Geheimer Report So schwach ist die Nato

Manöverbeobachter Putin: Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei
Foto: SPUTNIK/ REUTERSDas 2. Kavallerie-Regiment ist einer der ältesten Verbände der US-Armee. Schon 1846 kämpften Soldaten der Einheit gegen die Mexikaner. In den Indianerkriegen zwei Jahrzehnte später geriet ein Teil des Regiments in einen Hinterhalt und wurde skalpiert. 1905 schlugen die Kavalleristen einen Aufstand auf den Philippinen nieder. Die Truppe war in zwei Weltkriegen im Einsatz und wurde mehrmals in den Irak und nach Afghanistan verlegt.
Am 18. Juli 2017 traf die 1. Schwadron des stolzen Regiments auf einen Gegner, dem sie nicht gewachsen war. An der rumänisch-bulgarischen Grenze staute sich der Konvoi der US-Kavallerie vor einem Grenzübergang. "Anderthalb Stunden saßen wir in unseren Panzern in der Sonne und warteten auf irgendwelche Typen, die mit der Hand unsere Papiere abstempeln mussten", zitiert der amerikanische Onlinedienst Defense One Colonel Patrick Ellis, den Kommandeur der Einheit.
Was in Friedenszeiten wie eine Posse wirkt, könnte im Ernstfall die Verteidigungsfähigkeit der Nato infrage stellen. Seit der russischen Annexion der Krim 2014 bereitet sich das westliche Bündnis darauf vor, das eigene Gebiet notfalls wieder gegen einen Aggressor zu verteidigen. Doch die Grenzbürokratien der 29 Mitgliedstaaten bremsen Truppenkonvois vermutlich effizienter aus als jede russische Panzersperre. Und das Problem ist nicht allein die Bürokratie.
Seit Ende Juni kursiert im Brüsseler Hauptquartier der Allianz ein geheimer Report ("NATO SECRET"), der die Schwächen des Bündnisses schonungslos benennt. Unter dem unverfänglichen Titel "Fortschrittsbericht über das verstärkte Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv der Allianz" kommen die Autoren zu einem dramatischen Befund: "Die Fähigkeit der Nato, die schnelle Verstärkung im stark erweiterten Territorium des Verantwortungsbereichs des Oberbefehlshabers für Europa logistisch zu unterstützen, ist seit dem Ende des Kalten Krieges atrophiert."
Atrophie nennen Mediziner den Schwund von Gewebe, der etwa eintritt, wenn ein Arm eingegipst ist. Es dauert lange, bis die alte Funktionsfähigkeit wiederhergestellt ist. 27 Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist die logistische Infrastruktur der Nato offenbar in einem ähnlichen Zustand: nur bedingt abwehrbereit.
Es fehlt an fast allem: an Tiefladern für Panzer, Bahnwaggons für schweres Gerät, modernen Brücken, die einen 64-Tonnen-Koloss wie den Kampfpanzer "Leopard 2" problemlos tragen könnten. Was nützen die teuersten Waffensysteme, wenn sie nicht dorthin verlegt werden können, wo sie benötigt werden? "Insgesamt ist das Risiko für eine schnelle Verstärkung erheblich", heißt es in dem Bericht.
Noch nicht einmal auf die Eingreiftruppe sei Verlass. So wie der Verantwortungsbereich des Nato-Oberbefehlshabers für Europa ("SACEUR") derzeit aufgestellt sei, "gibt es keine ausreichende Sicherheit, dass selbst die Nato-Eingreiftruppe in der Lage ist, schnell und - wenn nötig - nachhaltig zu reagieren".
Der Geheimreport aus Brüssel zeichnet das Bild eines Bündnisses, das nicht in der Lage wäre, einen Angriff aus Russland abzuwehren. Weil es seine Truppen nicht rechtzeitig in Stellung bringen könnte. Weil es in seinen Stäben zu wenig Offiziere gibt. Weil der Nachschub über den Atlantik nicht funktioniert.
Dabei ist die westliche Allianz Wladimir Putins Autokratenregime militärisch (vermutlich) und ökonomisch (mit Sicherheit) weit überlegen. Doch am Ende entschieden in Tausenden Jahren Militärgeschichte oft so unspektakuläre Faktoren wie Nachschub, Versorgung und Logistik über Sieg oder Niederlage. Zwar rechnet kaum jemand damit, dass Russland tatsächlich ein Nato-Land angreifen könnte, doch nur eine funktionierende militärische Abschreckung, davon sind viele in der Allianz überzeugt, wird Putin davon abhalten, politischen Druck auf die Randstaaten des Bündnisses auszuüben. Auf Länder wie Estland, Litauen oder Lettland.
Drei Jahre nach der Krim-Annexion steht die militärische Architektur des Bündnisses deshalb vor einem tief greifenden Umbau. Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei, die Kommandostrukturen des Kalten Krieges kehren zurück. Die Nato soll wieder für eine große militärische Auseinandersetzung gerüstet sein, für eine "MJO+", wie es im Militärjargon heißt. Eine solche "Major Joint Operation Plus" wäre der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags.
Die Allianz müsse in der Lage sein, "schnell einen oder mehrere bedrohte Verbündete zu stärken, Abschreckung in Friedens- und Krisenzeiten zu untermauern und Verbündete im Falle eines Angriffs zu unterstützen", heißt es in dem Bericht.
Und sie müsse befähigt werden, schnell Truppen zu mobilisieren und zu halten, unabhängig von "Natur, Bedarf, Ort oder Dauer der Operation". Dazu seien eine "robuste militärische Logistik und Fähigkeiten" mit Kommunikationslinien notwendig, die von Nordamerika bis zur östlichen und südlichen Grenze des Nato-Territoriums reichten und "innereuropäische Routen" einschlössen.
Die Verteidigungsminister der 29 Nato-Staaten erteilten den Auftrag für eine Reform der Kommandostrukturen schon im Februar. In Zukunft müsse das Bündnis in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig bis zum maximalen "Level of Ambition" durchzuführen, hieß es damals. Militärs nutzen diesen Fachbegriff, um ihren institutionellen Ehrgeiz zu definieren.
Die bisherige Nato-Kommandostruktur würde ihren Zweck "im günstigsten Fall nur teilweise erfüllen und, obwohl sie nie getestet wurde, schnell versagen, sollte sie mit dem vollen Nato-Level of Ambition konfrontiert werden", heißt es in dem Papier. Dieser "Level of Ambition" wird als Kategorie "MJO+" definiert. Im Klartext: Die Nato bereitet sich auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.
Dass die Kommandostrukturen des Bündnisses dafür nicht mehr zeitgemäß sind, ist den Nato-Militärs seit Langem bewusst. Am vorvergangenen Freitag legten sie dem Militärkomitee der Allianz ihre Vorschläge für eine Aufrüstung der Stäbe vor. Nun dürfen sich alle Nationen dazu äußern, Anfang November werden die Verteidigungsminister den Vorschlägen wohl zustimmen.
"Wir wissen, dass wir die Allianz und ihre Kommandostrukturen anpassen und modernisieren müssen", sagt die norwegische Verteidigungsministerin Ine Eriksen Søreide. "Norwegen wird sich dafür einsetzen, dass die Kommandostruktur der Nato relevant und robust bleibt." Und ihr dänischer Kollege Claus Hjort Frederiksen sagt: "Russland hat internationales Recht gebrochen", deshalb müsse die Allianz ihre Strukturen überprüfen. "Die Nato ist nur deshalb das stärkste Verteidigungsbündnis der Welt, weil sie sich seit 70 Jahren ständig an neue Herausforderungen angepasst hat", sagt Frederiksen.
Auch Litauens Ressortchef Raimundas Karoblis fordert eine bessere Organisation zur "Abschreckung und Verstärkung der Nato" in Osteuropa. Die neue Struktur solle das Bündnis in "verwundbaren Regionen wie dem Baltikum" unterstützen.

Transport deutscher Schützenpanzer nach Litauen: Willkommen im großen Papierkrieg der Nato
Foto: Martin Lukas Kim / DER SPIEGELUm die Atrophie, die die Strukturen des Bündnisses befallen hat, zu belegen, reichen schon wenige Zahlen. Vor dem Fall der Berliner Mauer dienten 23.000 Soldaten in den Befehlsständen der Nato, aber damals waren auch Hunderttausende US-Soldaten in Europa stationiert. Die Stäbe hätten im Fall der Fälle in kurzer Zeit Truppen und Material mobilisieren und nach Osten schicken können.
Auch der Nachschubweg über den Atlantik von den USA nach Europa war bestens organisiert. Von 1952 bis 2003 unterhielt die Nato ein festes Kommando für den Transport von Kriegsmaterial nach Europa. Von Norfolk im US-Bundesstaat Virginia aus plante ein amerikanischer Admiral als Supreme Allied Commander jeden Tag für den Ernstfall, also die große Konfrontation mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt.
Dann fiel die Mauer, und es gab einen kurzen Frühling in den Beziehungen zu Russland. Es schien an der Zeit zu sein, endlich abzurüsten und die Friedensdividende zu kassieren. Bis 2011 wurden die Kommandos um 10.000 Mann auf 13.000 geschrumpft. Inzwischen sind es nur noch 6800 Soldaten, die in den beiden Befehlsstäben im niederländischen Brunssum und im belgischen Mons zum Dienst antreten.
Die Schrumpfkommandos reichten der Allianz lange Zeit völlig aus, denn die Armeen des Bündnisses rechneten nicht mehr mit großen Landkriegen. Sie wurden massiv umgebaut, denn jetzt war "internationales Krisenmanagement" angesagt, also kleinere Auslandseinsätze außerhalb des Bündnisgebiets. Landes- und Bündnisverteidigung schienen von gestern zu sein, ein Relikt aus den Zeiten der großen Block-Konfrontation.
Die russische Annexion der Krim 2014 erwischte das Bündnis kalt. Plötzlich war ein Krieg in Europa wieder denkbar und nicht mehr auszuschließen, dass die Russen das Baltikum ins Visier nehmen würden. Naturgemäß war die Sorge in den osteuropäischen Nato-Staaten am größten. Vor allem die Balten und die Polen forderten, dass die Allianz ein Zeichen setzen müsse. Und sie drängten auf die Zusicherung, dass die Nato den Partnern im Ernstfall schnell zu Hilfe eilen würde.
Sie wurden gehört. Auf dem Gipfel 2014 in Wales beschloss das Bündnis, Kampfeinheiten in die vier Randstaaten zu schicken, nach Polen, Litauen, Lettland und Estland. Die "Battlegroups" mit jeweils etwa tausend Mann unter Führung der großen Nato-Partner USA, Deutschland, Großbritannien und Kanada sollen die Funktion eines "Stolperdrahts" übernehmen. Die "Enhanced Forward Presence" ist zu klein, um militärisch wirklich bedeutsam zu sein, aber ein deutliches Zeichen an Russland, dass die Nato entschlossen ist, ihr Territorium auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken des Baltikums zu verteidigen.
Doch die Verlegung nach Osten zeigte auch die Schwächen der Allianz, die jetzt mit dem Umbau der Kommandostruktur teilweise behoben werden sollen. So entschlossen die Nato die Abschreckungspolitik wiederbelebte, so chaotisch verlief die Umsetzung. "Wir mussten feststellen, dass wir ziemlich eingerostet waren", räumt ein Nato-General ein, "das Bewegen von Truppen hatten wir schlicht verlernt."
Die Erfahrungen, die Colonel Ellis vom 2. US-Kavallerie-Regiment im Sommer an der rumänisch-bulgarischen Grenze machte, lassen sich auf das ganze Bündnis übertragen. Alle Länder und oft auch die regionalen und lokalen Behörden müssen Militärtransporte einzeln genehmigen. Einheitliche Formulare gibt es nicht, es reicht nicht, pauschal die Zahl der Fahrzeuge anzugeben, die Behörden bestehen auf den Seriennummern für jeden einzelnen Lkw oder Panzer. Willkommen im großen Papierkrieg der Nato.
Will die Nato Truppen von Stuttgart über Polen nach Lettland zur Abschreckung an die Nato-Außengrenze zu Russland verlegen, muss der Transport wochenlang bürokratisch vorbereitet werden. "Selbst wenn Krieg ausbrechen sollte, bedeutet das nicht, dass die Vorschriften außer Kraft gesetzt werden", sagt General Steven Shapiro, Cheflogistiker der US-Armee in Europa. Und Fachleute wie er wissen, dass es nicht nur die Bürokratie ist, die eine Verteidigung des Bündnisgebiets schwer machen würde.
Der Nachschub muss anders organisiert werden. So entstand die Idee für zwei neue Kommandos mit insgesamt etwa 2000 Mann. Ein neues maritimes Kommando soll in den USA nach dem Vorbild des Supreme Allied Command im Kalten Krieg die sichere Passage von Truppen und Material nach Europa organisieren.
Der Seeweg, glauben hochrangige Nato-Militärs, könnte im Ernstfall eine Achillesferse für den Nachschub werden. In den geheimen Sitzungen zur Kommandoreform warnten Analysten, Russland bewege sich im Atlantik weitgehend unbeobachtet mit U-Booten. Angriffe auf Nato-Konvois mit Truppen seien in der derzeitigen Aufstellung kaum abzuwehren.
Doch auch die Verteilung des Nachschubs in Europa ist problematisch. Das soll nun ein weiteres Kommando übernehmen, dessen Aufgabe es wäre, die Logistik zwischen Mitteleuropa und den östlichen Mitgliedstaaten zu planen und abzusichern. Es ist davon die Rede, die Bewegungsfreiheit sicherzustellen und die Gebiete westlich der Bündnisgrenze besser zu schützen. Was sich technisch anhört, ist in Wahrheit die Renaissance des Mobilisierungskonzepts des Kalten Krieges.
Polen zeigt großes Interesse daran, dieses "Rear Area Operation Command" zu führen. Warschau drängt darauf, dass in Polen möglichst viele permanente Nato-Einheiten stationiert werden. Die polnische Regierung sieht das als ein wirksames Mittel, um Russland abzuschrecken.
Doch die Amerikaner und andere Verbündete haben einen anderen Standort ins Auge gefasst. Deutschland wäre schon aus geografischen Gründen ein idealer Kandidat. Schließlich wäre das Kommando eine Art Drehscheibe für Truppen, die in Bremerhaven oder anderswo in Mitteleuropa anlanden. Anfang Oktober fragten hochrangige US-Militärs informell bei ihren deutschen Kameraden nach, ob sich die Bundeswehr nicht für die neue Aufgabe bewerben wolle.
Auch am Donnerstagnachmittag, beim ersten Telefonat nach der Bundestagswahl zwischen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihrem amerikanischen Kollegen James Mattis, stand die neue Kommandostruktur mit auf dem Programm.
Für Berlin ist die Führung des neuen Logistikkommandos reizvoll. Innerhalb des Bündnisses könnte Deutschland, das immer wieder zu einem stärkeren Engagement für die Allianz gedrängt wird, damit eine wichtige Aufgabe übernehmen.
Innenpolitisch wäre das Projekt selbst in einer möglichen Jamaikakoalition mit den Grünen wohl unproblematisch, denn die Deutschen würden keine Kampftruppen stellen, sondern nur Stabssoldaten. Das ist die Aufgabe, die deutsche Verteidigungspolitiker traditionell am liebsten übernehmen.
Der Brite Richard Shirreff beobachtet aufmerksam, dass die Nato endlich aktiv wird. Der Viersternegeneral war bis 2014 stellvertretender Nato-Oberkommandierender in Europa und damit der höchstrangige europäische Nato-Soldat. Nach seinem Abschied sorgte er für Aufsehen, als er einen Thriller über einen fiktiven Krieg mit Russland veröffentlichte.
Interessant ist das Buch nicht wegen seiner literarischen Qualität, sondern wegen der Botschaft: Nachdem die Allianz seit dem Ende des Kalten Krieges ferne Krisenzonen wie Afghanistan in den Blick genommen hat, müsse sie nun die russische Bedrohung wieder ernst nehmen. Sonst, so Shirreffs Befund, habe die Nato gegen eine Aggression etwa im Baltikum keine Chance. "Es ist höchste Zeit, dass Europa die Annexion der Krim als Weckruf begreift", sagt Shirreff.