist Zensur."

"Der Feminismus schnappt über. Ich schäme mich, Feministin zu sein."

Nur wenige vertreten eine andere Ansicht.

"Danke für das Anstoßen einer offenen Diskussion, 100 Jahre später, wir haben noch einen langen Weg zu gehen (traurigerweise)."

"#MeToo."

Da ist er, der Hashtag, der so viel ausgelöst hat seit dem vergangenen Herbst, das Motto einer Revolte gegen die Raubtiermänner, einer Revolte, die dazu geführt hat, dass Schauspielerinnen in Hollywood den Filmproduzenten Harvey Weinstein als Vergewaltiger anklagten und Schauspielerinnen in Deutschland den Fernsehregisseur Dieter Wedel - beide bestreiten die Vorwürfe. Das Motto, das dazu geführt hat, dass Frauen sich wehren, dass sie den Mund aufmachen, reden über männlich dominierte Machtstrukturen, über sexualisierte Unterdrückungsmechanismen. Doch dieses Reden hat praktische Folgen, weil es ja nicht nur darum geht, was war, sondern auch darum, was nicht mehr sein soll. Es ist ein Umbruch, zumindest, vielleicht gar eine Revolution.

"Hylas und die Nymphen" in Manchester

"Hylas und die Nymphen" in Manchester

Foto: Duncan Elliott/ DER SPIEGEL

Doch kein Umbruch, keine Revolution der Weltgeschichte kam ohne Bildersturm aus. Nicht die Reformation, als Anhänger von Luther, Calvin oder Zwingli in den Kirchen wüteten, die Gemälde und Heiligenfiguren zerstörten und dabei Kunstschätze vernichteten, Gemälde und Schnitzereien, als gälte es, Brennholz für das Fegefeuer zu besorgen. Und dann erst die Französische Revolution: Allein in Notre-Dame zertrümmerten im Jahr 1793 die Pariser Aufständischen 90 der 109 Statuen der Kathedrale, aus den Bruchstücken baute man eine Latrine. Vor einer Büste des Jakobiners Marat errichteten die Revolutionäre einen Scheiterhaufen mit Bildern aus den königlichen Sammlungen. So ähnlich ging es weiter, bis ins 20. Jahrhundert hinein, bis zur Ausstellung "Entartete Kunst" des Jahres 1937, als die Nazis die Werke der Moderne verhöhnten; bis zu den kulturellen Säuberungen im Stalinismus und während Maos chinesischer Kulturrevolution.

Von derartigem Terror sind die westlichen Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts denkbar weit entfernt - und doch hallt die Erinnerung daran nach, als sei sie ein schlecht bewältigtes Trauma. Ein entsprechendes Reizwort, eine kleine Erinnerung genügen, und schon läuft der Film wieder ab im kollektiven Gedächtnis, erlebt die Menschheit, oder zumindest ihr kunstsinniger Teil, den Schrecken aufs Neue. Aber ist dieser Schrecken eingebildet oder wirklich auch da?

Ganz sicher jedenfalls gibt es Anzeichen einer Bewegung, die über #MeToo hinausgeht und doch davon Auftrieb bekam, einer Bewegung, der es nicht nur um die Herrschaft von Männern geht, sondern auch um den "männlichen Blick" und damit auch um die Kunstwerke, die davon geprägt sind, um eine ästhetische Neubewertung und Neuordnung der Museen, vielleicht auch um eine ästhetische Revolte, eine Revolution.

Die britische Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey hat die Formulierung vom männlichen Blick erfunden, schon 1973, sie hat Kulturgeschichte geschrieben damit, nicht mit einem Schlag, sondern, wie sich nun zeigt, langsam und gewaltig. Bei Mulvey ging es unter anderem um die Filme Alfred Hitchcocks, um die Kamera, die den Blickwinkel des Mannes einnimmt, um die Frauen, dargestellt von sehr blonden, sehr grazilen Schauspielerinnen wie Kim Novak, Tippi Hedren oder Grace Kelly, vom Mann begehrte Objekte, oder, wie Mulvey schrieb: "Insbesondere in 'Vertigo', aber auch in 'Marnie' und 'Das Fenster zum Hof' ist der Blick für die Handlung zentral, er oszilliert zwischen Voyeurismus und fetischistischer Faszination." Kein ganz unwesentlicher Hinweis, es ist ja bei Hitchcock nicht so, dass die Frauen seine Gefangenen wären, es ist eher so, dass die Faszination ihres Anblicks ihn gefangen nimmt. Wer wäre dann Subjekt und wer Objekt?

Mit Laura Mulveys Formel vom männlichen Blick lassen sich nicht nur Filme analysieren, sie gilt auch in der Kunst, in Manchester lässt sie sich ebenfalls anwenden, auch auf John William Waterhouse' Bild von Hylas und den Nymphen im Sumpf des Begehrens. Clare Gannaway, die Kuratorin des Museums, hat indirekt Bezug auf Mulveys Formel genommen, nachdem Waterhouse' Gemälde von der Museumswand verschwunden war; Gannaway teilte mit, eine Präsentation, in der die männlichen Künstler den weiblichen Körper als passiv dekorativ oder als eine Femme fatale zeigten, sei überholt.

Hysterie machte sich breit in den Medien, sie lässt sich nur damit erklären, dass das Museum in Manchester mit seiner Aktion eine unterschwellige Angst vor einem neuen Bildersturm geschürt hat - diesmal unter feministischen Vorzeichen. Plakativ zugespitzt lautet die Frage: Bedroht die politische Korrektheit nun womöglich die Freiheit der Kunst?

"Ja", sagt Marion Ackermann, Direktorin der Dresdner Kunstsammlungen. "Wir leben weltweit in einer Zeit der Verbote, Tabuisierungen und des teilweise übersteigerten Moralisierens. Kunst war und ist eben nicht nur gut, sondern auch unbequem, provokant." Wenn Kunstwerke ein Frauenbild zum Ausdruck brächten, das im Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen stehe, sei die Pflicht des Museums zur Vermittlung umso größer.

In Deutschland dreht sich die Debatte um politische Korrektheit und die Freiheit der Kunst seit September um ein Gedicht, das auf den ersten Blick gar nicht sonderlich provokant ist, um Eugen Gomringers "Avenidas" auf der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule, und darum, ob dieses Gedicht übermalt werden soll, weil es eben den männlichen Blick feiere. Es wurde viel diskutiert und gestritten, selbst die Leser des sonst verlässlich lyrikfernen Boulevardblatts "Berliner Kurier" kennen nun ein Beispiel der eher spröden konkreten Poesie der Fünfzigerjahre, allerdings nur weil der "Kurier" es als "Sex-Gedicht" verkaufte. Ende Januar hat der Akademische Senat der Hochschule entschieden: Das Gedicht soll weg.

Verschwindet da ein Kunstwerk? Oder reicht es, dass man dieses Gedicht ja weiterhin nachlesen kann, in Büchern, im Internet, zwischenzeitlich sogar auf der LED-Leuchttafel am Dach des Berliner Axel-Springer-Verlags, der mit seinem Hausblatt "Bild" sonst nicht gerade als Verfechter des Feinsinnigen bekannt ist, aber kaum einen Kulturkampf scheut.

Gomringer-Gedicht in Berlin

Gomringer-Gedicht in Berlin

Foto: Public Address / Action Press

Und von einem Kulturkampf kann man durchaus sprechen. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder, der sich mit der "Kultur des Regenbogens", wie er sie nennt, der Emanzipationsbewegung im Zeichen der Antidiskriminierung, befasst hat, sieht hier die "Talibanisierung des Regenbogens": "Diversität, die nur eine Meinung gelten lässt, wird zur Ideologie." Kulturstaatsministerin Monika Grütters zeigte sich "fassungslos" angesichts der Berliner Entscheidung: "Wir sind eines der wenigen Länder der Welt, die die Kunstfreiheit in der Verfassung festgeschrieben haben." Wo käme man nun hin, meint sie, wenn kleine Gruppen für sich in Anspruch nähmen, dies oder das müsse weg? "In diesem Fall verbunden mit dem Totschlagargument, das im Moment Konjunktur hat: 'Ich fühle mich sexuell belästigt.' Wenn nach diesem Maßstab Kunst eliminiert werden dürfte, wie sähen dann unsere Museen und Städte aus?"

Grütters und Rödder stehen auf der konservativen Seite, doch der "Guardian", das Blatt, das linke britische Intellektuelle beim Frühstück lesen, sah die Folgen der Aktion in Manchester ähnlich, als er die Frage stellte: "Ist Picasso der Nächste?"

Wenn es nur um Picasso ginge. Die Museen sind voll mit Werken des männlichen Blicks. Er zieht sich durch alle Epochen, lässt sich zurückdatieren bis etwa 30.000 Jahre vor unserer Zeit: die "Venus von Willendorf", eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit - männlicher Blick. In der Renaissance: Botticellis "Geburt der Venus" - männlicher Blick. Im Barock: Rubens' "Raub der Sabinerinnen" - männlicher Blick. In der Moderne und Postmoderne: Egon Schieles "Schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock" - sehr männlicher Blick. Man könnte fast meinen, ohne den männlichen Blick wäre die Kunstgeschichte erst gar nicht entstanden. Doch, Verzeihung, Spott allein hilft nicht weiter - Frauen hatten keine Chance, die Geschichte der Kunst ist eine Geschichte der Unterdrückung der Frau.

Vielleicht aber hilft ein bisschen Abstand von der lodernden Debatte. Die Berliner Historikerin Ute Frevert meint, wenn man alle Kunstwerke, die unsere heutigen Sensibilitäten störten, aus den Museen entfernte, seien die bald leer - und doch sei es nötig, über Kunstwerke öffentlich zu diskutieren, eigene Lesarten vorzubringen. Der Leipziger Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich sagt, wer Werke der Kunstgeschichte "zu stark nur nach Maßstäben und Moralstandards der Gegenwart" beurteile, verkenne, dass das Museum ein ganz besonderer Raum sei, in dem alles, was historisch einmal eine Rolle spielte, konserviert werden könne (und solle), egal was man heute darüber denke.

Was aber hat Sonia Boyce, die Künstlerin, die den Anstoß gab, sich mit John William Waterhouse zu beschäftigen, mit ihrer Aktion vorgehabt? Immerhin ist sie Mitglied der Royal Academy of Arts, wie gut hundert Jahre vor ihr Waterhouse auch. Sie lehrt als Professorin, eines ihrer Forschungsgebiete ist "Schwarze Künstler und die Moderne". Im März hat sie eine Ausstellung in der Manchester Art Gallery, und wie schon andere Künstler vor ihr soll sie sich da mit dem Bestand des Museums auseinandersetzen. Die Kuratoren des Museums nennen diese Reihe "Take over", zu Deutsch: "Übernahme" - oder sollte man eher "Machtübernahme" sagen? Um sich darauf vorzubereiten, spazierte Boyce im vergangenen September durch die Räume des Museums, an ihrer Seite Mitarbeiter des Hauses, auch das technische Personal. Irgendwann standen da plötzlich 30 Leute. Boyce war erstaunt, wie groß das Interesse war, über die Bilder zu sprechen. "Manches wird sehr kritisch gesehen, doch all diese Leute, die doch immerhin im selben Museum arbeiten, haben sich nie darüber unterhalten." Auch um Waterhouse' Bild ging es, manche Kollegen, so Boyce, hätten es am liebsten ins Depot verbannt, sie hielten es für eine Art pädophilen Softporno.

Und dann geschah es. Sonia Boyce erinnert sich, wie ein Besucher den Saal betrat, ein Mann mittleren Alters, er habe ein iPad dabeigehabt, er habe den Nymphen von John William Waterhouse auf die gemalten Brüste gestarrt, sie mit seinem iPad gefilmt und dabei geschnauft. Ein anderer Besucher habe den Schnaufenden mit dem iPad empört angesprochen.

Fast zu schön, diese Geschichte. Als habe der Weltgeist eingegriffen, das Schicksal interveniert, wie immer, wenn es darum geht, Epoche zu machen - und ist das, was da gerade in Berlin, Manchester oder im Schneideraum von Ridley Scott geschehen ist, etwa nicht epochal, zumindest ein bisschen? Der männliche Blick jedenfalls, im Museumsbesucher mit dem iPad hat er seine Verkörperung gefunden.

Im Januar schließlich lud Sonia Boyce zu einer Performance ins Museum ein. Zwei Mitarbeiter der Manchester Art Gallery nahmen Waterhouse' Bild von der Wand, luden es auf einen Wagen und fuhren es weg. Es sei nicht ihre Entscheidung gewesen, sondern die der Menschen im Museum, sagt Boyce. Auch den Entschluss, wann das Bild wieder aufgehängt wird, hätte sie gern dem Personal überlassen. Doch dann brandeten die Proteste über das Museum herein, die Vorwürfe von "kulturellem Marxismus", "Puritanismus", "Viktorianismus", auch wenn es begrifflich ein bisschen durcheinanderging - die Chefin des Museums sei nach den Protesten schnell nervös geworden. Jetzt hängt das Bild schon nach sieben Tagen wieder.

Täglich würden in Museen Bilder aufgehängt, abgehängt, umgehängt, die Entscheidung träfen Kuratoren hinter verschlossenen Türen, meint Boyce. "Spricht da auch jemand von Zensur?"

Was sie verkennt, ist, dass es in Manchester nicht nur darum ging, ein Bild anderswohin zu räumen. Waterhouse ist nur der jüngste Fall in einer Reihe von Fällen, in denen Bilder unter Verdacht geraten sind. Anlässlich der Biennale im New Yorker Whitney Museum hatte es im März 2017 Wortgefechte wegen Dana Schutz' Gemälde "Open Casket" gegeben - weil die Künstlerin weiß ist, der auf dem Bild gezeigte tote Junge aber schwarz; er hieß Emmett Till und ist bis heute eine Symbolfigur für die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, in den Fünfzigern von weißen Rassisten gefoltert und ermordet. Die schwarze britische Künstlerin Hannah Black verlangte, das Bild zu zerstören: "Es ist nicht akzeptabel, dass eine Weiße das Leid eines Schwarzen in Spaß und Profit verwandelt." Die Schriftstellerin Zadie Smith, selbst schwarz, selbst Britin, wandte sich öffentlich gegen Black, verglich sie mit Nazis und zensurwütigen Evangelikalen.

Dana-Schutz-Gemälde "Open Casket"

Dana-Schutz-Gemälde "Open Casket"

Foto: Natan Dvir / Polaris / Studio X

Der nächste Kunststreit brach ein paar Monate später aus: In einer Onlinepetition forderten gut 10.000 empörte Bürger, dass "Thérèse, träumend", ein Gemälde des Künstlers Balthus, aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Art verschwinden solle. Das Bild ist 80 Jahre alt, doch weil man darauf das Höschen des porträtierten Mädchens sehen kann, gilt ihm nun der Vorwurf, es verkläre "in diesem aktuellen Klima den Voyeurismus und die Sexualisierung von Kindern". Bereits 2014 hatte das Essener Folkwang-Museum eine Ausstellung mit Polaroids von Balthus abgesagt, weil es sich damit nach deutschem Recht strafbar gemacht hätte. Ab September ist in Basel eine große Balthus-Retrospektive geplant, ob sie wirklich stattfindet, ist fraglich angesichts eines Künstlers, dem immer wieder der Vorwurf gemacht wird, er stilisiere die Pädophilie. Aber was wäre Kunst, wenn sie sich nicht auch mit den Seiten des Begehrens auseinandersetzen würde, die unsere Gesellschaft juristisch, politisch oder moralisch sanktioniert? Max Hollein, früher Städel-Chef, heute Museumsdirektor in San Francisco, erinnert daran, dass die Altersgrenze für sexuelle Beziehungen in Kalifornien bis 1889 bei zehn Jahren lag, in Delaware sogar bei sieben. "Was für uns heute nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich ausgeschlossen ist, war vor hundert Jahren noch ganz anders normiert." Die Vorstellung, dass jeder Künstler ein nach heutigen Maßstäben moralisch einwandfreies Leben geführt haben müsse, damit wir seine Werke akzeptieren könnten, sei "vollkommen abwegig".

Balthus-Gemälde "Thérèse, träumend"

Balthus-Gemälde "Thérèse, träumend"

Foto: Fondation Pierre Gianadda / REUTERS

Trotzdem wurde in Hamburg eine Ausstellung, in der die Deichtorhallen ab Herbst die Fotografien des Amerikaners Bruce Weber zeigen wollten, vorerst "auf Eis gelegt", wie es in einem Statement kühl heißt. Im Januar hatte die "New York Times" einen Bericht veröffentlicht, in dem 15 Models dem Fotografen sexuelle Belästigung vorwerfen.

Wenn die Vorwürfe stimmen - das muss man in diesen Tagen trotz des naheliegenden moralischen Bedürfnisses, zu den Opfern zu halten, immer dazusagen -, dürfte Bruce Weber sich strafbar gemacht haben; wenn die Vorwürfe stimmen, wäre, wer sich als Model in seine Nähe begibt, gewarnt; wenn die Vorwürfe stimmen, hätte, wer Weber beauftragt, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob er damit ein System deckt und finanziert, in dem ein Mann seine Macht nutzt, um andere zu missbrauchen; könnte man hoffen, dass die Enthüllungen ein offeneres Klima förderten, dass sie das Ende der machistisch geprägten Machtkonglomerate beschleunigten. Aber ist damit auch die Kunst dieses Mannes - schlimmes, aber zeitgemäß wirkendes Wort - unzeigbar?

Die Chefs der Deichtorhallen meinen offenbar: fürs Erste, ja. Da es in der gegenwärtigen Debatte keine Trennung zwischen Künstler und Werk gebe, sei "eine freie Betrachtung nicht mehr möglich".

Müsste man nicht vielmehr umgekehrt argumentieren? Gerade weil in der aktuellen Debatte die Trennung zwischen Künstler und Werk verschwimmt, wäre es angebracht, sich mit Bruce Weber auch anhand seiner Arbeit zu befassen. Denn neben der Diskussion um den männlichen Blick läuft noch eine zweite Auseinandersetzung: Es geht um die Frage, inwiefern Kunstwerke noch tragbar sind, wenn der Künstler gefehlt hat oder zumindest einer Verfehlung verdächtigt ist.

Bruce-Weber-Fotografien in Los Angeles: "Freie Betrachtung nicht mehr möglich"

Bruce-Weber-Fotografien in Los Angeles: "Freie Betrachtung nicht mehr möglich"

Foto: Patrick McMullan / Getty Images

Sie betrifft die Fernsehserien von Dieter Wedel, die Filme von Woody Allen, von Roman Polanski. Auch die von Quentin Tarantino, dem die Schauspielerin Uma Thurman kürzlich vorwarf, sie beim Dreh in Lebensgefahr gebracht zu haben. Sie betrifft im Theater die Inszenierungen von Matthias Hartmann, dem 60, zum Teil ehemalige, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wiener Burgtheaters in einem offenen Brief nachsagten, in seiner Zeit als Intendant eine "Atmosphäre der Angst" geschaffen zu haben.

Ganz besonders betrifft sie die Serien und Filme mit Kevin Spacey - weil sie hier konkrete Folgen hat: Der Schauspieler Spacey ist derzeit eine solche Unperson, dass verschiedene Produzenten und Regisseure beschlossen haben, ihn aus ihren aktuellen Produktionen zu entfernen.

Als sich im Oktober ein Schauspieler meldete, der behauptete, Spacey habe ihn in den Achtzigerjahren als Minderjährigen missbraucht, als sich nach diesem Vorwurf viele andere Schauspieler meldeten, die beschrieben, dass Spacey bis in die heutige Zeit hinein beim Dreh oder am Theater Männer aus dem Team belästigt habe, entschied sich der Streamingdienst Netflix schnell: Spaceys Rolle in der Serie "House of Cards", immerhin die Hauptrolle, wurde gestrichen. Das allerdings war, bei allem Respekt vor den möglichen Opfern Spaceys, ein Schachzug von geradezu archetypischer Bigotterie - spielte Spacey in "House of Cards" doch den US-Präsidenten Frank Underwood, einen Mörder, dem für sein politisches Fortkommen jedes Mittel recht ist, einen der Lieblingsschurken des Serienzeitalters. Der Privatmann Spacey aber hat sich, soweit wir wissen, nicht annnähernd ähnlicher Abgründe verdächtig gemacht wie seine populäre Figur; er hat sich durch sexuelle Übergriffe als fehlbar erwiesen, doch seine Fehlbarkeit wird zur Weltnachricht, innerhalb kürzester Zeit verhandelt vor einem Milliardenpublikum. Nun ist er erst mal erledigt. Das ist der globale Entertainmentkapitalismus, in dem ein umstrittener Schauspieler im Zweifelsfall nicht viel mehr wert ist als ein Schokoriegel mit gefährlichen Inhaltsstoffen: Droht schlechte Presse, verschwindet das Produkt vom Markt.

Wer will da noch über die Freiheit des Künstlers diskutieren?

Das allerdings verschafft Tugendwächtern eine ungeheure Macht. Gerüchte, üble Nachrede genügen - und schon nimmt die vermeintliche Gerechtigkeit ihren Lauf.

Am 15. Februar kommt Ridley Scotts "Alles Geld der Welt" in die deutschen Kinos. Der Film, in dem es um die Entführung des Milliardärsenkels John Paul Getty III. geht, war - mit Kevin Spacey - bereits fertig gedreht und geschnitten, die Werbekampagne lief, als Spacey als zweiter Prominenter nach Harvey Weinstein ins #MeToo-Kreuzfeuer geriet.

Szene mit Kevin Spacey aus "Alles Geld der Welt"

Szene mit Kevin Spacey aus "Alles Geld der Welt"

Foto: Sony Pictures

Wie auch in "House of Cards" hatte Spacey in "Alles Geld der Welt" eine kaltblütige, düstere Figur gespielt: J. Paul Getty, den einstmals reichsten Mann der Welt, der sich in den Siebzigerjahren weigerte, für seinen eigenen entführten Enkelsohn Lösegeld zu zahlen; der erst dann nachgab, als die Entführer das abgeschnittene Ohr des Jungen per Post an eine Zeitung schickten. Dem Milliardär Getty ging es darum, drei Millionen Dollar zu sparen, die Produktionskosten für "Alles Geld der Welt" betrugen 45 Millionen, und die Reaktion Ridley Scotts stellte sogar die seiner Filmfigur Getty in den Schatten: Er entschied sich dafür, das Geld zu retten. Die Debatte um Spacey drohte den Filmstart zu überschatten, Scotts Chancen bei der Oscargala zu schmälern und, erst recht, den Kinoumsatz zu verderben.

"Man kann herumsitzen und untergehen, oder man kann etwas unternehmen", sagte Scott, "ich habe etwas unternommen." Er drehte alle 22 Szenen, in denen ursprünglich Spacey vorkam, mit einem anderen Darsteller neu. Der, Christopher Plummer, ist nun sogar für den Oscar als bester Nebendarsteller nominiert. Sollte er den bekommen, wäre das ein bitterer Witz am Ende dieses #MeToo-Winters; zumindest ist "Alles Geld der Welt" ein Platz in der Filmgeschichte sicher - bislang kannte man derartige Retusche nur von den Propagandaabteilungen totalitärer Staaten, den hauptberuflichen Bilderstürmern und Gesinnungskontrolleuren.

Gesinnungskontrolleure haben ein schlechtes Image, gemein ist ihnen aber auch, dass sie ihr niederes Handwerk fast immer aus höheren Motiven betreiben, weil es die Religion so will oder die Ideologie. Doch in der Geschichte jeder Ideologie gibt es einen Moment, in dem sich ihr Gedankengebäude, oftmals errichtet zur Befreiung des Menschen, gegen den Menschen richtet, ihn nicht mehr befreit, sondern einengt oder erdrückt. Auch die politische Korrektheit ist eine hehre, eine gute Idee, ersonnen, um die Welt gerechter zu machen.

Doch wie gerechtigkeitsfördernd ist es heute noch, wenn Kontrolleure, die sich Bühnenwatch nennen, in deutschen Theatern darauf achten, dass, wie in Dea Lohers Stück "Unschuld" am Deutschen Theater in Berlin, nicht etwa weiße Schauspieler mit schwarz geschminkten Gesichtern Schwarze darstellen; wenn Kontrolleure, die sich Münkler-Watch nennen, darauf achten, dass Herfried Münkler, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, nicht die falsche Meinung vertritt?

Das Ideal der Befreiung, für das in westlichen Gesellschaften gerade die Linke eingetreten ist, hat gelitten unter dem Treiben mancher Gedankenpolizisten und Sittenwächter, die heute das Banner der Linken schwingen, während die Rechte feixt und sich als Vertreter der Freiheit geriert.

"Unschuld"-Inszenierung in Berlin

"Unschuld"-Inszenierung in Berlin

Foto: Ullstein Bild

Wenn man den Kampf gegen sexualisierten Machtmissbrauch und für eine andere Repräsentation von Frauen in den Künsten aber wieder trennt vom Kampf gegen den sexualisierten Blick, bleibt die Frage: Was kann der Bildersturm gegen diesen Blick eigentlich ausrichten in einer Welt, in der die Kontrolle über das Bild nicht mehr die Sache von Museen, Hochschulen oder Institutionen ist, weil derartige Torwächter ausgedient haben und der digitale Souverän sich selbst ermächtigt hat, im Internet über eine sexualisierte Bilderflut gebietet, die jeden Museumsdirektor, jeden Hochschulsenat erröten ließe? Liegt das daran, dass die alten Bildmuster sich in den Köpfen festgesetzt haben, oder geht es hier um etwas Grundsätzlicheres? Um das Begehren, das auch die Frauen, Männer und Zwischengeschlechter des 21. Jahrhunderts mit ihren vormodernen Müttern und Vätern verbindet?

Zumindest in der westlichen Welt hat der Mensch längst die Flüsse begradigt, die Insekten vernichtet, die Epidemien gebändigt, er beherrscht die Natur, ist der König der Löwen und des restlichen Tierreichs sowieso. Er forscht, um das ewige Leben zu gewinnen, um sich künftig selbst zu erschaffen. Nur sein sexuelles Begehren zu rationalisieren, das ist ihm trotz aller gut und weniger gut gemeinten Mühen von Moralisten und Tugendwächtern, von Freiheitskämpfern und Gleichheitsdenkern nie vollendet gelungen. Die Sexualität ist ein Atavismus, ein überflüssiges, eigentümliches Relikt in Zeiten, in denen zur menschlichen Fortpflanzung nicht einmal die direkte Beteiligung von Mann und Frau nötig ist. Das macht sie so unheimlich.

Und so führt diese Geschichte am Ende wieder dorthin, wo sie ihren Ausgang nahm, zu Courbets "Ursprung der Welt" oder, genauer gesagt, zu dem, was dieses Bild eigentlich zeigt, zur Sexualität, zu den Begierden des Menschen und damit auch zu Sigmund Freud, der diese Begierden erforscht und beschrieben hat und sie dabei auf ein paar Begriffe brachte, die heute noch hilfreich sind, wenn es darum geht, das verstehen zu wollen, was derzeit passiert. Es sind die Begriffe vom "Über-Ich" und vom "Es" . Wörter, die das Spannungsverhältnis beschreiben, um das es auch im Streit um die Bilder geht: auf der einen Seite das Bemühen, das Ideal. Auf der anderen das Begehren. Lange hat man das eine als hoch und das andere als nieder beschrieben. Es wäre an der Zeit, sich von dieser zweigeteilten Weltsicht zu verabschieden. Und den Künsten die volle Freiheit zu überlassen. Stellt sie dar, die Ideale und das Begehren, in allen ihren Formen, egal ob weiblich oder männlich, schwarz oder weiß, queer oder hetero - aber macht es so, wie ihr wollt, ohne Rücksicht auf irgendeine Moral.

"Wir leben in einer Zeit der Verbote, des Tabuisierens und des teilweise übersteigerten Moralisierens."

"Die Vorstellung, dass jeder Künstler ein einwandfreies Leben geführt haben muss, ist vollkommen abwegig."

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