Verharmloste Nazi-Skinheads Echte Männer, geile Angst

In "Deutschboden" zeichnete der Bestsellerautor Moritz von Uslar ein sympathisches Bild von den Bewohnern einer ostdeutschen Kleinstadt. Unsere Autorin hat die Protagonisten anders in Erinnerung. Sie ist mit ihnen aufgewachsen.
Foto: Gordon Welters / DER SPIEGEL

Herbst 2017. Der Wind fegt ruppig altes Laub durch die Kleinstadt. Berlin ist nah und weit, weit weg. Ein Junge überquert die Hauptstraße. Er fällt auf. Er ist nicht weiß. Aus einer der Wohnungen über der Gaststätte Schröder ruft ihm jemand etwas zu. Die Kneipe ist berühmt. Sie kam in einem Buch vor, auch im nachfolgenden Film. Der Junge schaut hinauf, lacht in Richtung der Stimme. Eine Zigarette segelt hinab, landet direkt zu seinen Füßen. Er nimmt sie auf, winkt nach oben, läuft weiter in Richtung Zugbrücke. Eine Geste unter Freunden.

Das war nicht immer so. "Neger" - in den Wohnzimmern und an den Kneipentischen der kleinen Stadt benutzen sie weiterhin das Wort. Normal. Nachdem die Kinder das Asylbewerberheim am zweiten Jahrestag der Deutschen Einheit angezündet hatten, damals, gab es lange keine Fremden mehr im Ort. Die ehemaligen Kollegen der Väter, Vertragsarbeiter aus Angola und Mosambik, waren ausgewiesen worden. Man hatte sich manchmal einen Spaß daraus gemacht, sie durch die Stadt zu jagen und in die Havel zu werfen: "Kohlen fliegen gut."

Die Stadt heißt Zehdenick. Als ich dort geboren wurde, war die Republik gerade 25 Jahre alt geworden. Es gab noch Hoffnung. Die wurde zwölf Jahre später unter dem Fallout aus Tschernobyl erstickt. Die Lüge war nicht mehr zu überhören. Ich war gerade Thälmann-Pionier geworden. Vom Überfall auf die Ostberliner Zionskirche, zu dem sich Nazi-Skins aus Ost und West verkumpelt hatten, erfuhren wir so wenig wie von der tödlichen Strahlung am Tag des Super-GAUs. Im Jahr meiner Jugendweihe fiel die Mauer, mit ihr die Hemmung. Auch bei uns. Nachbarjungs, Mitschüler, Freundinnen marschierten diesmal freiwillig. Als hätte über Jahre angestaute Wut von ihnen Besitz ergriffen, tobten sie über das untergehende Land.

Nach der Evakuierung des Asylbewerberheims Anfang der Neunziger, als keine Menschen anderer Hautfarbe mehr da waren, haben sie uns gejagt, mich und meine Freunde. Sie nannten uns Zecken, und wir kapierten erst nicht, was sie meinten. Es ging ihnen auch nicht um unsere politische Haltung. Hatten wir überhaupt eine? Wir waren Mädchen mit kurzen und Jungs mit langen Haaren. Wir trugen keine Hakenkreuze zur Schau. Machten nicht mit bei dieser neuen Uniformierung. Ekelten uns vor den Sexsymbolen, vor deren Niedertracht, vor dem neuen Pop-Phänomen: die mit den Springerstiefeln küssen. Sie wurden die Stars der Schulhöfe. Nicht nur im Osten.

Strassenszene in Zehdenick

Strassenszene in Zehdenick

Foto: DER SPIEGEL

Die Straßen und öffentlichen Plätze waren nun besetzt von Glatzen-und-Seitenscheitel-Banden. Gemeinsam mit ein paar anderen versuchte ich, mich zu wehren, arbeitete nach der Schulzeit als Lokalreporterin. Wurde mehr und mehr zur Zielscheibe organisierter Angriffe. Als mich 1998 eine Jugendklubleiterin warnte, sie würden, in Autos patrouillierend, nach mir suchen, floh ich schließlich, so wie alle anderen Unerwünschten, nach Berlin. Ich war froh, dort nur zur Untermiete zu wohnen. So musste ich meinen Namen nicht an die Klingel schreiben. Die nicht weggehen konnten oder wollten, suchten den Schutz der Gärten und Wohnzimmer, das Vergessen im Rausch. Manche gingen langsam, manche schneller zugrunde. Die Jäger und Angstmacher jener Jahre gingen nicht. Sie wurden Väter - Steuerberater, Handwerker, Sozialarbeiter. Andere Berufstrinker. Blieben unter sich.

Der Autor Moritz von Uslar hat einen Teil dieser Szenerie in seinem Buch "Deutschboden" eingefangen, das 2010 erschien. In dieser "teilnehmenden Beobachtung", wie es im Untertitel heißt, findet er seine Protagonisten in der Kneipe Schröder, hält sie regelmäßig frei, verfällt ihnen zunehmend. Er betreibt, fasziniert von diesen edlen Wilden und mit dem verklärenden Blick des Berliner Szenegängers, ihre Wiedergutwerdung. Das sind nämlich gar keine Nazis, wie alle immer behaupten würden. Nur kernige Prolls. Echte Kerle, mit Tätowierungen und Muskeln, mit denen er enthemmte Bandproben in einem verwaisten Schulhaus erlebt, mit denen ein Mann ein Bier trinken kann oder auch sechs. Manchmal hat er trotzdem Angst, "geile Angst", "richtig schönen Schiss". Protagonist Rampa diktiert Uslars Reporter-Ich: "Wir waren schon schlimm. Aber so ganz schlimm - so richtig, richtig schlimm -, das waren wir nicht, das waren die anderen." An anderer Stelle sagt er: "Es hat hier Angstzonen gegeben. Was es in Großstädten wie Leipzig und Dresden nie gab, das hat es hier gegeben: No-go-Areas."

Was genau geschah, bleibt im Ungefähren. Etwa der Überfall auf eine Dorfdiskothek unweit der Stadt. Stadtgespräch, wochenlang. Damals, in der Nacht zum 5. Januar 1992, starb Ingo Ludwig an den Folgen der Stiefeltritte der schlimmen und der richtig schlimmen Jungs. Er hatte nicht ausgesehen wie sie, er hatte auch andere Musik geliebt. Und dann stand er zufällig draußen, als sie den Laden stürmten. Keine unterhaltsame Geschichte. Die letzte aus der Perspektive des Toten. Nichts, was man dem Reporter erzählen würde. Aber der will so was ohnehin gar nicht hören. Er hat einen klaren Plan, mit dem er zu seiner Beobachtung aufbricht: "Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile. Neonazis interessierten mich nicht." Auch in der Stadt interessierten Neonazis niemanden. Darum gab es sie nicht. Wenn wieder einer von uns "aufgeklatscht" wurde, sah das keiner. Keine Zeugen, keine Polizei. Kein Polizeibericht, keine Presse.

Straßenszene in Zehdenick

Straßenszene in Zehdenick

Foto: Gordon Welters / DER SPIEGEL

Seit damals ist viel Wasser die Havel hinabgeflossen. Die Stadt hat sich ein wenig erholt - von der Schließung ihrer Industriebetriebe, von Massenarbeitslosigkeit und spontanen Gewaltausbrüchen. Der wirtschaftliche Aufschwung hat um den Norden des Landkreises Oberhavel keinen Bogen gemacht. Die Arbeitslosenquote liegt unter zehn Prozent. Die Straßen und öffentlichen Plätze sind belebter als zu Beginn der Neunzigerjahre. Vor allem im Sommer, wenn die Touristen kommen.

Die Nachricht allerdings, dass 24 Flüchtlinge am Stadtrand untergebracht werden sollen, sorgte 2015 für Tumulte und Fackelmärsche. Nein zum Heim. Wir sind das Volk. Im Folgejahr wurden in Brandenburg 167 Fälle rechtsextremer Gewalttaten registriert, ein neuer Höchststand. Dabei erfasst die Kriminalstatistik ausschließlich, was zur Anzeige gebracht wird. Darin nicht enthalten sind die Steinwürfe und nächtlichen Böllerkanonaden vorm Zehdenicker Flüchtlingsheim. Die täglichen Schikanen, das Bespucktwerden, das Mit-dem-Auto-gehetzt-Werden. Mitarbeiter des Potsdamer Vereins "Opferperspektive" unterstützten die Betroffenen, auch in Rechtsfragen, etwa als einem Flüchtling aus Eritrea der Zutritt zum örtlichen Fitnessstudio verwehrt wurde. Im Mai dieses Jahres wurden zwei Männer aus Somalia an einer Tankstelle angegriffen und - zu ihrem Schutz - von der Polizei zum Heim zurückbegleitet. Im Sommer wurde ein Pakistaner auf dem Weg zum Heim von Maskierten überfallen, die mit einem Pick-up herangerast kamen. Jagdszenen aus Brandenburg.

Wenige Wochen später trifft sich Moritz von Uslar, sieben Jahre nach seinem Erfolgsbuch "Deutschboden", mit einigen seiner Protagonisten zu einem politischen Stammtisch, geschildert im Feuilletonteil der "Zeit" im Oktober. Es ist die Woche nach der Bundestagswahl, Uslar will mit ihnen über den Wahlerfolg der AfD sprechen. Er schickt voraus, in diesen vier Männern "wahre Freunde" gewonnen zu haben. Er beschreibt ihre Anpassungsleistung, zu der er selbst nicht unwesentlich beigetragen hat - sind die vier doch über "Deutschboden" und die anschließende Verfilmung lokale Berühmtheiten geworden: "Alle vier Männer haben mittlerweile die Aura von ordentlichen Bürgern und ehrbaren Mitgliedern der Gesellschaft (normale Kleidung, dezidiert gute Umgangsformen)."

Man ist sofort im Thema. Nein, AfD-Wähler seien auf keinen Fall Nazis. Nein, normale Bürger. Und Neonazis gebe es ohnehin nicht mehr. Protagonist Drüse: "Wir müssen es wissen. Der harte Kern, das waren ja wir." Ein Satz, ein Argument, eine Begründung, die schon in "Deutschboden" verblüffte. Erneut wird die eigene Zugehörigkeit zur gewalttätigen Nazi-Skinhead-Szene Anfang und Mitte der Neunzigerjahre verharmlost: "Das hat die Wende damals mit sich gebracht, das ging gar nicht anders: Du bist zu Hause geblieben, oder, wenn du auf die Straße gegangen bist, dann warst du rechts."

Die Interviewpartner sind in vier symmetrisch angeordneten Porträts in der Ästhetik lässiger Popstars abgebildet. Diese Bilder sorgen dafür, dass ich mehrere Anläufe brauche, um den Artikel zu lesen. Zwei der Gesichter wecken alte Angst in mir. Die sitzt noch immer direkt unter der Haut. Total ungeil. Ich Opfer - viel weniger unterhaltsam als die leutseligen Männer beim Bier - reiße mich zusammen, versuche, die Fotos zu ignorieren.

Kneipe in Zehdenick

Kneipe in Zehdenick

Foto: Gordon Welters / DER SPIEGEL

Uslar beschreibt einen Spaziergang mit Hund. Bei Erwähnung der Rasse - Staffordshire Bullterrier - erinnere ich mich an eine Geschichte, die damals die Runde machte: Einer der vier habe einen Welpen aus dem Fenster geworfen, weil der einfach nicht scharf wurde. Ein Lamm von einem Hund. Beim nächsten hatte er mehr Erfolg. Den hetzte er auf meinen kleinen Schnauzer, einfach so. Aus Spaß. Um Angst zu machen, Macht zu demonstrieren. Mein Vater rettete unseren Charlie, indem er geistesgegenwärtig zum Gewehr griff und auf den späteren "Deutschboden"-Helden zielte. Lust auf Blut. Angst. Notwehr. Darum war es damals gegangen. Jahrelang. Immerzu.

So eine Atmosphäre verändert eine kleine Stadt nachhaltig. Diejenigen, die sie verbreiteten, setzen sich in Worten ebenso gut in Szene, wie es die Porträts vermuten lassen. Sie haben das Spiel verstanden. Sie erzählen ihre Geschichten. Auch in den Andeutungen, Weglassungen, dem, was sie einander, in Blicken versichernd, beschweigen. Man habe dazugelernt. Nichts mehr gegen Ausländer. Alles nur Menschen. Der interviewte Paul erklärt, die FDP gewählt zu haben, und: "Man kann uns vertrauen. Wir sind keine Antidemokraten. Wir wissen, was wir an der Demokratie haben." So erzählen sie, und Moritz von Uslar schreibt es auf. Bohrt nicht nach. Die Angstverbreiter der Neunziger klingen wie Kriegsveteranen. Geläuterte Helden ihrer eigenen Geschichten. Eine geschlossene Erzählung, in der alles zu einem guten Ende kommt. Alle haben Arbeit. Männerfreundschaft hält.

Autorin Präkels 1991: Edle Wilde, geläuterte Helden

Autorin Präkels 1991: Edle Wilde, geläuterte Helden

Mit Rechten reden? Das passiert unablässig. Auf allen Kanälen. Doch während Reporter fasziniert auf Lippen starren, beschwichtigenden Worten lauschen und reden, reden, reden, geht weiter die Furcht um, draußen vor der Tür. Die Betroffenen leben in Angstzonen, die für all jene unsichtbar sind, die nichts zu befürchten haben. Weiße, ganz ungestörte Gegenden, wo das Absingen des Horst-Wessel-Liedes am Fußballplatz zum Alltag gehört. Die Perspektive der teilnehmenden Beobachtung ist nicht voraussetzungslos. Die Opfer (schon lange ein Schimpfwort) bleiben nicht cool. Sind verletzt, unsichtbar, verstecken sich, finden keine Worte oder können nichts mehr sagen.

Uslar verabschiedet sich von den neuen Freunden: "Es gibt mit diesen im besten Sinn nicht besonderen Jungs noch so unendlich viel zu besprechen." Das Besondere, Auffällige stört den von seinem aufregenden Klubleben erfahrungsgesättigten Reporter. In seinen Worten: Es langweilt. Das unterscheidet ihn von seinen Gesprächspartnern. Die und alle anderen, die damals mitgemacht haben beim Abfackeln, Hassbrüllen und Demütigen, die heute behaupten, dass es sich so gehörte, haben die ethischen und kulturellen Grundlagen des Miteinanders in weiten Teilen des Landes geprägt. Verachtung kann zur Gewohnheit werden, Rassismus zur Konvention, Menschen mit Autos zu jagen zu einer Art Folklore. Wenn das Monströse alltäglich wird, erhält es den Anschein von Normalität. Dann ist auch die Frage, ob einer Nazi ist oder nicht, sinnentleert und erkenntnislos. Denn alles, was dazugehört, ist längst in Fleisch und Blut übergegangen.

Abschiedsbesuch. Die Mutter hat das Haus verkauft. Alles leer geräumt. Sie lädt mich auf einen Kaffee ein. Die Hauptstraße füllt sich. Mittagspause vorbei. Menschen eilen. Hier wird nicht flaniert. Der Junge ist leicht zu entdecken. Er fällt auf. Auf Höhe der Eisdiele wechseln zwei Frauen mit schweren Einkaufstaschen die Straßenseite. Seinetwegen. Sie halten kurz inne und starren ihm hinterher. An der Zugbrücke angelangt, lehnt er sich an das Geländer und zündet die geschenkte Zigarette an. Zieht ein paarmal. Spuckt in weitem Bogen in die Havel. Ein Fahrrad rast heran. Direkt auf ihn zu. Der Junge springt erschrocken zur Seite. Fluchtbereit. Doch dann lachen sie. Reden. Erleichterung.

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