Michel Houellebecq will sich zurückziehen "Ich bin der Autor der totalen Schlaffheit"

Michel Houellebecq, derzeit Frankreichs bekanntester und zugleich umstrittenster Schriftsteller, schrieb eine Mail an den SPIEGEL: Er plane zu verschwinden. Warum, erzählt er in diesem Interview.
Von Romain Leick
Schriftsteller Houellebecq: "Die lateinische Art eben, ermüdend"

Schriftsteller Houellebecq: "Die lateinische Art eben, ermüdend"

Foto: Tim Wegner/ DER SPIEGEL

Sein Verschwinden hatte er schriftlich angekündigt: Zu seinem letzten Interview empfing Frankreichs prominentester und umstrittenster Schriftsteller Houellebecq, 61, während der Buchmesse Ende voriger Woche in seinem Hotelzimmer. Der Autor sprach, wie von ihm gewohnt, ernsthaft und zögerlich, rauchte ununterbrochen und schenkte sich spanischen Rotwein ein. Im Schauspiel Frankfurt hatte er zwei Tage zuvor einen improvisierten Vortrag über den Zustand der europäischen Kultur gehalten. Er habe vor Kurzem beschlossen, so hatte er dem SPIEGEL geschrieben, seine Einlassungen in der Öffentlichkeit einzustellen. Für die Frankfurter Buchmesse und den SPIEGEL mache er eine Ausnahme: Er finde es ziemlich gut, dass sein letztes Interview "dans mon magazine préféré" (in seinem Lieblingsmagazin) erscheine.


SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, Sie sind zugleich ein Starautor und ein Skandalautor, der bewundert, geliebt und verabscheut wird. In Deutschland sieht man in Ihnen den radikalsten Schriftsteller unserer Zeit, einen schonungslosen Diagnostiker des Leidens und der Einsamkeit des modernen Individuums. In Frankreich gelten Sie vielen als Provokateur und Schmuddelliterat und stehen im Mittelpunkt unzähliger Polemiken. Wie verstehen Sie diesen Unterschied?

Houellebecq: Schwer zu sagen, ich habe keine schlüssige Erklärung. Vielleicht ertragen die Deutschen, von der Geschichte und der in ihr angehäuften Schuld unvergleichlich viel schlimmer mitgenommen, den Blick in den Spiegel besser. Es kann sein, dass man mich in Frankreich nicht liebt, weil man die Gesellschaft und die Wirklichkeit, die Dürftigkeit und das Elend der Moderne, die ich beschreibe, nicht liebt. Man darf aber nicht den Radiologen für das Entstehen des Krebsgeschwürs verantwortlich machen. Frankreich schätzt die Epoche nicht, in der es lebt.

SPIEGEL: Büßen Sie persönlich für die Negativität Ihrer Romanfiguren?


Im Video: "Die banale Tragödie der Moderne"
SPIEGEL-Redakteur Romain Leick über seinen persönlichen Eindruck von Michel Houellebecq und die Gründe für dessen Erfolg

DER SPIEGEL

Houellebecq: Die französischen Journalisten sind oft wie besessen von der Frage, wie viel von mir in meinen Protagonisten steckt. Deshalb schnüffeln sie in meiner Biografie und sogar in meiner Unterwäsche. Sie sind die moralischen Hohepriester einer Zeit ohne Religion und Moral. Sie wollen haftbar machen, zur Rechenschaft ziehen, verurteilen und bestrafen. Deshalb versucht man, mich als Nihilisten und Reaktionär abzustempeln. Man erhebt mich zum Propheten, um mir anzulasten, was kommt. Meiner Erfahrung nach sind die deutschen Journalisten viel ernsthafter bei der Sache, wenn sie ein Buch vorstellen. Man soll sich vor Allgemeinheiten hüten, ich jedenfalls habe sehr viel weniger schlechte Erfahrungen mit deutschen als mit französischen Journalisten gemacht.

SPIEGEL: Danke für das Kompliment, aber...

Houellebecq: Bin ich deprimiert, oder ist die Welt deprimierend? Für die deutschen Medien scheint die Unterscheidung klar, für die französischen werde ich mich wohl nie von der Sünde der Verzweiflung lossagen können. Ich ziehe die Medien an, weil ich medienuntauglich bin.

SPIEGEL: Sind Sie ein germanophiler Autor?

Houellebecq: Ja, schon. Jedenfalls habe ich eine bessere Kenntnis der deutschen Literatur und Philosophie als die meisten meiner Kollegen.

SPIEGEL: Wie kam es dazu?

Houellebecq: Als einen der ersten Deutschen habe ich Friedrich Nietzsche gelesen. Seine Geisteskraft imponierte mir, obwohl ich seine Philosophie unmoralisch und abstoßend fand. Ich hätte gern sein Fundament zertrümmert, wusste aber nicht, wie ich es intellektuell anstellen sollte. Als ich 25 oder 27 Jahre alt war, entdeckte ich Arthur Schopenhauer - eine Erleuchtung, eine wirkliche Erschütterung. Auch liebe ich die deutschen Romantiker sehr, Novalis, Kleist vor allem. Die deutsche Romantik verbreitete sich damals so unwiderstehlich wie der Rock 'n' Roll in den Fünfzigerjahren. Zu Recht.

SPIEGEL: Sie haben für Ihre Hommage an Schopenhauer Passagen aus seinem Werk selbst ins Französische übersetzt(**). Aber Sie sprechen kein Deutsch?

Houellebecq: Ich traue mich nicht, nicht mehr. Ich könnte keine ordentlichen deutschen Sätze bilden. Aber ich könnte unter Umständen Deutsch lesen, wenn ich nicht so ein Faulpelz wäre.

SPIEGEL: In der Europäischen Union sind Deutschland und Frankreich so aufeinander fixiert wie keine anderen Länder. Aber jenseits aller rituellen Freundschaftsbezeugungen - wie weit kennen sich die beiden Nationen wirklich, die man gern als unzertrennliches Paar beschreibt?

Houellebecq: In Frankreich redet man über Deutschland mehr als über alle anderen europäischen Länder zusammengenommen. Das ist verblüffend. Doch ich glaube, die Deutschen kennen die Franzosen besser als umgekehrt, schon weil sie öfter nach Frankreich kommen als die Franzosen nach Deutschland.

SPIEGEL: Damit meinen Sie aber jetzt die Touristen und nicht die Truppen des Kaisers oder der Wehrmacht?

Houellebecq: Wieder ein Beispiel dafür, dass der Deutsche sich selbst misstraut. Nein, was ich meine, das geht viel weiter als der gewöhnliche Tourismus. Viele Deutsche kaufen sich eine Wohnung oder ein Haus und lassen sich in Frankreich nieder. Die Franzosen wissen dagegen wenig von den Deutschen. Sie sind von ihnen beeindruckt, aber sie beneiden sie nicht. Deshalb ist die Beziehung ziemlich gut, obwohl der Vergleich der beiden Länder immer zum Nachteil Frankreichs ausfällt. Die übertriebene Selbstentwertung der Franzosen bringt sie nicht dazu, die Deutschen zu hassen, sondern sich selbst zu verachten.

SPIEGEL: Das betrifft allenfalls die Wirtschaftskraft, nicht die kulturelle Ausstrahlung. Frankreich ängstigt sich vor dem industriellen Niedergang.

Houellebecq: Das ist keineswegs eine eingebildete Gefahr.

SPIEGEL: Der französische Philosoph und Kulturanthropologe René Girard hat das Verhältnis beider Länder zueinander seit Napoleon und Clausewitz als "mimetische Rivalität" beschrieben, die ständigen Konfliktstoff erzeuge.

Houellebecq: Das überzeugt mich nicht. Der Blick auf Deutschland hält die Franzosen dazu an, sich zu berappeln. Das war schon nach der Niederlage von 1871 so. Sie sind sich des Umstands bewusst, nicht ernsthaft, nicht tüchtig genug zu sein. Sie erleben sich als dem lateinischen Raum zugehörig, also als zweitklassig.

SPIEGEL: Aber lateinisch sind sie doch auch!

"Eine Religion, ein wahrer Glaube, ist sehr viel mächtiger in der Wirkung auf die Köpfe als eine Ideologie."

Houellebecq: Darüber kann man streiten. Die Franzosen sehen sich seit einigen Jahren als kaum besser als die Griechen. Frankreich ist zwischen dem Norden und dem Süden Europas hin und her gerissen. Kein ausgeglichenes Land. Zerknirschung und Prahlerei liegen nah beieinander.

SPIEGEL: In der Kultur ist der Auftritt ziemlich glanzvoll, wie man gerade auf der Frankfurter Buchmesse feststellen konnte.

Houellebecq: Die Literatur ist aber nicht das wichtigste Anliegen für die Mehrheit der Bevölkerung. Viele Länder sind stolz auf ein nationales Schmuckstück. Nehmen Sie die Automobilindustrie. Es ist so, dass ein Franzose, der Geld hat, ich zum Beispiel, kaum ein französisches Auto kaufen wird. Was würde geschehen, wenn die deutsche Autoindustrie zusammenbräche?

SPIEGEL: Eine nationale Katastrophe!

Houellebecq: Und eine der nationalen Moral obendrein, weil sie ein Symbol deutscher Tüchtigkeit ist und daher an das Selbstwertgefühl rührt. Die Amerikaner können es sich dagegen leisten, ihre Autohersteller in die Zweitklassigkeit absinken zu lassen.

SPIEGEL: In Ihren Romanen, in "Karte und Gebiet" oder "Unterwerfung", beschreiben Sie liebevoll die schönen deutschen Limousinen und SUVs, die Ihr Erzähler fährt. Haben PS-starke deutsche Autos es Ihnen angetan?

Houellebecq: Ich habe ja eine Ingenieursausbildung. Ich fahre gern Auto, die französischen Autobahnen sind ausgezeichnet, die deutschen inzwischen weniger. Aber was ich eigentlich sagen will: Es gibt bestimmte nationale Symbole, die kein Land fallen lassen würde. Dazu gehört für die USA die kulturelle Vorherrschaft. Eher würden sie das Silicon Valley zusammenbrechen lassen oder an China verscherbeln als Hollywood. Man kann den Amerikanern vieles vorwerfen, aber entgegen allen gängigen Vorurteilen wissen sie um die hegemoniale Bedeutung der Kultur. So seltsam es ist, die europäischen Länder, die so stolz auf ihre alte Kultur sind, scheinen sie manchmal zu vergessen.

SPIEGEL: In der Literatur kann Europa doch, anders als im Film, ganz gut mithalten?

Houellebecq: Haben Sie den Auftritt eines Erfolgsautors wie Dan Brown auf der Buchmesse erlebt? Was für ein Aufwand, was für eine Bugwelle! Die Europäer lesen ihre jeweiligen nationalen Autoren und ansonsten überwiegend Übersetzungen aus dem Englischen. Sie lesen einander zu wenig. Aber ganz sicher wird es Europa nicht geben, wenn es keine europäische Kultur gibt. Und der europäischen Kultur geht es derzeit nun einmal nicht sonderlich gut.

SPIEGEL: Die USA haben begriffen, was für ein Machtmittel die Kultur ist?

Houellebecq: Die amerikanische Kultur hat zum Zusammenbruch des Sowjetkommunismus mehr beigetragen als der Rüstungswettlauf des Kalten Kriegs oder die Verlockungen der Konsumgesellschaft. Wenn zu Gorbatschows Zeiten amerikanische Filme anliefen, bildeten sich endlose Warteschlangen vor den Kinos in Russland.

SPIEGEL: Könnte die amerikanische, überhaupt die westliche Kultur auch über den Islam triumphieren?

Houellebecq: Es ist meine tiefe persönliche Überzeugung, dass eine Religion, ein wahrer Glaube, sehr viel mächtiger in der Wirkung auf die Köpfe ist als eine Ideologie. Der Kommunismus war eine Art falsche Religion, ein schlechter Ersatz, kein wahrer Glaube, obwohl er sich so inszenierte, mitsamt einer eigenen Liturgie. Eine Religion ist sehr viel schwieriger zu zertrümmern als ein politisches System. Die Religion hat eine Schlüsselfunktion in der Gesellschaft und für deren Zusammenhalt, sie ist ein Motor der Gemeinschaftsbildung. Der Islam wird widerstehen.

SPIEGEL: Was kann das säkulare, laizistische Europa, in dem das Christentum mehr und mehr verblasst, dagegen aufwenden?

Houellebecq: Es gibt eine bemerkenswerte Wiederkehr des Katholizismus in Frankreich. Es ist ein Phänomen, das ich fühle, ohne es wirklich zu verstehen, und es ist weniger reaktionär, als vielfach behauptet wird. Getragen wird es zum Beispiel von den sogenannten Charismatikern, die ihre Gottesdienste in Happenings, in Gefühlsergüsse verwandeln, wie es auch Pfingstler oder Evangelikale tun. Die Demonstrationen gegen die Ehe für alle und das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare haben die Politik durch ihre Massenmobilisierung überrascht. Niemand hätte derlei für möglich gehalten. Die Katholiken in Frankreich sind sich ihrer Stärke so wieder bewusst geworden. Das war wie eine unterirdische Strömung, die plötzlich zutage trat. Für mich einer der interessantesten Momente in der jüngsten Geschichte.

SPIEGEL: Wie erklären Sie diesen Moment?

Houellebecq: Ich neige immer dazu, die Dinge materialistisch zu erklären, was zunächst etwas platt und abstoßend wirken mag: Tatsache ist, dass gläubige Katholiken mehr Kinder in die Welt setzen. Und sie vermitteln den Kindern ihre Werte. Das heißt, ihre Zahl wird zunehmen.

SPIEGEL: Das scheint arg biologisch gedacht. Selbst Papst Franziskus meinte, Katholiken müssten sich nicht vermehren wie die Karnickel. Davon abgesehen rebellieren Kinder oft gegen ihre Eltern.

Houellebecq beim SPIEGEL-Gespräch (mit dem Redakteur Romain Leick in einem Hotelzimmer in Frankfurt am Main): "Die deutschen Autoren sollten sich dem erotischen Roman zuwenden"

Houellebecq beim SPIEGEL-Gespräch (mit dem Redakteur Romain Leick in einem Hotelzimmer in Frankfurt am Main): "Die deutschen Autoren sollten sich dem erotischen Roman zuwenden"

Foto: Tim Wegner/ DER SPIEGEL

Houellebecq: Sie irren sich. Die 68er waren die Ausnahme, historisch betrachtet.

SPIEGEL: Die muslimischen Einwandererfamilien sind im Schnitt auch kinderreicher als die einheimischen.

Houellebecq: Ganz genau. Deshalb wird der Anteil der Muslime an der Bevölkerung in Westeuropa weiter wachsen, in Frankreich wie in Deutschland. Und das wird die Ängste vor Überfremdung und Kolonisierung immer weiter nähren.

SPIEGEL: Mit welchen Folgen?

Houellebecq: Das weiß ich nicht. Vielleicht gelingt die Integration, obwohl diese ja immer Separation zunächst voraussetzt. Aber auch ein Bürgerkrieg liegt im Bereich des Möglichen, wie ich es in meinem Roman "Unterwerfung" beschrieben habe. Ich bin übrigens der Meinung, dass die Integration der Muslime sehr viel besser funktionieren würde, wenn der Katholizismus Staatsreligion wäre. Mit dem zweiten Platz als respektierte Minderheit in einem erklärt katholischen Staat würden sich die Muslime sehr viel leichter abfinden als mit dem jetzigen Schwebezustand. Womit sie nämlich nicht zurechtkommen, sind die säkulare Gesellschaft und der laizistische Staat, der eine Religionsfreiheit vertritt, die sie nicht verstehen und die sie als Instrument der Religionsbekämpfung empfinden - was sie in Frankreich, historisch gesehen, auch war. Da können die Muslime noch so tief in den Koran hineinsteigen, sie finden keine Anleitung für den Umgang damit. Der Prophet Mohammed konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass es so etwas wie einen Atheisten gibt.

SPIEGEL: In der Flüchtlingskrise haben französische und andere europäische Politiker den Deutschen unterstellt, nach der moralischen Vorherrschaft in Europa zu greifen. Was sind für Sie deutsche Tugenden?

Houellebecq: Ich hänge das viel tiefer. Die Deutschen sind einfach bei Weitem besser organisiert, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ich habe die Erfahrung bei meinen Besuchen selbst gemacht: Die Deutschen planen rational, die Franzosen lassen es bis zum Schluss darauf ankommen, dass es schon gut gehen wird. Die lateinische Art eben. Ermüdend.

SPIEGEL: Mit Verlaub, deutsche Disziplin, ist das nicht ein albernes Klischee?

Houellebecq: So? Ihr Problem ist, dass Deutschland sein eigenes Klischee nicht mag. Deshalb versuchen die Deutschen seit geraumer Zeit, die Vorstellung ihrer selbst als seriöse, kompetente, gut organisierte Leute zu widerlegen.

SPIEGEL: Was auch unschwer gelingt. Vielleicht mögen die Deutschen sich jenseits des Klischees ja selbst nicht?

Houellebecq: Sie wären gern Italiener! Die Italiener haben jedenfalls keine Schwierigkeiten mit ihren Klischees, sie lieben sie.

SPIEGEL: Die Deutschen wären gern ein liebenswertes Volk.

Houellebecq: Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Franzosen die Deutschen nicht lieben. Sie lieben sie jedenfalls mehr als die Engländer. Wenn ein Deutscher sich in einem französischen Dorf ein Haus kauft, schmeißt man ihm in der Regel nicht die Scheiben ein, obwohl die Dörfler, besonders in der Provence, nicht wirklich zugänglich oder aufnahmebereit gegenüber Fremden sind. Die Deutschen geben sich ja auch meistens viel Mühe mit den Einheimischen. Nein, glauben Sie mir, Sie sind in Frankreich keine ungeliebten Gäste.

SPIEGEL: Ist das Verhältnis nicht immer zwiespältig gewesen, gerade auch im politischen Umgang? Die Deutschen werden als ökonomisches Vorbild dargestellt, doch man sucht auch eifrig nach Schwachstellen im deutschen Modell. Der extremen Linken unter Jean-Luc Mélenchon wie der extremen Rechten unter Marine Le Pen dient die Kanzlerin als willkommene Buhfrau.

Houellebecq: Das stimmt. Berlin übernimmt die Funktion des Sündenbocks. Der wahre Zorn gilt der Brüsseler Eurokratie, für die die deutsche Regierung den Kopf hinhalten muss. Ich habe nie daran geglaubt, dass der nationale Souveränitätswille vergehen würde. Die Vereinigten Staaten von Europa wird es nie geben, da verfolgte man lange eine Schimäre. Um es unverblümt zu sagen: Die Unabhängigkeitsbestrebungen setzen sich auf mittlere und längere Sicht immer durch.

SPIEGEL: Also demnächst in Katalonien? Sie kennen Spanien, Sie haben eine Zeit lang dort gelebt.

Houellebecq: Ja, die Katalanen werden gewinnen. Der Wunsch nach Unabhängigkeit erlischt nie. Er kann zwischendurch einschlafen, aber er wird wieder aufwachen. Auch in Schottland. Die Zentralregierung in Madrid hat dagegen keine Chance. Sie sollte die Katalanen ziehen lassen.

SPIEGEL: Frankreich ist das Gegenbeispiel - ein zentralistischer Staat, der alle Regionalismen erfolgreich unterbunden hat. Selbst Korsen und Basken halten still.

"Dass Deutschland nun eine rechtsextreme Partei im Parlament hat, beweist, dass es normal wird."

Houellebecq: Momentan ja. Der Wille zur Macht, den das Königshaus der Kapetinger aufgebracht hat, ist in der Geschichte absolut außergewöhnlich. Persönlich bedaure ich den Sieg des Zentralismus ein wenig, aber Fakt ist, dass Frankreich eine Einheit ist und immer bleiben wird. Das ist eine politische und zivilisatorische Leistung, die nur wenigen Nationen gelungen ist. Deutschland gehört nicht dazu. Deshalb kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Frankreich jemals ein föderales Europa akzeptieren wird.

SPIEGEL: Der neue Präsidenten Emmanuel Macron will sich an die Spitze einer europäischen Erneuerung setzen. Gibt er damit Frankreich sein verlorenes Selbstbewusstsein wieder?

Houellebecq: Die Stimmung ändert sich. Der Hang zur Selbstgeißelung lässt nach. Ob das nachhaltig ist, hängt vom wirtschaftlichen Erfolg ab. Macron hatte während der Wahlkampagne eigentlich nur ein einziges Thema, das im Grunde gar kein Sachthema war: eine Ode an den Optimismus. Diese Beschwörung hat gewirkt, dank seiner Jugend und seiner atypischen Persönlichkeit.

SPIEGEL: Ist die Stimmung in Frankreich gar nicht so skeptisch, wie es den Anschein hat und wie auch Sie zu glauben scheinen?

Houellebecq: Das Verhältnis der Franzosen zu Europa ist völlig paradox. Das muss man betonen, denn es ist erstaunlich: Die Franzosen sind gegen Europa, aber für den Euro. Warum? Allein aus dem Grund, dass sie sich selbst nicht trauen. Sie sind überzeugt, dass sie ohne den Euro und seine Sicherheit im Schlamassel versinken werden, dass die Schulden ihnen über den Kopf wachsen. Sie betrachten sich nicht als fähige Haushälter, und vielleicht stimmt das ja auch, die Zahlen scheinen es zu bestätigen. Es ist eine unsinnige Haltung: Sie wollen den Euro, aber am liebsten ohne die Zwänge, die mit ihm einhergehen.

SPIEGEL: Worin gründet die Faszination, die Macron über Frankreich hinaus ausübt

Houellebecq: Er ist ein seltsamer Mensch. Ich habe ihn einmal interviewt, als er noch Finanzminister war, bevor seine Sammlungsbewegung "En Marche!" richtig in Gang gekommen war. Und am Ende dieses Gesprächs fand ich ihn immer noch genau so seltsam, irgendwie ungreifbar. Man versteht nicht wirklich, was er denkt. Er lässt sich nicht entschlüsseln. Man kann ihm keine klar formulierte Überzeugung entlocken. Mein Eindruck ist, dass er sich auf seinen eigenen Optimismus reduziert. Er hypnotisiert sich selbst und im selben Zug fast das ganze Land. Insofern war seine Wahlkampagne eine Ansteckungskampagne. Atemberaubend!

SPIEGEL: Kann er damit Frankreich und der EU wirklich neuen Schwung einhauchen, zusammen mit der drögen Frau Merkel, die sich gegen Visionen sträubt?

Houellebecq: Ich bezweifle es. Die depressive Stimmung kommt von der Allgegenwart der Ökonomie, der erdrückenden Übermacht wirtschaftlicher Rationalität. Dafür steht Deutschland, auch im Denken von Macron. Die Ökonomie macht aber nicht glücklich. Man wird umso unglücklicher, je mehr man an sie denkt. Europa hat ein sentimentales Problem. Es löst kaum noch positive Emotionen aus.

SPIEGEL: Wie also weiter?

Houellebecq: Macron probiert es mit Grandezza, er ruft Europa auf: Mir nach! Der Versuch lohnt sich. Immer weniger Franzosen erinnern sich an Charles de Gaulle, aber die Nostalgie des Gaullismus ist ihnen geblieben. Eine gewisse Höhe der politischen Führung, ein bisschen Großsprecherei, republikanischer Glanz, das gefällt, damit kann man verführen.

SPIEGEL: Und Deutschland?

Houellebecq: Wie ich schon sagte, die Deutschen lieben ihre eigenen Vorzüge nicht, zu Unrecht. Dass Deutschland jetzt eine rechtsextreme Partei im Parlament hat, beweist, dass es beginnt, in Europa ganz normal zu werden, mit normalen Sorgen und Interessen. Man könnte fast sagen, dass das eine gute Nachricht ist. Die Deutschen werden doch nicht 300 Jahre in Sack und Asche gehen!

SPIEGEL: So könnte auch die AfD reden.

Houellebecq: Daran ist nichts Gefährliches, jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als anderswo.

SPIEGEL: Macron hat mit seiner Wahl eine breite, neue bürgerliche Mitte konstituiert. Zugleich beginnt sich der Widerstand gegen seine Reformpolitik zu verstärken. Steht Frankreich an einem Wendepunkt?

Houellebecq: Die Linke liegt jedenfalls im Sterben, ihre Ideen sind tot, trotz eines Volkstribuns wie Mélenchon und seiner unbestreitbaren Wortgewalt. Die Wahrheit ist, dass es in Frankreich nur noch die Rechte und die extreme Rechte gibt. Die Linke hat ihre Mobilisierungskraft verloren.

SPIEGEL: Auch unter den Intellektuellen, unter denen der Marxismus bis in die jüngste Zeit quicklebendig war?

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Houellebecq, Michel

In Schopenhauers Gegenwart

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Seitenzahl: 80
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04.06.2023 04.12 Uhr

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Houellebecq: Übrig geblieben ist nur noch ein Altlinker wie Alain Badiou. Das ist alles. Die Wiese ist abgegrast.

SPIEGEL: Und Didier Eribon, der in Deutschland einen großen Erfolg mit seiner "Rückkehr nach Reims" erzielt hat und erklärt, dass Macron nicht sein Präsident sei?

Houellebecq: Ach ja, ich hätte fast vergessen, dass es ihn auch noch gibt. In der Tat.

SPIEGEL: Haben Sie ihn gelesen?

Houellebecq: Nein. Ich habe den Marxismus sterben sehen. Ich habe immer gesagt, dass Romane die Welt nicht verändern können. Aber Solschenizyns "Archipel Gulag" von 1973 hat die Welt verändert. Das Buch war ein Donnerschlag in Frankreich. Für den Marxismus läutete das Sterbeglöcklein.

SPIEGEL: Frankreich galt lange als nicht reformierbar. Kann Macron wirklich das Gegenteil beweisen?

Houellebecq: Ich glaube schon. Es gibt noch Klassen in Frankreich, aber der Klassenkampf findet nicht mehr statt. Die Wähler sind viel weniger blöd und verantwortungslos, als die Medien sie gern schildern. Sie wissen, dass die Schulden und die Defizite nicht endlos steigen können. Deshalb bezweifle ich, dass hinter dem linken Widerstand noch eine große soziale Kraft steht.

SPIEGEL: Ist die Deutungshoheit endgültig nach rechts gewandert? Die Figur des engagierten, radikalen, Feuer spuckenden Intellektuellen gibt es ja noch in Frankreich.

Houellebecq: Ich kann nicht sagen, ob die Rechte den Kampf der Ideen gewonnen hat. Die Medien, die Journalisten stehen überwiegend noch immer auf der Seite der Linken. Auf der anderen Seite gab es aufsehenerregende Bucherfolge rechter Autoren wie Éric Zemmour über Frankreichs angeblichen Selbstmord oder Alain Finkielkraut über die unglückliche Identität. Die Intellektuellen spielen immer noch ihre Rolle in Frankreich, aber ihr Typus verändert sich.

SPIEGEL: Sie begreifen sich nicht als Intellektuellen?

Houellebecq: Nein. Ich bin es objektiv nicht, weil ich die Kriterien nicht erfülle. Ich leite keine Verlagsreihe, bin kein bestallter Kolumnist, habe kein öffentliches Exerzierfeld. Ich bin nicht Teil des Geschäfts der Meinungsproduktion.

SPIEGEL: In Ihren Romanen finden sich viele theoretische Überlegungen wie Essays zur Geschichte. Sie bringen gern soziologische und ökonomische Ausführungen in den Erzählfluss ein.

Houellebecq: Als Schriftsteller bin ich auch Soziologe und Ökonom. Das ist gut so. Der Roman ist heute das bevorzugte Instrument der Gesellschaftskritik. Den theoretischen Essayisten, den Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie ging nach Denkern wie Bourdieu, Deleuze, Derrida, Foucault der Atem aus. Zurzeit kommt da nicht viel. Die "French Theory" hat sich überlebt. Wenn man mich einen Gesellschaftskritiker oder einen Soziologen nennt, meint man es als Kritik an meiner Erzählkunst, an meinem angeblich literarisch ungenügenden Stil. Aber ich fasse das als Kompliment auf. Literatur ohne Ideen, Stil als reine Kunst ist nicht meine Sache. Die Verfechter einer puristischen, schönen, reinen Literatur sind Gaukler, die keine Wahrheit zu sagen haben. Dem französischen Roman geht es gegenwärtig gut, weil er den Kontakt zur Realität der Gesellschaft und zum konkreten Leben hält.

SPIEGEL: Französische Autoren werden in Deutschland gern gelesen. Umgekehrt werden sehr viel weniger deutsche ins Französische übersetzt. Inwieweit kennen Sie die zeitgenössische deutsche Literatur?

Houellebecq: Diese Frage bringt mich in Verlegenheit. Ich kenne Thomas Bernhard und Peter Handke, zwei Österreicher übrigens, und danach nichts mehr. Übersetzungen sollten in Europa stärker öffentlich gefördert werden.

SPIEGEL: Damit lässt sich das Interesse des Publikums nicht erzwingen. Ist den Franzosen die deutsche Wirklichkeit nach der Wiedervereinigung einfach zu weit weg?

Houellebecq: Ich gebe den deutschen Autoren einen guten Rat: Sie sollten sich dem erotischen Roman zuwenden. Die Deutschen sind ja Großmeister der privaten pornografischen Produktion im Internet. Da befindet sich eine Lücke, die zu füllen wirklich Aussicht auf Erfolg, auch kommerziellen, verspricht. Und das meine ich nur halb im Scherz. Das Interesse in Frankreich wäre vorhanden.

SPIEGEL: Ihr Thema ist die Schwierigkeit, wahre Liebe zu finden. Sie sind der literarische Erforscher der Nöte und Ängste der Mittelschicht, die um ihren Status in der Gesellschaft kämpft. Schauen Sie gar nicht auf die Welt der ganz Reichen und der ganz Armen?

"Meine Intuition befindet sich gewissermaßen auf der Suche unterhalb des Vernünftigen."

Houellebecq: Doch, nur kenne ich die untere Mittelschicht eben am besten. Ich bin in meinen literarischen Mitteln leider etwas beschränkter als Balzac, der die ganze menschliche Komödie abbilden wollte. Ich habe Hunderte Notizseiten und Aufzeichnungen über einen Banker angefertigt, der mir sein Leben erzählte, einen wichtigen Mann aus der Finanzwelt, der zu meinen treuen Lesern gehört. Ich habe nichts daraus gemacht, und ich glaube nicht, dass ich es noch tun werde.

SPIEGEL: Und was ist mit dem anderen Ende der sozialen Leiter? Wer befasst sich mit dem Frankreich von ganz unten?

Houellebecq: Das ist eine Schwäche, davon gibt es zu wenig in der literarischen Produktion der Gegenwart. Ich habe schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass der Kriminalroman auf diesem Gebiet der allgemeinen Literatur voraus ist. Der französische Krimi ist sehr gut geworden. Früher hatten seine Autoren eine linke Grundhaltung. Das hat sich geändert. Die Grenzen des Genres sind gesprengt. Es gibt inzwischen sogar Krimis ganz ohne Polizei, man stelle sich vor. Ich halte das für einen Ausdruck von geschärftem Realismus: Es gibt tatsächlich Zonen, aus denen die Ordnungsmacht praktisch verschwunden ist.

SPIEGEL: Ist Frankreich, in dem der Ausnahmezustand herrscht, nicht schon fast ein Polizeistaat?

Houellebecq: Da fragen Sie mal die Polizisten. Ich habe mit vielen gesprochen, weil ich nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" im Januar 2015 ein Jahr lang Polizeischutz genoss. Die Polizei ist hochgradig unzufrieden, ihre Mittel und ihre Ausrüstung sind unzulänglich, sie hat den Eindruck, dass der Staat teilweise kapituliert und ganze Territorien aufgegeben hat. Meiner Meinung nach hat sie nicht unrecht.

SPIEGEL: Der französische Roman war mit Balzac und Zola schon im 19. Jahrhundert fest in der sozialen Realität verankert. Erhalten Sie diese Tradition aufrecht?

Houellebecq: Die Messlatte liegt sehr hoch. Das ist ein Ruhmeskapitel der französischen Literaturgeschichte. Balzac wollte wirklich die ganze Gesellschaft abbilden, und er hat es beinahe geschafft. Zola führte die Recherche, die Dokumentation in den Roman ein. Und Maupassant befasste sich auch mit Menschen, die ganz unten angekommen waren.

SPIEGEL: Fehlt heute dagegen ein Marcel Proust, der sich den höheren Ständen widmete?

Houellebecq: Proust gelang eine feine Gesellschaftsanalyse. Was die Leser bei ihm lieben, ist die raffinierte Boshaftigkeit, mit der er die Zusammenkünfte und Konversationen der sogenannten besseren Kreise beschreibt. Bei ihm steht nicht die menschliche, sondern die mondäne Komödie im Mittelpunkt.

SPIEGEL: Neben Ihnen beschäftigt sich eine Erfolgsschriftstellerin mit den Nöten der Mittelschicht: Yasmina Reza. Teilen Sie mit ihr die Vorliebe für die Tragödien der Banalität?

Houellebecq: Wir schätzen einander sehr. Aber meine Personen sind noch kaputter. Sie beschreibt Paare, die sich bekriegen und zerreißen. Bei mir gibt es nicht einmal mehr dafür genug Leidenschaft. Ich bin der Autor der totalen Schlaffheit.

SPIEGEL: Dennoch glauben Sie an die Möglichkeit der Liebe?

Houellebecq: Ja. Ich kann mich mit der Idee der Unbeständigkeit, der Flüchtigkeit nicht abfinden. Darin liegt ein heroischer Pessimismus. Man sollte sich nicht zu viele Illusionen über das Leben machen. Das Schwinden, das Überwinden aller Illusionen ist nicht unbedingt etwas Schlimmes, es ist im Gegenteil ein gesunder Pessimismus, der allerdings eine Portion Heldenmut erfordert. Das habe ich bei Schopenhauer gefunden. Philosophisch ist diese Haltung nicht weit vom Buddhismus entfernt.

SPIEGEL: Der auch für Sie, wie für Schopenhauer, eine Verlockung war?

Houellebecq: Ja, aber es war nur ein Moment, der vorübergegangen ist. Ich glaube, ich bin zu romantisch, um buddhistisch zu sein.

SPIEGEL: Schopenhauer liebte seinen Pudel, Sie liebten Ihren Corgi Clément. Sie haben ihm sogar ein Denkmal gesetzt. Haben Sie sich wieder einen Hund angeschafft?

Houellebecq: Nein, ich lebe ja seit einigen Jahren in Paris, und Paris ist für Hunde die Hölle. Das ist ein Skandal. Überall ist der Zutritt für Hunde verboten. Wozu gibt es öffentliche Parkanlagen, wenn Hunde nicht hineindürfen? Frankreich ist in dieser Hinsicht ein äußerst ärgerliches Land, mit einer lachhaften Leidenschaft für die Regulierung des täglichen Lebens.

SPIEGEL: Ein finsteres und von der Verwaltungsbürokratie beherrschtes Land, haben Sie einmal geschrieben.

Romancier Houellebecq: "Nicht Teil des Geschäfts der Meinungsproduktion"

Romancier Houellebecq: "Nicht Teil des Geschäfts der Meinungsproduktion"

Foto: Tim Wegner / DER SPIEGEL

Houellebecq: Das stimmt mehr denn je, und auch Macron wird daran nichts ändern.

SPIEGEL: Offenkundig haben Sie eine anarchistische Seite. Ihre Romane sind subversiv, aber im intellektuellen Diskurs werden Sie als Neoreaktionär stigmatisiert. Macht Ihnen das was aus?

Houellebecq: Ich war zufrieden damit, es war fast eine Ehre, denn ich befand mich damit in guter Gesellschaft. Das Wort neoreaktionär jagt heute in Frankreich keinem mehr einen Schrecken ein. Die Linke ist hierzulande wirklich bösartig geworden. Man wird jedes Mal angeklagt, wenn man etwas sagt. Man wird unter Beobachtung gestellt. Die linken Gesinnungswächter sind seit einiger Zeit wahrhaft unausstehlich geworden. Sie verhalten sich wie ein Tier, das in der Falle sitzt und fühlt, dass es bald zu Ende ist.

SPIEGEL: Auch wenn es Ihnen schmeichelt, als reaktionär gescholten zu werden, so sind Sie doch ebenso wenig eine Ikone der Rechten.

Houellebecq: Die Bourgeoisie mag mich nicht, weil sie sich durch mich besudelt fühlt - zu viel Sex -, und die harte, eingefleischte Rechte mag mich nicht, weil ich ihre Heldenverehrung ganz und gar nicht teile. Ich bin nicht der neue Louis-Ferdinand Céline. Ich möchte um keinen Preis so schreiben wie Céline, sein Stakkato, seine Atemlosigkeit, seine Punktierung, sein Stil - das alles gefällt mir überhaupt nicht.

SPIEGEL: Anders als Céline hassen Sie nicht.

Houellebecq: Ich bin nicht einmal aggressiv. Die kulturelle Rechte in Frankreich lehnt mich ab, weil ich nicht zu ihren Husaren oder Neohusaren gehöre. Ich stehe überhaupt nicht in ihrer Tradition, die bis in die Vierzigerjahre zurückreicht. Viele von ihnen waren Kollaborateure wie Céline oder Paul Morand, ein übler Dreckskerl.

SPIEGEL: Lässt sich die in Deutschland wie in Frankreich wiederentdeckte Bewunderung für Albert Camus damit erklären, dass er schon früh eine nicht marxistische, humanistische Linke vertrat?

Houellebecq: Da es mit dem Marxismus und Sartre vorbei ist, bleibt Camus als Galionsfigur eines linken Milieus, das noch immer über seine Machtpositionen in den Medien und im öffentlichen Diskurs verfügt. Mein Fall ist er nicht, ehrlich gesagt. Seine Theaterstücke sind grottenschlecht, in den Romanen finden sich einige schöne Sätze, viel mehr nicht, und seine Philosophie des Absurden ist idiotisch; sie reicht nicht an Samuel Beckett heran.

SPIEGEL: Glauben Sie an die Renaissance der europäischen Kultur?

Houellebecq: Ich würde sie mir wünschen. Wenn ich an die europäische Kultur glaube, so doch nicht an die europäische politische Union. Eine Kultur kann ohne Staat existieren. Es gab eine deutsche Kulturnation, bevor es einen deutschen Nationalstaat gab, und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn es so geblieben wäre. Gleiches gilt für Italien. Es ist ein Irrweg, Europa über die politische Union zusammenzuführen. Die Kulturgemeinschaft wäre vielversprechender. Der kulturelle Imperialismus der angelsächsischen Welt lässt sich nicht bestreiten. Da rede ich ausnahmsweise wie ein Linker.

SPIEGEL: Sie haben vor diesem Gespräch angekündigt, dass es Ihr letztes Interview sein werde. Warum haben Sie sich entschieden, in der Öffentlichkeit künftig zu schweigen?

Houellebecq: Ich bin mir bewusst geworden, dass ich das, was ich wirklich gern sagen möchte, nicht wirklich ausdrücken kann. Es gibt sehr viele Dinge, die mich bewegen, aber zu wenig rational sind, als dass ich sie formulieren könnte. Meine Intuition befindet sich gewissermaßen auf der Suche unterhalb des Vernünftigen.

SPIEGEL: Das klingt sehr geheimnisvoll. Sie verstummen nicht aus politischen Gründen, um Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen oder Bedrohliches zu vermeiden?

Houellebecq: Die Scherereien, die ich bekommen könnte oder schon bekommen habe, sind nebensächlich. Es geht vielmehr um formale, um ästhetische Formen und Betrachtungen. Das, worüber man schreiben kann, erstreckt sich viel weiter als das, worüber man sprechen kann.

SPIEGEL: Wird es bald einen neuen Roman von Ihnen geben?

Houellebecq: Ich arbeite daran. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, aber ja, es wird einen neuen Roman geben. Ich bin nur noch nicht weit genug, um das Ende absehen zu können.

SPIEGEL: Und vor allem kein Wort über den Inhalt?

Houellebecq: Bloß nicht!

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, wir danken Ihnen für dieses letzte Gespräch.

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