RAUBKUNST Schatzsuche im Depot
Das schwere Erbe ist aus purem Silber: Serviettenringe, Löffel, Armreifen, Babyrasseln. Zierliche Pretiosen, die im Depot des Märkischen Museums im Osten Berlins lagern. Einst hatten sie jüdische Haushalte geschmückt.
Dann befahl Hitlers Gehilfe Hermann Göring am 21. Februar 1939 per Dekret: Binnen zwei Wochen müßten jüdische Bürger jeglichen Schmuck, jedes Stück Zierat aus Gold, Silber oder Platin bei städtischen Pfandleihern abliefern.
Alles Edelmetall sollte eingeschmolzen werden und zu Barren geformt die Kriegskassen füllen. Fast alles. Zuvor durften Museumsdirektoren aus dem Hausrat und Geschmeide die schönsten Stücke aussortieren. Eine unmoralische Offerte zu Dumping-Konditionen: Bezahlen mußten die Herren gerade einmal den Metallwert.
Auch Walter Stengel, seinerzeit Leiter des Märkischen Museums, griff zu. Der Kunsthistoriker mit Vorliebe für Silbernes packte edle Schalen, Besteck, klassizistische Leuchter - insgesamt 5000 Objekte. Gewissenhaft archivierte er den Zugang.
Allzu lohnend war der Raub nicht. Zwar lagerte Stengel seine Exponate bei Kriegsbeginn im Bunker der Berliner Reichsbank ein, doch 1945 fand er sie nicht mehr vor. Das meiste Silber ist seither verschollen - bis auf 550 weniger kostbare Objekte, die im Museum zurückgeblieben waren.
Zu DDR-Zeiten nutzte Stengel das Rest-Silber als Trophäe seiner "Rettungsaktion", zu der er den Großeinkauf 1953 in der Haus-Chronik verklärte.
Weder Stengel noch der DDR-Regierung kam es in den sozialistischen Sinn, die verwaisten Stücke etwa an jüdische Organisationen zu übergeben: Reue und Restitution wurden dem Westen überlassen. Aber auch in der jungen Bundesrepublik ging leer aus, wer seinen Kunstbesitz bis zum April 1959 nicht reklamiert hatte.
All jene, die ihre Schätze auf DDR-Terrain verschollen glaubten, mußten warten. Bis zur Wiedervereinigung - und länger. Forderungen waren schon bis 1993 anzumelden. Dann aber entschieden die Vermögensämter über strittige Immobilien.
Künftig aber, kündigt das Bundesvermögensamt in Berlin an, widmen sich ihre Filialen mit "voller Kraft" der Kategorie "Bewegliches Vermögen": enteigneten Konten, Patentrechten oder Kunstwerken.
Mehrere hundert Kunstobjekte fordert bislang allein die Jewish Claims Conference ein. Die Organisation darf in der Ex-DDR - wie einst in der Nachkriegs-Bundesrepublik - erbloses jüdisches Vermögen beanspruchen. Beim Vermögensamt gab der Verband 1993 einen Blanko-Antrag ab, um die detaillierte Suche nach jüdischem Besitz in Ruhe fortsetzen zu können.
Der Aufschub war, was die Raubkunst betrifft, vonnöten. "Die Recherche ist unglaublich schwierig", sagt Anja Heuß, Mitarbeiterin der Jewish Claims Conference.
Hunderte von jüdischen Sammlungen wurden von den Nazis konfisziert, viele Schätze an Museen verteilt oder im In- und Ausland verhökert. Nach dem Krieg bediente sich die Rote Armee in den Kunstkammern der Ostzone. "Wie soll der Besitzer, geschweige denn ein Nachkomme, da ahnen", so der Berliner Anwalt und Restitutionsspezialist Jost von Trott, "in welchem Depot sich ein Gemälde 60 Jahre nach dem Raub versteckt?" Jeder Fund, sagt er, werde zum seltenen Glücksfall.
Die Geplünderten und ihre Nachkommen sind auf die Mithilfe der Ost-Museen angewiesen. Doch der Kooperationswille ist offenbar nicht allzu stark.
Als Heuß 1992 erste Anfragen stellte, antworteten viele Museen gar nicht oder beteuerten die Jungfräulichkeit der Bestände. Fortan forschte sie auf eigene Faust und legte Beweise vor - kaum ein Traditionshaus auf dem Terrain der Ex-DDR, in dem sie nicht fündig wurde.
Im Märkischen Museum, das als eines der wenigen Institute sofort auf alle Hinweise reagierte, kamen neben dem Stengel-Silber auch verdächtiges Porzellan, ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert und ein Renaissance-Schrank zum Vorschein.
In den Städtischen Sammlungen in Görlitz spürte Heuß eine Plastik von Georg Kolbe und Gemälde von Fritz von Uhde und Max Slevogt auf: Die Werke waren bei Breslauer Juden konfisziert worden. Die Behörden müssen noch prüfen - doch die Provenienz, gibt Museumschefin Annerose Klammt zu, sei kaum zu widerlegen.
Ein Gemälde des deutschen Impressionisten Lovis Corinth, "Frau mit Lilie", schickte sie in diesem Jahr an die Erben eines Breslauer Sammlers zurück. Euphorie, sich in später Gerechtigkeit zu üben, kam offenbar nicht auf. "Niemand trennt sich gern von wichtigen Exponaten", sagt Klammt.
Auch das Staatliche Museum Schwerin bekümmert vor allem eine baldige Lücke im Bestand: Eines seiner Highlights, eine seltene Statuette aus Böttger-Steinzeug, gehörte einst zum Vermächtnis der jüdischen Sammlerin Emma Budge. Deren Kunstschätze wurden 1937 versteigert, um den Erben - solange sie die Chance hatten - Auswanderung samt Reichsfluchtsteuer zu finanzieren. Nun gesteht Museumsdirektorin Kornelia von Berswordt ein, sie würde "ungern" auf das Glanzstück verzichten.
Herwig Guratzsch, Direktor des Museums der Bildenden Künste in Leipzig, ärgert sich vor allem über die "plötzliche Arbeitsbelastung". Ob ein Werk 1939 oder 1941 erstanden wurde, habe doch "früher auch niemanden interessiert".
Heuß von der Jewish Claims Conference interessierte sich sehr wohl - und erhielt "bis heute keine Auskünfte". Trotzdem spürte sie verfängliche Werke auf. Eines davon ist Max Klingers Gemälde "Die Lautenspielerin". Besitzerin war die Jüdin Claire Kirstein. Heuß fand heraus, daß sich die Frau 1939 umbrachte, als sie erfuhr, daß die Gestapo sie am nächsten Tag abholen würde. Als die NS-Schergen kamen, nahmen sie ungerührt Kirsteins Sammlung an sich. Im selben Jahr ging das Bild in das heute so verschwiegene Leipziger Museum ein.
"Entgegenkommen" geloben die Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, die 1992 mit 14 Ost-Sammlungen fusionierten. Schon 1993 benachrichtigte der Präsident der Stiftung die Jewish Claims Conference über "in Verdacht stehende Komplexe": darunter antike Vasen, die wohl Baron Maurice de Rothschild aus Paris gehörten und zeitweise Hermann Görings Villa Karinhall dekorierten.
Doch für weitere Nachforschungen wurde der Jewish-Claims-Conference-Abgesandten Heuß nur zögernd Zugang zu den Inventarräumen gewährt. Als sie doch eintreten durfte, identifizierte sie Fayencen, Porzellan und Silberobjekte als Besitz jüdischer NS-Opfer.
1997 stieß sie auf eine Van-Gogh-Zeichnung. Das Blatt, auf einen Wert von acht Millionen Dollar geschätzt, stammte aus der Sammlung des Breslauer Juden Max Silberberg. Eine Schwiegertochter Silberbergs aus Großbritannien entdeckte in Berlin weiteres Familiengut: das Gemälde "Selbstbildnis/Mann mit gelbem Hut" vom Symbolisten Hans von Marées.
Das richtige Bild hing am falschen Ort - seit Jahrzehnten gehörte es zum Bestand der Neuen Nationalgalerie im Westteil Berlins. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik sind alle Fristen verjährt. Doch verspricht die Stiftung, "sich nicht an Gesetze zu klammern".
Auch andernorts regt sich im Westen das Gewissen, auf naziverbrämter Kunst zu sitzen. Beschleunigt hat den Sinneswandel die Holocaust-Konferenz in Washington Ende 1998. Der Jüdische Weltkongreß nahm 44 Staaten das Versprechen ab, endlich den größten Kunstraub des Jahrhunderts aufzuklären.
Die Londoner National Gallery enttarnt dubiose Werke, Frankreich publiziert Beutekunst im Internet. Österreich gab große Bestände zurück. Die Deutschen erklärten bislang nur ihre gute Absicht.
Um "wirklich jeden Fall" von Raubkunst aufzuklären, erwägt das Team von Kultur-Staatsminister Michael Naumann gar Gesetzesänderungen - jedoch, schränkt Naumanns Beutekunstexperte Herbert Güttler ein, brauche alles seine Zeit.
Dem Kölner Kunsthistoriker Clemens Toussaint wäre an staatlicher Hilfe gelegen. Seit 15 Jahren forscht er nach verlorenem Kunstgut. Einer seiner Auftraggeber ist der Sohn eines jüdischen Bankiers aus Berlin. Dessen Kunstschätze wurden 1941 zwangsversteigert. Toussaint entdeckte eines der Werke, ein Bild von Claude Monet, in einer deutschen Privatsammlung. Nun harrt er der angekündigten Gerechtigkeit und hofft, daß das Bild nicht vorher "auf mysteriöse Weise verschwindet". ULRIKE KNÖFEL