UMWELT Retter der Nacht
Es ist mühsam, in Deutschland einen Ort zu finden, der nachts dunkel wird. Wirklich dunkel. So dunkel, dass die Sterne am Firmament leuchten wie Kerzen an einem Weihnachtsbaum.
Der Astronom Andreas Hänel, Chef des Osnabrücker Planetariums, hat lange danach gesucht. Mit dem Messgerät in der Hand unternahm er Streifzüge in die Provinz, die fast immer frustrierend endeten. Im größten Teil Deutschlands hat das Schwarz der Nacht keine Chance mehr, denn überall regiert das Kunstlicht. Aus den orangefarbenen Lichtglocken, die über den Dörfern und Städten stehen, ergießt sich eine Photonensuppe bis hinein in das weitere Umland. Alle Finsternis ersäuft darin, und auch die Milchstraße selbst.
Doch eines Nachts landete Hänel einen Volltreffer - und zwar ausgerechnet dort, wo Experten wie er dies nie für möglich gehalten hätten: Im Westhavelland, nur 70 Kilometer westlich der Hauptstadt Berlin, hat Hänel ein naturbelassenes Guckloch in das Universum aufgetan. "Ich habe noch nie einen so dunklen Himmel gesehen", sagt der 59-Jährige.
Hänel steht im Garten des Ehepaars Hammer im Örtchen Rhinow. Er staunt. Von Horizont zu Horizont wölbt sich das prallbesetzte Firmament, nur an den Rändern fällt Streulicht herein. Dort das Sternbild Kassiopeia, daneben Perseus und nahe dem Zenit, mit bloßem Auge erkennbar: der Andromedanebel, dessen Licht 2,5 Millionen Jahre lang unterwegs war bis nach Rhinow in Brandenburg. In kaum 30 Minuten schießen mindestens fünf Sternschnuppen über die pechschwarze Kuppel. "Das ist einzigartig", schwärmt Hänel.
Schon bald, so hofft der Astronom, wird dieser Himmel nahe Berlin weltweite Anerkennung erfahren. Noch in diesem Jahr will der Naturpark Westhavelland bei der International Dark Sky Association in den USA einen Antrag einreichen. Der Naturpark möchte ein "Dark Sky Reserve" werden - der erste deutsche Sternenpark, ein Schutzgebiet für die Dunkelheit der Nacht.
Die Idee, seinen Himmel zu pflegen wie ein zartes Gewächs, fand der Rhinower Amtsdirektor Jens Aasmann, 46, zu Anfang "ein bisschen verrückt". Doch rasch konnte Hänel ihn für diesen Plan gewinnen. Die meisten Gemeinden der Region haben sich nun verpflichtet, künftig nur noch mäßig helle Straßenlaternen aufzustellen, die keine Lichtverschmutzung mehr verursachen, also nicht nach oben oder übermäßig zur Seite hin abstrahlen.
In Zukunft, hofft Aasmann, werden in großer Zahl Amateurastronomen zur Astrosafari nach Rhinow strömen, um hier ein zertifiziertes Edelfirmament zu genießen, wo der Rote Riese Aldebaran kraftvoll leuchtet und der Kosmos zu leben scheint.
Echte Dunkelheit ist in den Industrieländern selten geworden. Überall das gleiche Drama: Kaum geht die Sonne unter, wird es gleich schon wieder hell. Millionen Straßenlaternen erglimmen, Leuchtwerbung flimmert, Scheinwerferlicht erleuchtet Kirchen, Bankentürme und Industrieanlagen. So versinken ganze Straßenzüge, Städte und Regionen im Lichtsmog, der in vielen Fällen teuer und überflüssig ist. Für einen wachsenden Teil der Welt gilt: Die Nacht, wie es sie gab von Anbeginn der Zeit, ist tot.
Erst allmählich beginnen Forscher zu ergründen, was Mensch und Natur im Zeitalter des 24-Stunden-Tags verlieren. In Berlin-Dahlem trafen sich vorige Woche mehr als 120 Wissenschaftler aus der ganzen Welt, um über den "Verlust der Nacht" zu debattieren.
Die versammelten Ökologen, Insektenkundler und Mediziner, Lichtdesigner, Astronomen und Juristen waren sich einig: Seit Erfinder wie Thomas Edison vor gut 130 Jahren die Kraft der Glühbirne entfachten, haben sie das Leben auf dem Planeten in ein Großexperiment gestürzt, das jeden Tag an Brisanz gewinnt. Sein Ausgang: ungewiss. Über Jahrmillionen war die Dunkelheit Teil allen Lebens. Plötzlich fehlt sie.
Jedes Jahr nehme die Lichtflut um rund sechs Prozent zu, weil die Gemeinden unaufhaltsam mehr und noch mehr Kunstlicht installierten, klagt der Berliner Gewässerökologe Franz Hölker, 49. Und demnächst stehe an der Lichtfront eine weitere Zuspitzung bevor: Ab 2015 müssen die Gemeinden EU-weit ihre alten Quecksilberdampflampen nach und nach entsorgen. Die meisten Kommunen werden diese ersetzen durch sehr sparsame und wesentlich hellere LED-Leuchten. Wenn sich der bisherige Trend fortsetzt, werden viele Kommunen versucht sein, sich angesichts des geringeren Stromverbrauchs mehr Strahler zu gönnen.
Das viele Nachtlicht, so viel ist sicher, fordert Opfer. Myriaden Insekten sterben jedes Jahr an Straßenlaternen - oder in den Netzen der dort in unnatürlichen Mengen hausenden Spinnen. Die Insekten fehlen dann als Futter für viele höhere Tiere in der Nahrungskette. Vögel wiederum lassen sich vom Lichtsmog verwirren und kollidieren mit hell strahlenden Hochhäusern. Manche Fledermäuse meiden das Licht wie Dracula und flüchten in dunklere Gefilde. Viele Nachtfalter verweigern die Fortpflanzung im hellen Schein. "Die Artenvielfalt in vielen beleuchteten Gebieten", sagt Hölker, "nimmt ab."
Auch die Menschen leiden. Seit Adam und Eva haben die Gestirne der Menschheit den Weg gewiesen, sie zu Kalendern, Mythen und Religionen inspiriert. Noch vor 50 Jahren gehörte die Milchstraße für die meisten Menschen zum gewohnten Anblick des Abendhimmels. Heute offenbart sie sich nur noch wenigen. 44 Prozent der Deutschen unter 30 Jahren haben die Milchstraße noch nie mit eigenen Augen gesehen.
Mediziner untersuchen, wie sehr das Dauerlicht Menschen körperlich in Mitleidenschaft zieht. Besonders die Wellenlängen vieler LED-Lampen im blauen Bereich greifen direkt in den Hormonhaushalt des Menschen ein, weil sie die Produktion des Schlafhormons Melatonin unterdrücken. Damit ist der Körper auch eines natürlichen Schutzes vor Tumoren beraubt.
Der 24-Stunden-Tag, vermuten Mediziner wie der Amerikaner Richard Stevens, könne einen Teil der Brustkrebsepidemie erklären. Und vielleicht führt der Lichtsmog indirekt zu mehr Fällen von Darm- und Prostatakrebs, zu Diabetes und Fettleibigkeit - alles wegen eines gestörten Hormonhaushalts.
Lichtfrevler sind insbesondere so hemmungslos strahlende Städte wie Shanghai, Dubai und Tokio oder die Metropolen an der amerikanischen Ostküste. Ihre Sünden verblassen aber im Vergleich zu Europa: Dicht besiedelt und hell erleuchtet sind die Länder des alten Kontinents "die größten Übeltäter weltweit", wie Dark-Sky-Chef Bob Parks, 57, sagt. Als einige der schlimmsten Lichtverschmutzer überhaupt gelten Belgien, Portugal und Italien.
Auch die Niederländer richten ein Lichtinferno an. Ein Quadratkilometer holländischer Tomatengewächshäuser strahlt in der Nacht 46-mal so grell wie eine vergleichbare Fläche in Manhattan und 211-mal so stark wie ein gleich großer Ausschnitt von Berlin-Mitte.
Viele der Konferenzteilnehmer in Berlin lobten die deutsche Hauptstadt über die Maßen. Natürlich ist Berlin hell, aber kaum eine andere Metropole geht so behutsam mit ihrem Nachthimmel um. Die hochverschuldete Stadt hat sich in einem Lichtkonzept dazu verpflichtet, nur so hell zu scheinen wie nötig. Ohne diese bewusste Zurückhaltung wäre das Himmelswunder vom Westhavelland längst dem Untergang geweiht.
Am Tag sind Ost- und West-Berlin zusammengewachsen. Nachts aber tritt der Osten der Stadt auf Luftaufnahmen als Teil von Dunkel-Deutschland hervor. Grellster Punkt Berlins ist heute der Flughafen Tegel. Kurz dahinter: der Pannenflughafen BER, bei dem sich über Monate hinweg das Licht nachts einfach nicht ausschalten ließ.
An die Spitze der Anti-Lichtsmog-Bewegung aber hat sich Frankreich gesetzt mit einer Reihe von aufsehenerregenden Gesetzen. Seit Juli müssen Büros ihr Licht löschen, eine Stunde nachdem der letzte Angestellte das Gebäude verlassen hat. Geschäfte und die Fassaden öffentlicher Gebäude müssen ab ein Uhr nachts ganz auf Beleuchtung verzichten; selbst die Leuchtreklamen werden dann schwarz.
Pro Jahr spart Frankreich durch diese Maßnahmen so viel Strom ein, wie 750 000 Haushalte verbrauchen. Bald sollen die Kommunen in der Nacht auch ihre Straßenbeleuchtung dimmen oder gar ganz abschalten.
Das Beispiel Frankreichs, hofft Dark-Sky-Chef Parks, könnte Schule machen. Der Anreiz zum Verzicht auf Kunstlicht sei "derzeit so stark wie nie". Die Stromkosten steigen permanent, die Wirtschaftsmisere zwingt viele Staaten zum eisernen Sparkurs, und der Klimawandel drängt viele Regierungen dahin, ihren Energieverbrauch zu beschränken. Doch die Retter der Nacht haben auch mächtige Gegner. Wer Licht löscht, der schont zwar seinen Haushalt und schützt die Natur - viele Bewohner bringt er aber gegen sich auf. Die meisten Menschen fühlen sich sicherer in gutausgeleuchteten Orten. Oft unterliegen sie dabei aber einer Selbsttäuschung. Wenn die Beleuchtung verringert wird, steigt die Verbrechensrate keineswegs, wohl aber steigt die Angst vor Kriminalität.
Und für den Autoverkehr gilt: Die meisten Unfälle passieren am Tag. Außerhalb von Gefahrenzonen konnten Forscher nicht belegen, dass Straßenbeleuchtung die Verkehrssicherheit erhöht. Im Gegenteil: Wer nachts auf der dunklen Landstraße in eine beleuchtete Ortschaft fährt, ist zunächst geblendet. Und nach Verlassen des Siedlungsraums müssen sich die Augen erst langsam wieder an die Dunkelheit gewöhnen.
Retter der Nacht bevölkern nicht nur die Provinz im Westhavelland, sondern auch anderswo - und zwar in Gestalt engagierter Einzelkämpfer. Auf der Schwäbischen Alb führt der Ingenieur und Hobbyastronom Matthias Engel den Kampf gegen die Lichtflut an. Im Nationalpark Eifel wiederum versucht der Kölner Harald Bardenhagen, 55, einen Dark-Sky-Sternenpark samt Sternwarte zu errichten. Unermüdlich zieht der Gründer einer "Astronomie-Werkstatt" von Ort zu Ort, um die rund 30 benachbarten Bürgermeister vom Reiz der Dunkelheit zu überzeugen - eine kaum lösbare Aufgabe.
Mit gleicher Vehemenz kämpft die Verwaltungsangestellte Sabine Frank, 42, um einen Sternenpark im Biosphärenreservat Rhön. "Es kann doch nicht sein", sagt sie, "dass der Naturschutz hier um 17 Uhr aufhört." Furchtlos und mit einigem Erfolg legt sie sich an mit gleich 80 Gemeinden, fünf Landkreisen, den Verwaltungen der drei Anrainerbundesländer (Hessen, Thüringen und Bayern) - und mit der katholischen Kirche.
Lichttechnisch, so hat Sabine Frank erfahren müssen, ist aber vor allem das Bistum Fulda von Starrsinn geprägt. Es beharrt darauf, seine Gotteshäuser in der Rhön nächtelang anzustrahlen - mit riesigen Scheinwerfern, die vor allem den Himmel beleuchten und dort die Vögel plagen. Ihr Appell, doch einmal an die Wahrung der Schöpfung zu denken, blieb bislang ein frommer Wunsch.