Experten-Interview Warum viele Ärzte an nutzlose Schulter-Operationen glauben


Wim Schreurs, 60, operiert und forscht an der Radboud-Universitätsklinik in Nimwegen. Im Fachjournal "The Lancet" kommentierte er diese Woche eine große Studie über Sinn und Unsinn einer Schulterspiegelung.
SPIEGEL: Rund 92.000 Patienten mit Schulterschmerzen werden in Deutschland pro Jahr einer bestimmten Operation unterzogen, der "subakromialen Dekompression". Die Zahl dieser OPs hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Doch jetzt ergab eine große Studie: Sie bringt nichts. Wie kann es sein, dass Ärzte seit Jahrzehnten ihre Patienten damit behelligen?
Schreurs: Das hat eine ganze Reihe von Gründen, die in der subjektiven Wahrnehmung der Chirurgen ebenso wie in der Natur der Krankheit liegen. Es geht ja um ein ganz bestimmtes orthopädisches Problem, das sogenannte Engpasssyndrom. Etwa 70 Prozent der Patienten mit Schulterschmerzen leiden daran. Man erkennt es bei der Untersuchung am "schmerzhaften Bogen": Wenn der Patient den ausgestreckten Arm seitlich anhebt, ist das bis etwa 60, manchmal auch 90 Grad problemlos möglich. Dann setzen die Schmerzen ein, die bis etwa 120 Grad anhalten.
SPIEGEL: Und der Schmerz entsteht, weil etwas eingeklemmt wird?
Schreurs: Genau. Meist ist unter dem "Akromion", dem vorderen großen Knochenfortsatz des Schulterblatts, zu wenig Platz, als dass Sehnen und Schleimbeutel bei der Bewegung problemlos gleiten könnten. Schon 1972 hatte deshalb ein US-Chirurg die Idee, in einer OP etwas von diesem Knochenfortsatz und den Weichteilen zu entfernen, um mehr Raum zu schaffen. Richtig populär wurde diese subakromiale Dekompression dann, als man begann, sie auch arthroskopisch, also mit der Schlüssellochtechnik, durchzuführen.
SPIEGEL: An einer Engstelle zu erweitern klingt eigentlich logisch. Warum funktioniert es nicht?
Schreurs: Das Problem ist, dass die Ursache eines Einklemmungssyndroms oft in einer entzündlichen Schwellung der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel in der Schulterregion liegt. Nur weil diese Schwellung mehr Raum beansprucht, kommt es in vielen Fällen überhaupt erst zum Platzmangel. Zwar sind es oft knöcherne Unebenheiten, die die Weichteile reizen. Doch wenn man lange genug wartet, verschwindet die Schwellung - und damit auch der Schmerz - oft von allein. Das sind einfach die Selbstheilungskräfte des Körpers. Operiert man bei einem Engpasssyndrom zu einem bestimmten Zeitpunkt, sind die Schmerzen danach zwar ebenfalls oft weg. Die Frage ist nur: Liegt das an der OP - oder ist das der natürliche Lauf der Dinge?
SPIEGEL: Die "Lancet"-Studie zeigt, dass die OP kaum bessere Ergebnisse bringt, als die Patienten gar nicht zu behandeln. Hätte das den Chirurgen nicht irgendwann mal auffallen müssen?
Schreurs: Kaum einem Chirurgen ist klar, wie sehr die eigene Wahrnehmung täuschen kann. Wenn Sie Tag für Tag operieren und sehen, dass es vielen Patienten hinterher besser geht, denken Sie schnell, dass das Ihr Verdienst ist. Deswegen ist es so wichtig, gute Studien durchzuführen. Nur so kann man herausfinden, ob eine OP wirklich hilft oder nicht. Leider ist es dann oft sehr schwierig, die Studienergebnisse in die tägliche Behandlungspraxis zu überführen. Die Ärzte, aber auch die Patienten glauben einfach felsenfest daran, dass die Behandlung, deren Unwirksamkeit gerade wissenschaftlich bewiesen wurde, doch wirkt.
SPIEGEL: In Ihrem Kommentar im "Lancet" loben Sie die Studie sehr.
Schreurs: Ja, weil sie sehr mutig und gut gemacht ist. Die Wissenschaftler wollten wirklich herausfinden, ob die subakromiale Dekompression wirkt oder nicht. Deswegen haben sie die Operation nicht nur mit Nichtbehandeln verglichen, sondern auch mit einer Schein-OP, bei der die Ärzte kein Gewebe entfernten, sondern lediglich mit einem Arthroskop in die schmerzhafte Region hineinblickten.
SPIEGEL: Und diese Schein-OP an der Schulter schnitt genauso gut ab wie die echte Schulter-OP?
Schreurs: Richtig!
SPIEGEL: Ein verblüffendes Ergebnis...
Schreurs: ...das aber vom Knie schon lange bekannt ist! Schon vor 15 Jahren wurde eine ähnliche Studie an US-Veteranen veröffentlicht, die an altersbedingten Knieschmerzen litten. Sie bekamen entweder eine Kniespiegelung, bei der man abgestorbenes Gewebe aus dem Kniegelenk entfernte, oder es wurden an den betäubten Patienten lediglich die für eine Kniespiegelung typischen kleinen Hauteinschnitte vorgenommen. Der Patient wusste hinterher nicht, ob er die echte oder die Schein-OP bekommen hatte - und beides half gleich gut. Nicht nur bei Medikamenten, auch bei Operationen sehen wir einen Placeboeffekt. Inzwischen haben weitere Studien dieses Ergebnis bestätigt, und die Zahl der Kniespiegelungen bei altersbedingten Schmerzen hat deshalb weltweit dramatisch abgenommen.
SPIEGEL: Auch in Deutschland übernehmen die Krankenkassen die Kosten in etlichen Fällen nicht mehr. Wird es diese Diskussion um Sinn und Unsinn der OP jetzt auch bei der Schulter geben?
Schreurs: Mit Sicherheit! Aber ich meine, dass bei der Schulter vor einem abschließenden Urteil weitere Untersuchungen mit noch mehr Patienten durchgeführt werden sollten. Jetzt sind die Schulterchirurgen am Zug, sie haben jetzt die Chance, mit guten Studien zu zeigen, in welchen Fällen ihre OP vielleicht doch hilft.
SPIEGEL: Wie sieht es denn an Ihrer Klinik aus - wird da beim Engpasssyndrom häufig operiert?
Schreurs: Nein, in den Niederlanden haben wir die Indikation dafür schon vor einiger Zeit stark eingeschränkt - es gab ja bereits Untersuchungen, die darauf hindeuteten, dass die OP nichts bringt. Die Zahl der subakromialen Dekompressionen ist dadurch hier stark gesunken.
SPIEGEL: Und was sollen Ärzte zu Patienten sagen, die mit schrecklichem Schulterschmerz vor ihnen stehen?
Schreurs: Dass man nicht gleich Gewebe wegschnippeln muss - es gibt eine ganze Reihe anderer Behandlungsverfahren. Bewegung ist auf jeden Fall gut, Krankengymnastik und Muskelaufbautraining zum Beispiel, um bestimmte Muskelgruppen zu dehnen und andere zu stärken. Allerdings müssen auch viele dieser Verfahren dringend in Studien viel besser untersucht werden, vor allem jetzt, wo sich abzeichnet, dass die OP wahrscheinlich oft nicht hilft.
SPIEGEL: Wie ist das mit den Hüftgelenken?
Schreurs: Wahrscheinlich genauso. Auch dort werden inzwischen weltweit immer mehr Gelenkspiegelungen vorgenommen. In den vergangenen Jahren hat man die Indikation dazu langsam immer mehr ausgeweitet, auch weil man hofft, dadurch verhindern zu können, dass man künstliche Hüften einsetzen muss. In Wahrheit aber ist unklar, ob Patienten mit Degenerationserscheinungen mit einer Hüftgelenkspiegelung geholfen werden kann. Etliche Orthopäden finden das inzwischen sehr beunruhigend. Studien, die den Nutzen dieser OP untersuchen wollen, laufen jetzt an.
SPIEGEL: Kann es sein, dass wir einfach nicht akzeptieren wollen, dass wir älter werden?
Schreurs: (lacht) Das ist sicher ein Teil des Problems. Dabei ist die langsame Degeneration der Gelenke wahrscheinlich einfach ein Teil des Lebens. Ich meine: Muss man auf Teufel komm raus mit 80 noch Tennis spielen? Wenn man Menschen, die im hohen Alter gestorben sind, obduziert, sieht man, dass bei vielen eine bestimmte Sehne am Schultergelenk nicht nur abgenutzt ist, sondern sogar gerissen. Die Alten haben davon gar nicht viel gemerkt.