Nato-Aufrüstung im Osten "Lernen, den totalen Krieg zu führen"

Politiker und Militärs trommeln für eine Aufrüstung der Nato in Osteuropa. Eine Gegenrede. Von Klaus Wiegrefe
US-amerikanische Nato-Soldaten bei einem Manöver in Polen

US-amerikanische Nato-Soldaten bei einem Manöver in Polen

Foto: Kay Nietfeld / dpa

Josef Stalin, einer der größten Verbrecher der Weltgeschichte, hat sich nicht getraut. Auch sein Nachfolger Nikita Chruschtschow zuckte zurück. Und alle anderen Kremlführer bis zum Untergang der Sowjetunion 1991 ebenfalls. Wird ausgerechnet Wladimir Putin, immerhin einer von drei halbwegs demokratisch gewählten Staatsoberhäuptern in der russischen Geschichte, das Risiko eingehen?

Die Rede ist von einem Angriff auf die Nato. Konkret: auf die baltischen Staaten, die einst von der Sowjetunion annektiert worden waren, nachdem Hitler sie Stalin angeboten hatte. Heute ist die Grenze zwischen den Nato-Mitgliedern Estland, Lettland, Litauen und Polen sowie Russland und seinem Verbündeten Weißrussland 1300 Kilometer Luftlinie lang. Und wenn man die Welt so sieht wie Litauens Verteidigungsminister Juozas Olekas, droht hier große Gefahr. Man könne nicht ausschließen, so Olekas, dass Russland ein grenznahes Manöver für eine Invasion nutze.

Falken wie der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark oder Exbundeswehrgeneral Egon Ramms sprechen vom "Baltic Gap", in Anlehnung an das berühmte "Fulda Gap" während des Kalten Krieges. Dort, im Osthessischen, hatten Nato-Planer einst den großen sowjetischen Panzervorstoß erwartet. Er kam nie. Nun also soll der russische Einfall irgendwo auf der Ebene zwischen dem estnischen Narwa im Norden und dem weißrussischen Brest im Süden erfolgen.

Die Nato hat ihren Willen bekräftigt, konventionell aufzurüsten. Eine schnelle Eingreiftruppe gibt es bereits, jetzt will die Allianz einige Tausend Soldaten in den drei baltischen Staaten und Polen stationieren. Knapp 50.000 Mann sollen im Ernstfall den russischen Angriff zurückschlagen. Und es mehren sich die Stimmen, die noch deutlich mehr verlangen. Derzeit geben die Scharfmacher den Ton an.

Russland sei eine "existenzielle Bedrohung", tönte vor wenigen Wochen Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove, der schon in der Hochzeit der Ukrainekrise als Hardliner auffiel (SPIEGEL 11/2015). Russland sei für Europa eine größere Gefahr als der IS, trommelte kürzlich auch Polens Außenminister Witold Waszczykowski. Und Anfang Juni forderte der dänische Nato-Offizier Jakob Larsen gar öffentlich: "Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen." Larsen kommandiert den neuen Nato-Vorposten in Litauen und weiß offenbar nicht, dass in Deutschland ein Aufruf zum totalen Krieg zuletzt 1943 in der Sportpalast-Rede von Propagandaminister Joseph Goebbels zu vernehmen war.

Es sind solche Äußerungen, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier unlängst veranlassten, vor "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" zu warnen - frei nach dem Bonmot des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, der Krieg sei eine zu ernsthafte Sache, als dass man ihn den Generälen überlassen dürfe. Die Schärfe, mit der Steinmeier dafür kritisiert wurde, zeigt, wie gering die Bereitschaft ist, auch einmal innezuhalten und den Blick zu weiten.

Dabei kann sich der demokratische Westen etwas mehr Gelassenheit durchaus leisten. Denn er ist dem semiautoritären Russland vielfach überlegen: militärisch, wirtschaftlich und politisch.

Aber längst führen einige neokonservative Mitglieder der sogenannten Strategic Community, also jenes kleinen, internationalen Zirkels aus akademischen Strategieexperten, Militärs und Politikern, wieder Debatten über das Führen und Gewinnen begrenzter nuklearer Kriege gegen Russland. "Amerika muss sich auf den ,begrenzten Krieg' vorbereiten", forderte etwa der Wissenschaftler Elbridge Colby vor einigen Monaten, der jahrelang das US-Verteidigungsministerium beriet. Solche Erörterungen gab es zuletzt in den Achtzigerjahren, als Ost und West an der Schwelle zum Atomkrieg standen.

Putin muss sich den Klimasturz größtenteils selbst zuschreiben. Er hat mit der Annexion der Krim das Völkerrecht gebrochen und mit seiner Einmischung in der Ukraine gegen fundamentale Prinzipien verstoßen, die einst zum Ende des Ost-West-Konflikts führten. Seine Paladine haben sogar Dänemark und Polen mit Nuklearschlägen gedroht. Kein Wunder, dass ihm nun alles zugetraut wird, auch das Schlimmste. Allerdings ist es für Putin vergleichsweise leicht gewesen, der zerrissenen Ukraine die Krim abzunehmen. Die Nato dagegen ist die stärkste Militärmaschinerie der Welt, an ihrer grundsätzlichen Überlegenheit zweifeln selbst die lautesten Trommler für eine Nato-Aufrüstung in Osteuropa nicht.

Absolute Sicherheit für eine Seite bedeutet absolute Unsicherheit für alle anderen Mächte.

Denn Moskau spürt immer noch die Folgen der wohl umfassendsten Abrüstung der Weltgeschichte in Friedenszeiten, die mit dem Zerfall der Sowjetunion einherging. Trotz der jüngsten Aufrüstungsbeschlüsse der Ära Putin beträgt der russische Verteidigungsetat nur ein Zehntel des Nato-Budgets. Die Industrie ist rückständig und die Bevölkerung überaltert. Wenn Putin sein Land weiter auf dem eingeschlagenen Weg in die antiwestliche Autokratie führt, droht Russland wieder jenes "Obervolta mit Atomraketen" zu werden, als das Helmut Schmidt einst die Sowjetunion verspottete.

Auch der Westen rüstete nach dem Mauerfall drastisch ab. Aber dann kam der Krieg gegen den Terror, und während die schwachbrüstige russische Wirtschaft den Ambitionen des Kreml klare Grenzen setzt, nutzten die US-Streitkräfte den technologischen Fortschritt. Die neu erlangten Fähigkeiten, mobile Ziele wie U-Boote und Raketen besser aufklären und zerstören zu können, lassen manche Experten inzwischen von einer waffentechnologischen "Revolution" sprechen.

Schon vor zehn Jahren erregten zwei US-Wissenschaftler Aufsehen, die einen atomaren US-Angriff auf Russland am Computer simulierten und ihre Ergebnisse in der angesehenen Fachzeitschrift "Foreign Affairs" veröffentlichten. Danach verfügte Washington über die Fähigkeit, mithilfe seiner Bomber, Interkontinentalraketen oder Marschflugkörper Russland in einem einzigen Angriff nuklear zu entwaffnen, also alle russischen Atomwaffen auszuschalten. Vorbei demnach die Ära der nuklearen Abschreckung, in der beide Seiten fürchten mussten, im Falle eines eigenen Angriffs durch den Zweitschlag des Gegners vernichtet zu werden. Statt "Mutual Assured Destruction", der "gesicherten gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit", also nun die nukleare Vorherrschaft der USA?

Diese Einschätzung ist als übertrieben kritisiert worden, aber an der technologischen Überlegenheit der strategischen US-Streitkräfte ist nicht zu zweifeln.

Seit Längerem werben US-Luftwaffe und US-Marine für eine neue Generation konventioneller Waffen für den "schnellen globalen Schlag" ("Prompt Global Strike"). Sie sollen es Washington ermöglichen, "innerhalb einer Stunde überall auf der Welt" angreifen zu können, wie erst kürzlich wieder eine neue Studie für den US-Kongress belegte. Das US-Militär will damit, so heißt es, den globalen Terrorismus bekämpfen.

Man muss kein Antiamerikaner sein, um sich vorstellen zu können, dass solche Szenarien die russische Führung beunruhigen. Zu groß ist noch der Schatten von George Bush junior, der die Welt belog, um den Krieg gegen den Irak zu rechtfertigen, und in der Bush-Doktrin für die USA das Recht proklamierte, sich mit Präventivschlägen gegen eine auch nur mögliche Gefahr zu verteidigen.

Unvergessen auch das Strategiepapier von Paul Wolfowitz, stellvertretender Verteidigungsminister unter Bush, wonach die USA unter allen Umständen den Aufstieg einer neuen feindlichen Supermacht verhindern wollen - wenn nötig unter Einsatz des US-Waffenarsenals. Kann jemand auf absehbare Zeit ausschließen, dass erneut ein Präsident vom Schlage Bush junior ins Weiße Haus einzieht?

Es zählt zu den ironischen Wendungen der Geschichte, dass Russland heute jene Strategie der nuklearen Abschreckung für sich in Anspruch nimmt, mit der die Nato im Kalten Krieg dem Warschauer Pakt entgegentrat. Die konventionell unterlegenen Russen wollen den potenziellen Feind mit der Drohung eines Atombombeneinsatzes von einem Angriff abhalten.

Aus unserer Sicht ist die Unterstellung eines Nato-Vorstoßes auf St. Petersburg absurd. Die Allianz ist ein Verteidigungsbündnis, weder Obama noch Merkel, Cameron oder Hollande können oder wollen daran etwas ändern.

Doch Worst-Case-Denken ist keine Besonderheit westlicher Falken, es hat auch in Russland eine ungute Tradition. Als nach dem Ende des Kalten Krieges die Archive geöffnet wurden, zählte zu den großen Überraschungen, dass die kommunistische Elite in Moskau einen Angriff der sich friedfertig wähnenden Nato ernsthaft in Betracht gezogen hatte.

Im Herbst 1983 war während eines Nato-Manövers die Angst vor einem westlichen Überfall in Moskau so groß, dass der Kreml einen Teil seiner Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzte. KGB-Agenten versuchten herauszufinden, ob die Briten ihre Blutkonserven in Vorbereitung eines Krieges erhöhten. Neben der Kubakrise von 1962 gelten die ersten Novembertage 1983 inzwischen mit als gefährlichste Episode in der Geschichte des Ost-West-Konflikts.

Der ehemalige KGB-Mann Putin und ein Großteil seiner Vertrauten sind im sowjetischen System groß geworden; sie haben nie aufgehört, in der Nato eine bedrohliche Organisation zu sehen. Kurioserweise bereitet die westliche Überlegenheit nicht nur den Strategen im Kreml Sorgen; sie stellt auch die Aufrüster auf westlicher Seite vor ein Argumentationsproblem. Denn die Aufrüstung der Nato in Osteuropa erweckt den Eindruck, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihre Kollegen der Abschreckungswirkung der US-Atomraketen und -Bomber misstrauen. Doch wenn sie wirklich einen Angriff Putins in Erwägung zögen, dann müssten sie nicht nur einige Tausend Soldaten im Baltikum stationieren, sondern eine riesige Streitmacht, um einen Krieg vor Ort führen zu können. Dann wären wir endgültig zurück im Kalten Krieg.

Absolute Sicherheit für eine Seite bedeutet absolute Unsicherheit für alle anderen Mächte. Putin hat bereits angekündigt, auf die neuen Nato-Beschlüsse mit Gegenmaßnahmen zu reagieren.

Es ist das erklärte Ziel der derzeitigen Nato-Aufrüstung, die Ostgrenze des westlichen Bündnisses sicherer zu machen. Zweifel sind angebracht, dass die Nato dieses Ziel erreicht.

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