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Es schien nicht allzu kompliziert zu sein, nach Deutschland einzuwandern: Als Enio Alburez, Ingenieur aus Guatemala, im Frühjahr davon hörte, dass er ein Visum bekommen könne, um in Deutschland einen Job zu suchen, buchte er einen Flug nach Berlin und ging zur deutschen Botschaft in Guatemala-Stadt.
Alburez fragte nach dem Papier - aber die Mitarbeiter zuckten mit den Schultern. Sie hatten von dem "Jobseeker-Visum" noch nichts gehört, das es seit August 2012 für Nicht-EU-Bürger gibt, versprachen jedoch, den Fall zu prüfen. Es verstrich eine Woche, eine zweite, sechs Wochen lang wartete Alburez vergebens auf eine Nachricht aus der Botschaft. Dann reiste der 25-Jährige, der in seiner Heimat an der Österreichischen Schule Deutsch gelernt hatte, als Tourist nach Deutschland; der Flug war schließlich gebucht.
Als er in Berlin angekommen war, meldete sich die Botschaft aus Guatemala bei ihm: Das Jobseeker-Visum sei nun genehmigt. Leider müsse Alburez nach Guatemala fliegen, um es in den Pass kleben zu lassen. Ansonsten bekomme er in Deutschland weder eine Aufenthalts- noch eine Arbeitsgenehmigung.
"Es war schon verrückt, dass ich den Botschaftsleuten erklären musste, welche Möglichkeiten es in Deutschland gibt", sagt Alburez. Er flog also nach Guatemala-Stadt, nahm an der Botschaft das Jobseeker-Visum entgegen und kehrte nach Berlin zurück. Er bewarb sich bei verschiedenen Unternehmen, vom Autozulieferer Continental in Hannover bekam er eine Zusage. Er suchte sich eine Wohnung und tauschte das Visum gegen eine langfristige Aufenthaltserlaubnis ein.
Deutschland hat gerade erst begonnen, ein Einwanderungsland zu werden. Nach und nach bauen Politiker die Hürden für Neuankömmlinge ab. Mit dem Jobseeker-Visum können ausländische Hochschulabsolventen in Deutschland auf Arbeitssuche gehen, ein halbes Jahr lang; wer eine Stelle mit einem Bruttojahresgehalt von mehr als 46 000 Euro vorweisen kann, darf bleiben. Die Bundesregierung aus Union und FDP senkte die Grenze, die Dumpinglöhne verhindern soll, im Jahr 2012 um 20 000 Euro. Sie erließ zudem eine neue "Beschäftigungsverordnung", die auch ausländischen Nichtakademikern das Arbeiten in Deutschland erleichtert. Schwarz-Rot will diesen Kurs fortsetzen: Der Koalitionsvertrag verspricht weitere Angebote an Einwanderer. Insbesondere die Beratung in den Behörden soll verbessert werden.
Laut OECD hat Deutschland mittlerweile eines der liberalsten Zuwanderungsgesetze für hochqualifizierte Migranten. Und dennoch gelingt es selten, Talente wie Enio Alburez aus Guatemala hierherzulocken.
Zwar zogen 2012 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland, so viele wie lange nicht mehr. Doch knapp zwei Drittel der Migranten kommen aus EU-Staaten. Viele fliehen vor der Wirtschaftskrise in ihrer Heimat. Fachleute gehen davon aus, dass der Zuzug erlahmen wird, sobald sich die Lage in Südeuropa entspannt. Die gegenwärtige Migration europäischer Krisenflüchtlinge sei nicht von Dauer, sagt der Migrationsforscher Klaus Bade. Sie täusche darüber hinweg, dass Deutschland dringend mehr Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten gewinnen müsse.
2012 waren 155 000 Stellen für hochqualifizierte Arbeitskräfte wie Techniker, Ingenieure oder Informatiker unbesetzt. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 2010 wird das Potential an erwerbsfähigen Menschen in Deutschland bis 2025 um 6,5 Millionen sinken.
Bevölkerungswissenschaftler schätzen: Nur wenn jedes Jahr 400 000 Menschen mehr zu- als abwandern, kann Deutschland seine Wirtschaftskraft erhalten. Zwischen August 2012 und Juni 2013 sind allerdings lediglich 2500 Hochqualifizierte aus dem nichteuropäischen Ausland gekommen - mit Hilfe der Blauen Karte EU. Insgesamt lassen sich pro Jahr lediglich 25 000 Arbeitsmigranten aus Nicht-EU-Staaten in Deutschland nieder. In Kanada und Neuseeland ist der Wert, gemessen an der Einwohnerzahl, etwa zehnmal so hoch.
"Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, Scharen von Hochqualifizierten warteten nur auf eine Einwanderungschance nach Deutschland", mahnte der frühere Integrationsminister Nordrhein-Westfalens, Armin Laschet (CDU), bereits vor zwei Jahren. Deutschland sei, trotz der hohen Wirtschaftskraft und des Lebensstandards, beim Werben um Talente aus aller Welt nicht hinreichend wettbewerbsfähig, urteilt die OECD. Und das hat nach der Ansicht von Experten vor allem vier Gründe:
1. Die abschreckende Bürokratie
Es gibt etwas, was Yvonne Anders nicht mag: "Deutsche Formulare!" Angaben über dies, das und jenes, viele Seiten, zusätzliche Dokumente, mal sind Übersetzungen gewünscht, mal nicht - ohne einen Experten schickt sie die Papiere nicht mehr ab. Anders arbeitet als Personalmanagerin für Adidas. Sie sucht nach Fachkräften in Europa, im Mittleren Osten und in Afrika. Selbst ein Konzern wie Adidas findet neue Mitarbeiter nur noch selten in Deutschland, vor allem IT-Experten und Designer.
Interessiert sich Adidas für ein Talent, beginnt für Yvonne Anders der Kampf mit der Bürokratie: Jobseeker-Visum, Entsendestatus, befristete Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis, Anerkennungsverfahren - selbst sie hat Probleme, die Bestimmungen noch auseinanderzuhalten. "Wenn das für uns schon komplex ist, wie sollen es dann Menschen aus China, Russland oder Serbien können?"
Viele große Unternehmen beauftragen spezialisierte Agenturen damit, für ihre ausländischen Mitarbeiter den rechtlichen und bürokratischen Aufwand zu erledigen - weil es sie mehr Geld und Zeit kosten würde, sich über die neuesten Gesetze und Verordnungen zu informieren und Kontakt zu den Behörden zu halten.
Oliver Clapham betreibt schon seit Jahren in der Nähe von Frankfurt am Main eine sogenannte Relocation-Agentur. Er kümmert sich für seine Kunden um alles, vom Visum bis zur Wohnung. Aber auch er verzweifelt manchmal: Die Ausländerbehörden und Arbeitsagenturen seien unterbesetzt, so dass seine Anträge nur stark verzögert bearbeitet werden. "Oft warte ich monatelang, nur um einen Termin zu bekommen, bei dem eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werden soll." Manchmal mussten Bewerber dann vorläufig als Touristen einreisen - oder sie entschieden sich für ein anderes Land.
Die OECD fordert die Bundesregierung auf, Arbeitsmigration zu fördern. Manche Experten plädieren für ein Punktesystem, das die Zuwanderung steuert, so wie in Kanada oder Australien. Es würde internationalen Studenten und potentiellen Einwanderern gleichermaßen transparent machen, welche Kriterien erwünscht sind, etwa auf einer zentralen Website. Punkte könnte es für eine bestimmte Berufsqualifikation geben, für einen Studienabschluss oder für Sprachkenntnisse - und wer ausreichend viele Punkte gesammelt hat, kann einwandern.
2. Die schwierige Anerkennung der Abschlüsse
Das im April 2012 in Kraft getretene Anerkennungsgesetz sollte ein transparentes Verfahren für die Bewertung ausländischer Berufsausbildungen garantieren. Rund 30 000 Menschen haben im ersten Jahr einen Antrag auf Überprüfung ihres Abschlusses gestellt. Dabei könnten zehnmal so viele von der Regelung profitieren. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) spricht dennoch von einem "wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung".
Die Augsburger Integrationsexpertin Bettina Englmann sieht das anders: "Die Bundesregierung hat viel versprochen, aber das Ergebnis ist enttäuschend", sagt sie. Englmann hatte 2007 mit ihrer Studie "Brain Waste" den Anstoß für eine neue Regelung gegeben. Sie kritisiert, das Gesetz gelte bei weitem nicht für alle Berufe und nicht in ganz Deutschland einheitlich. Für Ausbildungsberufe, etwa in Industrie und Handel, ist der Bund zuständig. Für Lehrer, Ingenieure, Erzieher sind dagegen die Bundesländer verantwortlich. Das Chaos sei weiterhin groß.
Und auch dort, wo das Gesetz greife, zum Beispiel bei den Gesundheitsberufen, fehle es an klaren Leitlinien dafür, wie Abschlüsse in Deutschland anerkannt werden könnten, beanstandet der Sachverständigenrat für Integration und Migration in einem Gutachten. Der Verwaltung fehle Personal. "Für Außenstehende" sei das System bei den Heilberufen "praktisch undurchschaubar". Auch Union und SPD sehen Handlungsbedarf: Das Potential von Zuwanderern liege "noch zu oft brach", heißt es im Koalitionsvertrag.
3. Die mangelhafte Umsetzung der Reformen
Die "Willkommenskultur", von der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gern spricht, ist in vielen Ämtern noch nicht etabliert. Häufig beherrscht dort kaum jemand gut Englisch oder eine andere Fremdsprache. Einwanderer werden wie Bittsteller behandelt.
Vergangenen Juni trat der damalige bayerische Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) auf einer Podiumsdiskussion der Universität Passau auf: "Study and stay in Bavaria". Er warb für den exzellenten Hochschulstandort Bayern, die herausragenden Bedingungen für Studenten aus dem Ausland. Nach Zeils Rede stand Carlos García, 27, auf, ein Gaststudent aus Venezuela. Seine Hand zitterte, als er zum Mikrofon griff. Die Behörden hätten ihn wie einen Eindringling behandelt, erzählte er. Sie hätten alles unternommen, um ihn loszuwerden.
García war vor zehn Jahren als Austauschschüler nach Passau gekommen. Er leistete ein Freiwilliges Soziales Jahr, besuchte das Studienkolleg in München und begann, in Passau Wirtschaft zu studieren. Er fühlte sich wohl in Bayern, fand Freunde.
Die Schikane in den Ämtern jedoch, sagt García, habe ihn "zermürbt". Er bekam seine Aufenthaltserlaubnis jeweils nur für wenige Monate verlängert. Andernfalls, hieß es, könne er die deutsche Großzügigkeit ausnutzen und versuchen, in der Bundesrepublik zu arbeiten. Wenn er sich um die Genehmigung für ein Praktikum bewarb, sagte man ihm, er sei hier, um zu studieren.
García schickte einen Brief an den Passauer Oberbürgermeister. Er schrieb, dass er davon träume, eingebürgert zu werden und eine Firma zu gründen: "Für mich ist die Zukunft hier. Ich möchte mich frei bewegen und mehr für mein Dasein leisten dürfen." Der SPD-Mann antwortete, dass er leider nichts für García tun könne. Für Studenten wie ihn sei die Rückkehr ins Heimatland vorgesehen.
4. Die zögerlichen Unternehmen
Laut einer Studie der OECD hatten zwischen Juli 2010 und Juli 2011 neun von zehn deutschen Unternehmen offene Stellen, doch nur jedes vierte machte sich auch außerhalb Deutschlands auf die Suche. Bei Klein- und Mittelständlern zogen dies gerade mal ein bis zwei von zehn in Betracht. Viele Unternehmen fürchten, dass es schwierig, unsicher und teuer sei, Personal aus dem Ausland anzuwerben.
"Kleine und mittelständische Firmen können sich diesen Aufwand nicht leisten", sagt Volker Steinmaier vom Arbeitgeberverband Südwestmetall. Er vertritt Unternehmen, die momentan große Probleme haben, ihre freien Stellen mit Fachkräften zu besetzen: Produktionsbetriebe, Tüftlerfirmen. Im Ausland zu suchen sei viel zu aufwendig, sagt Steinmaier. Jobmessen im Ausland, Netzwerke zu ausländischen Hochschulen, Kontakte zu ausländischen Arbeitsverwaltungen: "Das kann kaum ein Betrieb leisten."
Konzerne wie die Allianz tun sich leichter. Das Unternehmen organisiert in seiner Münchner Zentrale "Welcome Days". Neuen Mitarbeitern werden sogenannte Buddys an die Seite gestellt, die bei der Orientierung helfen sollen. "Unternehmen wie Politik müssen die Rahmenbedingungen für diejenigen verbessern, die mit ihrem Wissen und ihrer Expertise zu Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit beitragen können", sagt Werner Zedelius, Vorstandsmitglied der Allianz.
Deutschland muss lernen, Einwanderer zu umwerben. Dies bedeutet nicht weniger, als eine neue Kultur in der Gesellschaft zu verankern - in Ämtern, unter Politikern und Personalchefs.
Dazu zählt für Allianz-Vorstand Zedelius, die Vorteile Deutschlands zu vermarkten. Das habe man "vielleicht bisher noch nicht richtig" getan. "Die Bundesregierung verhält sich viel zu defensiv", sagt auch Christine Langenfeld, die Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Es fehle ein modernes "Zuwanderungsmarketing". Erleichterungen wie die Blaue Karte seien im Ausland viel zu wenig bekanntgemacht worden. "Die Reformen gehören ins Schaufenster", fordert Langenfeld, "und nicht unter den Ladentisch."