Medikamententests an Kindern "Er biss auf die herunterhängende Zunge"

Kinder bei Schluckimpfung in Berlin 1965: "Mit einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten belastet"
Foto: dpa Picture-Alliance / dpa/ picture-alliance / dpaAlfons Goppel hob den Becher und leerte ihn in einem Zug. "Der Trunk schmeckt gut", sagte Bayerns Innenminister.
Das war 1962. Der CSU-Politiker hatte bei einem Presseauftritt ein Gemisch aus Zuckerwasser und einem Impfstoff gegen Polio gekostet. Zur Freude einiger Pharmafirmen: "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam", lautete damals der Slogan.
Werbung hatte die Branche zu jener Zeit dringend nötig, denn das Vertrauen in Polioimpfstoffe war getrübt. Mehrere Menschen waren in Westberlin 1960 gestorben, nachdem sie sich mit Polio-Lebendimpfstoff vermeintlich schützen ließen. Insgesamt 48 Personen erkrankten an Kinderlähmung. Daraufhin wurde das Impfprogramm gestoppt.
Aktuelle Forschungen zeigen nun, wie deutsche Pharmafirmen ihre umstrittenen Impfstoffe jahrelang an wehrlosen Menschen ausprobierten - um ihre Präparate zu verbessern und auf den Markt zu bringen. Als Testpersonen wurden Säuglinge und Kinder in kirchlichen oder staatlichen Heimen genutzt.
Die Heimkinder waren praktisch rechtlos.
An den Versuchen beteiligte Mediziner schwärmten von den günstigen Testbedingungen: "Die Säuglinge müssen sich von der Geburt an in einer geschlossenen Gemeinschaft (Säuglingsheim) befunden haben", hieß es in einem wissenschaftlichen Aufsatz; dann könne "die Wirkungsprüfung in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres" idealerweise durchgeführt werden.
Nutznießer waren zahlreiche Pharmaunternehmen wie Merck, Schering (heute: Bayer), Janssen, Pfizer, Verla-Pharma oder die Behringwerke. Selbst Gesundheitsämter gaben in Säuglingsheimen Studien in Auftrag, um Nebenwirkungen von Impfstoffen kennenzulernen.
"Es war bundesweit Praxis und ethisch mehr als fragwürdig", sagt Sylvia Wagner, Pharmazeutin aus Krefeld, die für ihre Doktorarbeit unter anderem zahllose Fachzeitschriften aus jener Zeit ausgewertet hat. Dabei stieß sie auf mehrere Dutzend Impf- und Arzneimitteltests von den Fünfziger- bis in die Siebzigerjahre hinein.
Bislang, sagt Wagner, habe sie "keinen einzigen Hinweis gefunden, dass die Kinder, ihre Eltern oder Jugendämter aufgeklärt und um Einwilligung gefragt wurden". Bei ihren Recherchen stieß sie sogar auf medizinwissenschaftliche Dissertationen, die auf Versuchen an Heimkindern basierten.
Einer der Tatorte war das Westberliner Kinderheim Elisabethstift. 139 Säuglinge und Kinder mussten dort riskante Impfversuche ertragen. Offensichtlich ohne Zustimmung der Eltern oder der Jugendämter wurde den Kindern nicht nur Blut abgenommen. Ärzte entnahmen ihnen auch per Lumbalpunktion mehrfach Nervenwasser, um das Vorhandensein von Viren zu untersuchen - ein schmerzlicher und gefährlicher Eingriff, dem die gesetzlichen Vertreter der Kinder hätten zustimmen müssen.
Dass Polioimpfungen zu Problemen führen können, zeigte sich spätestens 1954. Damals waren in den Marburger Behringwerken zwei Versuchsaffen "an Kinderlähmung eingegangen", heißt es in einem Protokoll, das ein Gespräch zwischen Vertretern der Behringwerke und des Bundesgesundheitsamts wiedergibt. Trotzdem drängten die Behringwerke bereits 1956 darauf, in Deutschland einen Impfstoff gegen Kinderlähmung einzuführen.
Führungskräfte des Unternehmens hatten offenbar keine Probleme mit Menschenversuchen: Ein Direktor der Behringwerke, Albert Demnitz, ließ vor 1945 im Konzentrationslager Buchenwald Fleckfieberimpfstoff an Häftlingen der berüchtigten "Todes-Baracke 46" ausprobieren. Sein Kollege Richard Haas hatte ebenfalls mit der Fleckfieberstation des KZ kooperiert - dennoch wurde er 1950 bei den Behringwerken Leiter der humanmedizinischen Forschung. Bis 1980 war Haas außerdem Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung.
Was in den Säuglings- und Kinderheimen der Bundesrepublik geschah, hatte auch in anderen Fällen eine Vorgeschichte im "Dritten Reich". Weitere riskante Impfstoffe - etwa gegen Gelbfieber, Gasbrand, Typhus, Ruhr, Tetanus und Scharlach - wurden ebenfalls während der Nazizeit bei Menschenversuchen getestet. Nicht nur in Konzentrationslagern, sondern auch in Kinderheimen.
1961 lieferten die Behringwerke Polioimpfstoff an ein Säuglingsheim in Krefeld. Die beteiligten Mediziner bedankten sich in ihrem Abschlussbericht für die Möglichkeit, nach Tierversuchen nun endlich mit Säuglingen experimentieren zu können. Sie wussten dabei durchaus über das Risiko Bescheid: "Die Wirkungsprüfung von Polio- oder Kombinationsimpfstoffen beim Menschen ist mit einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten belastet."
Dennoch begannen sie ihre Experimente "an zwei Gruppen von je 20 gesunden Säuglingen bzw. Kleinkindern zwischen 4 und 18 Monaten".
Heimkinder mussten damals nicht nur Impfversuche über sich ergehen lassen. Auch Psychopharmaka wurden an ihnen ausprobiert. Darunter waren Medikamente wie Decentan, Truxal oder Dipiperon, die bei den jungen Testpersonen oft schwere Nebenwirkungen auslösten. In Akten des Pharmaunternehmens Merck über ein Essener Kinderheim ist von "Schrei- und Blickkrämpfen" die Rede, von "glasigen Augen" und "krampfartig steifen Händen". "Er biss auf die herunterhängende Zunge", "hat laut geschrien", heißt es über Kinder im Alter von 5 bis 13 Jahren.
In vielen Heimen waren Medikamente sogar als chemisches Erziehungsmittel beliebt, wie in einem Protokoll aus dem Merck-Archiv zu lesen ist: "Die Schwestern des Hauses fordern laufend die 4-mg-Dragees nach, da sie somit endlich Ruhe auf den Stationen haben und die Kinder auch tadellos schulfähig gehalten werden."
"Wir unterstützen die Aufarbeitung", sagt ein Merck-Sprecher, "nach unserer Kenntnis hat Merck nicht rechtswidrig gehandelt." Die Behringwerke sind heute ein Forschungsverbund von Biotechfirmen, sie haben ihr Archiv, wie Merck, zu Forschungszwecken geöffnet. Die anderen Pharmaunternehmen zeigen sich über die neuen Erkenntnisse betroffen; ihnen selbst lägen aber keine Informationen vor, teilen Sprecher von Bayer, Pfizer oder Janssen mit.
Die Gewalt in Kinderheimen gehört zu den dunklen Kapiteln der frühen Bundesrepublik (SPIEGEL 21/2003). Experten des zwei Jahre lang tagenden "Runden Tischs Heimerziehung" haben das brutale Regime in den Heimen, die in den Jahren 1949 bis 1975 etwa 800.000 Kinder beherbergten, zwar detailliert analysiert. Medizinische Versuche spielten dabei jedoch kaum eine Rolle. Der Staat und beide Kirchen als Betreiber der Heime haben sich ihrer Verantwortung in dieser Frage bis heute nicht gestellt.
Jürgen Schubert aus Aachen ist einer von vielen, die sich nun drängende Fragen stellen. Er kam schon als Säugling ins Heim und musste als kleiner Junge immer wieder Pillen schlucken, darüber will er endlich Aufklärung: "Was hat man mit uns Heimkindern gemacht? Was haben uns die Ärzte und Pharmafirmen bis heute alles verschwiegen?", sagt der 70-Jährige. "Wir haben ein Recht darauf, das endlich zu erfahren. Die Politik muss uns und die Vertreter der Firmen an einen Tisch bringen."