Präsidentschaftswahl Wie gefährlich ist die Lage in Frankreich?

Wandgemälde im Pariser Palais de la Porte Dorée
Foto: Pierre-Henri Ducos de la Haille/ADAGPDer Palast zur goldenen Pforte, le Palais de la Porte Dorée, liegt nur wenige Autominuten vom Pariser Zentrum entfernt, könnte aber ebenso in einem anderen Land stehen und in einer anderen Zeit sowieso. Der riesige Bau aus dem Jahr 1931 ist eine Hymne an die Welt: Wandgemälde zeigen die Schönheit Asiens und Afrikas, es ist ein Fest aus Palmen, sittsamen Familien und dem Versprechen einer paradiesisch anmutenden Natur, dort in Übersee.
Der Palast sollte den Bürgern Frankreichs Nutzen und Gefälligkeit des Kolonialreichs nahebringen. Die Welt ist groß, und Frankreich hat, mit seinen universellen Werten, seiner Kultur und seinem Wissen, die passenden Instrumente, um etwas aus ihr zu machen: Viele Wandgemälde zeigen weiße Segelschiffe, zu denen kräftige junge Männer wertvolle Fracht schleppen.
Frankreich strahlt in die Welt, und die dankt es mit Bananen und Gold. Heute liegt der Palast abseits, ein Ziel vor allem für Schulklassen. Sie kommen gern, denn in dem Bau ist auch ein Aquarium, sogar mit Clownfischen. Man sieht den Kindern an, dass ihre Eltern oder Vorfahren mal aus Teilen der Welt kamen, in denen die Haut etwas anders gefärbt ist. Sie sind noch in der Grundschule. An der Garderobe reicht eine Kiste aus, um all ihre Jacken, Parkas zu fassen, aus der Vielfalt wird ein blau-rosa Knäuel.
Vielfalt und Einheit, Weltgeltung und Verzagtheit, das sind derzeit die Themen in Paris. Dieser verrückte Präsidentschaftswahlkampf bringt gnadenlos ans Licht, womit die französische Gesellschaft seit 1931, als die Welt noch ein Versprechen war, nicht richtig klarkommt.
In dem Palast ist auch das Museum der Geschichte der Einwanderung nach Frankreich untergebracht. Es ist eine gut gemeinte, etwas komplizierte Ausstellung. Der Leiter des 2007 eröffneten Museums arbeitet in einem Nebentrakt des Palasts.
Benjamin Stora, einer der bekanntesten französischen Historiker, hat wenig Zeit und wirkt etwas müde. Mit Begrüßung und Vorstellung möchte er sich nicht aufhalten, die Zeiten sind ernst.
Seit Jahrzehnten versucht Stora, dessen Familie zur jüdischen Gemeinschaft der algerischen Stadt Constantine zählte, die Franzosen mit ihrer Geschichte in den Kolonien und auf dem Festland irgendwie zu versöhnen. Heute scheint er daran zu zweifeln, ob sie überhaupt noch die Gegenwart verstehen, von der Zukunft ganz zu schweigen.
Die Wahl am 23. April mit dem hohen Stimmenanteil für Marine Le Pen kommt für ihn einer "gigantischen Explosion" gleich, die eigentlich alle politischen Kräfte mobilisieren müsste, um das Schlimmste zu verhindern. Richtig überrascht hat ihn der hohe Stimmenanteil der extremen Rechten aber nicht. Seit Jahren beobachtet er bestürzt eine Art historischer Regression: "Ich dachte, wir hätten in Frankreich einen Grundkonsens über gewisse historische Fakten, über Vichy und den Algerienkrieg zum Beispiel. Aber seit einiger Zeit schon geht es da in eine ganz andere Richtung."

Benjamin Stora
Foto: Raphael Gaillarde/Gamma-Rapho/LaifDer frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy und sein ehemaliger Premierminister François Fillon haben immer wieder politische Initiativen ergriffen, um die Kolonialzeit wieder anders darzustellen - und stellen sich damit gegen die Politik von Charles de Gaulle, der doch eigentlich der Gründer ihrer politischen Bewegung ist. "Sie beschlossen, von nun an müsse man über die zivilisatorische Wirkung, die guten Seiten der Kolonialzeit reden - auf die Idee, dazu einmal Algerier, Senegalesen oder Vietnamesen zu fragen, kamen sie allerdings nicht." So bereitet die gaullistische Rechte, indem sie das Lebenswerk de Gaulles anzweifelt oder revidiert, der extremen Rechten den geistigen Boden. Aber auch bei den Linken gibt es historische Blockaden: Da tut man sich, so Stora, immer noch schwer, die Demokratie dem Sozialismus vorzuziehen. "Deutschland hatte diese beiden immensen verbrecherischen Systeme, die Nazis und die Stasi. Frankreich aber hatte nur vier Jahre Vichy und gar keine Erfahrung mit dem real existierenden Sozialismus. Da fällt die Aufarbeitung schwer."
Die Folge dieser verdrängten oder falsch verstandenen Geschichte ist in diesem Wahlkampf und insbesondere in der seltsamen Zeit zwischen den Wahlgängen zu spüren. Frankreich muss neu nach dem Weg suchen, sich orientieren. Sehr viele gesellschaftliche Gruppen, fürchtet Stora, seien bereit, sich von Europa abzuwenden, um einer falschen Vision von französischer Größe, einem nostalgischen Nationalismus wie aus alten Spielfilmen, nachzuträumen, und verpassen, was sie umgibt, nämlich die ganze Welt.
Zwar setzt er Hoffnung in Emmanuel Macron, aber es ist für seinen Geschmack allzu knapp. "Wer befördert denn hier noch den Protest gegen den Front National? Das sind im Wesentlichen die Minderheiten, das sind Juden und Muslime." Viele andere Franzosen suchen immer noch nach einem Weg, wieder so zu leben, wie es die alten Filme zeigen oder die Wandgemälde im Palast zur goldenen Pforte.

Bénédicte Savoy
Foto: Markus WächterEin anderer Palast, einer des Geistes, ist das Collège de France: Die im 16. Jahrhundert gegründete Einrichtung ist die älteste Volkshochschule der Welt und die beste. Die Vorlesungen stehen jedem offen, sofern Platz ist, berufen werden herausragende Wissenschaftler, oft solche, die an Universitäten den Rahmen sprengen würden. Seit einem Monat arbeitet hier die in Berlin wohnende Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Sie ist sieben Jahre jünger als der jüngste ihrer Kollegen und findet ein verstörtes Land mit einer verunsicherten Wissenschaftslandschaft vor.
Im Gegensatz zum Jahr 2002, als Jean-Marie Le Pen, der Vater von Marine und Gründer des Front National, in die Stichwahl kam, sei derzeit von einem politischen Schock wenig zu spüren. Zwar würden die meisten Leute in ihrem sozialen Umfeld schon Macron wählen, aber eben aus Kalkül und nicht im Sinne eines tief empfundenen demokratischen Bekenntnisses. Verzagtheit dominiere das Bild. Von Erleichterung sei nach dem guten Abschneiden von Macron wenig zu spüren. Die Stimmung sei resigniert oder aggressiv.
Sie liest eine E-Mail vor, in der sie als métèquophile, als kanakenfreundlich beschimpft wird. Es gilt nicht nur ihr persönlich, sondern dem ganzen Autorenkollektiv des Bestsellers des Frühjahrs, der "Histoire Mondiale de la France", der "Weltgeschichte Frankreichs". Ihr Kollege am Collège de France, der Mittelalterhistoriker Patrick Boucheron, hat es herausgegeben und steht seitdem im Zentrum der seit Langem heftigsten intellektuellen Debatte, die sehr direkt auch in die politische Debatte hineinwirkt.

Historiker Boucheron: Heftigste Debatte seit Langem
Foto: H. Assouline/LaifDas dicke Buch verfolgt die Absicht, die Wechselwirkungen zwischen der Geschichte Frankreichs und jener anderer Länder, der ganzen Welt also, aufzuzeigen. Es ist ein Gegenentwurf zu den populärwissenschaftlichen Werken etwa eines Éric Zemmour, die immerzu den Abgesang auf die einstige französische Größe anstimmen. Stattdessen werden dem Leser hier Zusammenhänge aufgezeigt, die klarmachen, wie sehr Frankreich von einer Offenheit und Solidarität mit dem Rest der Welt profitiert hat und dass Frankreich eben nicht nur das in sich geschlossene Sechseck am westlichen Ende Europas war, sondern immer schon von diversen Einflüssen geprägt wurde. Dabei erweisen sich bestimmte Kapitel als besonders umstritten. So stellt das Buch dar, dass de Gaulle während des Zweiten Weltkriegs seinen Einfluss gar nicht im Wesentlichen dem Standort London zu verdanken hat, sondern dass Brazzaville die eigentliche Hauptstadt des freien Frankreichs war. Damit stünde Frankreich auch in der historischen Schuld seines afrikanischen Kolonialreichs, das damals eben das freie Frankreich unterstützte und repräsentierte.
Der Herausgeber Patrick Boucheron hat somit die gute französische Tradition des engagierten Intellektuellen erneuert und sieht sich, wie die anderen Autorinnen und Autoren des Sammelbands, als Dekonstruktivisten des nationalen Romans angegriffen. Übrigens durchaus auch von links: Vielen Gelehrten gilt Frankreich als Heimat der universellen Werte, von Menschenrechten und Aufklärung, und jede Beschreibung der vielfältigen Einflüsse, die zu dieser Position führten, oder auch der faktischen Rückschritte im historischen Fortschritt gilt als Relativierung, als multikulturelle Verwässerung der schönen Fortschrittsgeschichte der Republik.
Die Aufarbeitung etwa der Tatsache, dass auch Frankreich eine der europäischen Brutstätten von Antisemitismus und Faschismus ist, steht noch am Anfang. Dazu ist auch ein anderer öffentlicher Umgang mit historischen Fakten nötig: Etwas zu benennen und präzise zu beschreiben heißt nicht, es zu empfehlen. In Frankreich ist aber die Geschichte immer noch so symbolisch befrachtet, dass es viele als Beleidigung des Landes empfinden, wenn über dunkle historische Stunden die Wahrheit gesagt wird. Als verriete man die Résistance, wenn man über die faschistische Miliz spricht. Das führt zu einem konzeptionellen Durcheinander, so scheute sich der glücklose konservative Kandidat Fillon nicht, seinen Kampf um den Ausweg aus selbst verschuldetem Finanzschlamassel mit dem Begriff der "Résistance" zu belegen - ungefähr, als hätte sich Karl-Theodor zu Guttenberg als neuer Stauffenberg inszeniert.
In diesen Tagen kommt das Verdrängte zurück, in völlig unerwarteten Momenten und in seltsam schrillen Äußerungen, als würden auch den Intellektuellen die Nerven versagen.

Anne Weber
Foto: imagoDie in Paris arbeitende, in Deutschland geborene Schriftstellerin Anne Weber erzählt, Bekannte und Freunde von ihr hätten 2005 noch Ségolène Royal unterstützt, nun Mélenchon gewählt und überlegten, sich am 7. Mai zu enthalten. Manche nähmen sogar die Katastrophe eines Sieges von Le Pen in Kauf, um dann den Kampf um einen Systemwechsel unter verschärften Bedingungen beginnen zu können. Macron erscheine ihnen wie ein Agent der Optimierung des Systems nach den Prinzipien der digitalen Revolution, als sollte das Land regiert werden wie der Fahrdienst Uber. Im besten Fall sehen manche darin das kleinere Übel.
Solch eine Bilanz zieht auch der bekannte Publizist und Medienwissenschaftler Sylvain Bourmeau. Seine Studenten würden recht offen damit flirten, sich im zweiten Wahlgang zu enthalten. Das Verhalten von Jean-Luc Mélenchon mache da leider Schule. Weit davon entfernt, Begeisterung zu wecken oder gar als großer politischer Reformator zu gelten, erscheine Macron als das neueste Produkt einer alten Manufaktur. Die Wut über den Verrat der Linken an ihren Idealen ist unter diesen Studenten größer als die Empörung über das Wesen des Front National. Er selbst ist vor allem schockiert über die "Fragilité", die Zerbrechlichkeit des politischen Systems Frankreichs. Feinde der Republik stehen kurz davor, die Macht zu übernehmen, aber in den Medien werde das erwogen wie eine Möglichkeit unter vielen, als würde man mögliche Launen des Wetters beschreiben. Aber seine Analyse geht noch weiter, über die jetzige Wahlperiode hinaus.
Die Stärke der politischen Ordnung in Frankreich sei immer gewesen, dass es zu jeder Regierung eine selbstbewusste und deutliche politische Alternative gegeben habe. Nun aber sei der Gaullismus, der dieses Mal an der Reihe gewesen wäre, in den Skandalen von Fillon untergegangen. Das begünstigt Macron und eine Politik der Mitte, des nationalen Konsenses. Marine Le Pen mag dann im zweiten Wahlgang unterliegen, aber der Front National wird zur führenden Oppositionspartei, während Macron als Präsident der etablierten Parteien fungiert.
Somit ist der Front National in fünf Jahren in der logischen Position, die Regierung zu übernehmen. Bourmeau fürchtet daher den Konsens, für den Macron steht, und sieht darin die Gefahr einer Entpolitisierung der französischen Öffentlichkeit. Statt klarer ideologischer Positionen bekomme man einen technokratischen, angeblich alternativlosen Kurs, eine französische Version der Großen Koalition. Doch während Deutschland es sich politisch leisten konnte, das Risiko einer kurzfristig stark werdenden AfD einzugehen, ist die Situation in Frankreich, wo der Front National ja schon an der 30-Prozent-Marke kratzt, einfach zu ernst. Aus republikanischer Verantwortung wird er Macron wählen, aber seine Sorge bleibt. So geht es allen, mit denen man spricht, ob sie nun zitiert werden möchten oder nicht. Frankreich ist ein geschocktes Land.
Es wird sich seinen Dämonen, der verdrängten Geschichte und den wirtschaftlichen Problemen stellen müssen. Es ist ganz einfach so, dass das alltägliche Leben in Frankreich mit den dort gezahlten Löhnen kaum noch zu meistern ist, selbst dann, wenn man hart und viel arbeitet.
Frankreich ist zu teuer für die Franzosen, und viele Diskussionen drehen sich erst um Politik, ihre Ausweglosigkeit, und dann um das Geld und die langen, kargen Tage am Monatsende.
Es fällt französischen Intellektuellen nicht leicht, in der Debatte um eine Versöhnung des Landes mit seiner Geschichte zu obsiegen. Die regressive Tendenz, sich wie mit einer lustigen App wieder in das Frankreich der schönen Filme von früher, in malerische Dörfer und lustige Zeiten, als das Leben noch erschwinglich war, zurückzubeamen, ist stark. Die Migranten und Maghrebiner stören das Bild. Zwar haben sie den Wohlstand Frankreichs mit erarbeitet, das Land vielfältiger und schöner gemacht, aber viele sehen in ihnen ein Symbol der neuen Zeit, und die wird als allzu kompliziert empfunden.
Frankreich muss am Kern seiner Identität arbeiten und zugleich wieder Zuversicht gewinnen, auch Geld verdienen. Beides zusammen wird stressig und bedarf der Solidarität aus Deutschland. Wenn es Macron und dem offenen, liberalen Frankreich gelingen soll, Europa vor dem Front National zu bewahren, der alles zerstören und uns alle zurückwerfen würde, dann braucht er Hilfe. Nicht bloß gute Wünsche, auch Deutschland muss, in einer parallelen Anstrengung, am Kern der kulturellen Identität der Bundesrepublik arbeiten - und Geld geben. Es kommt jetzt nicht auf Schulden an, denn eine Le-Pen-Regierung pfeift dann eh auf Abmachungen und auf das deutschfranzösische Verhältnis überhaupt.
Macron, die Wissenschaftsinstitutionen, Museen, Forschungszentren, Unternehmer und Start-ups Frankreichs brauchen Geld und Zeit, um in Schwung zu kommen. An vielen Aspekten der französischen Misere, am französischen Diskurs kann Deutschland wenig bewirken - aber Geld ist da, und nirgends ist es besser ausgegeben als für die Stabilisierung Frankreichs.
Im Palast zur goldenen Pforte gibt es, unter dem Aquarium im Keller noch eine weitere Ebene. Dort ist es völlig still. Da dösen vier Alligatoren, weit entfernt vom Tageslicht, von Paris und dem Glanz dieses Palais. Als wäre das Gebäude ein Sinnbild: oben die Liebe zur Welt, ganz unten lauernde Fleischfresser.
Entwickeln wir uns gerade abwärts? Nichts zwingt uns. Wir haben die Wahl. Und so wie die Dinge stehen, ist es auch für die Bundesregierung und die deutsche Zivilgesellschaft an der Zeit zu erkennen, dass nicht nur Frankreich wählt und dass ein Sieg von Emmanuel Macron am 7. Mai nur der Beginn einer großen Arbeit ist, denn die Lage ist ernst wie nie zuvor in unserer Zeit.