Nato Szenario mit bitterem Ende
Es waren große Worte, wie in Stein gemeißelt. "Unsere Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung ist felsenfest, jetzt und auch in der Zukunft", sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen vor gut einer Woche, einmal in Polens Hauptstadt Warschau und noch am selben Tag fast wortgleich in Estlands Hauptstadt Tallinn. Zuvor hatte der US-Botschafter in Lettland auf einer dortigen Militärbasis vor lettischen und amerikanischen Soldaten ebenso kernig geklungen: Die Nato-Partner und Lettland stünden "Schulter an Schulter".
Es waren gut gemeinte, aber ziemlich leere Worte, mehr ein Pfeifen im Wald. Die Balten und die Polen ahnen das. Der Nato-Generalsekretär weiß es.
Im Kern besteht das westliche Verteidigungsbündnis aus einem Versprechen, das sich die 28 Mitgliedstaaten in Artikel 5 des Nato-Vertrags gegenseitig geben: Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle. Der Artikel legt fest, dass im sogenannten Bündnisfall jeder Mitgliedstaat nach seinen Möglichkeiten dem attackierten Nato-Partner zur Hilfe eilen soll. Wegen mehrerer Granatenangriffe aus dem benachbarten Syrien erwog zuletzt die Türkei Ende 2012, Hilfe unter Artikel 5 anzufordern. Seitdem stehen auch zwei deutsche Staffeln "Patriot"-Luftabwehrraketen dort als Schutz.
Was also, wenn die Balten Artikel 5 "ziehen", wie es im Nato-Jargon heißt. Was, wenn es Russland auf eine Destabilisierung baltischer Staaten mitsamt militärischen Drohgebärden anlegt? Oder gar die Grenzen zu Estland und Lettland verletzt?
Diese Szenarien werden in der Nato derzeit ausführlich diskutiert, ebenso im Berliner Verteidigungsministerium. "Russlands Fähigkeit und Absicht, ohne große Vorwarnung bedeutsame Militäraktionen zu unternehmen, stellt eine weitreichende Bedrohung für den Erhalt von Sicherheit und Stabilität in der Euro-Atlantischen Zone dar", heißt es nach SPIEGEL-Informationen im Entwurf für eine umfassende, geheime Nato-Bestandsaufnahme. "Russland ist fähig, kurzfristig und an beliebigem Ort eine militärische Bedrohung von lokaler oder regionaler Größe aufzubauen. Das ist sowohl destabilisierend als auch bedrohlich für jene Alliierten, die eine Grenze mit Russland haben oder in seiner nahen Nachbarschaft leben."
Vor sechs Monaten wären solche Sätze in einem Nato-Papier kaum denkbar gewesen. Aber die Krise erst auf der Krim und nun in der Ostukraine hat viele Gewissheiten infrage gestellt. Auch die, dass es einen bewaffneten Konflikt in Mitteleuropa nie mehr geben wird.
Verschiedene Papiere werden in diesen Tagen von den zuständigen Militärs und den politischen Abteilungen der Nato zusammengefasst, manche davon unter den höchsten Geheimhaltungsstufen, wie es heißt. Anfang der Woche sollen die Berichte an die politische Spitze der Nato in Brüssel übermittelt werden, am 3. und 4. Juni tagen die Verteidigungsminister des Bündnisses, wenig später die Außenminister. Auch wenn die Texte wie in solchen Fällen üblich diplomatisch noch ein wenig entschärft werden dürften, bleiben sie so ernüchternd wie brisant. Vermutlich sind sie der Beginn einer langen Debatte über die Handlungsfähigkeit der Nato, ihre strategische Ausrichtung und die Höhe der nationalen Verteidigungsbudgets.
Zugrunde liegt ein in Nato- und Regierungskreisen übereinstimmend bestätigtes Lagebild: Das Bündnis sähe sich derzeit außerstande, das Baltikum mit konventionellen Mitteln zu verteidigen, also mit Panzern, Flugzeugen und Bodentruppen. Eine Nato-Sprecherin sagt dazu: "Wir überarbeiten und aktualisieren derzeit unsere Verteidigungspläne und erwägen auch längerfristige Maßnahmen."
Der langjährige EU-Außenexperte Elmar Brok (CDU) hingegen spricht es aus: "Als die baltischen Staaten in die Nato aufgenommen wurden, gab es keine militärische Bedrohung durch Russland. Das Bündnis hat sich an das Abkommen mit Russland gehalten und keine Truppen östlich der Elbe stationiert. Da sich die Politik Putins nun zu ändern scheint, muss die Nato eine Antwort finden. Derzeit könnte das Bündnis das Baltikum mit konventionellen militärischen Mitteln nicht schützen."
Das ist der entscheidende Satz, und im Berliner Verteidigungs- und Außenministerium sieht man es genauso. Es würde etwa ein halbes Jahr vergehen, bevor die Bündnisstaaten - wenn überhaupt - zu einer angemessenen Reaktion fähig wären. "Wir kämen nicht einmal rechtzeitig zur Siegesfeier der Russen", sagt ein Regierungsexperte. Die existierenden, vagen Einsatzpläne seien "alle veraltet". Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr steht mittlerweile in engem Kontakt mit der Nato, so soll möglichst rasch wenigstens ein Notfallkonzept erarbeitet werden.
Politisch jedoch fürchtet die Bundesregierung eine Diskussion über neue westliche Militärpläne. Im Konflikt mit Russland setzen Kanzlerin und Außenminister auf Diplomatie mit langem Atem. Was Russland als Muskelspiel des Westens verstehen könnte, führe "direkt ins Desaster", heißt es in Berlin. Noch dazu sei es in der deutschen Bevölkerung höchst unpopulär, die Nato unter der Prämisse aufzuwerten, dass der Westen sich auch für eine militärische Auseinandersetzung mit Russland wappnen müsse. Eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben kommt für die Kanzlerin nicht infrage. Eine unkontrollierbare deutsche Debatte unter dem Motto "Sterben für das Baltikum?" erst recht nicht.
Am Problem ändert das nichts. Wäre die Nato trotz der feierlichen Artikel-5-Verpflichtung unfähig, ebenbürtig auf ein Vordringen Russlands zu reagieren, könnte das Bündnis daran zugrunde gehen. Es hätte jenes Versprechen gebrochen, das seine Existenz rechtfertigt.
Ist es womöglich genau das, was Russlands Präsident Wladimir Putin anstrebt, fragt man sich in der Bundesregierung. Die Ausdehnung der Nato auf das Territorium ehemaliger Sowjetrepubliken und Staaten des Warschauer Paktes war aus seiner Sicht die zentrale Demütigung und Provokation für Russland. Sie befeuerte alle echten oder vermeintlichen Ängste vor Einkreisung. Wenn er könnte, würde Putin die Nato-Osterweiterung rückgängig machen, so die Einschätzung Angela Merkels.
Die Kanzlerin hat zwar mehrfach öffentlich betont, dass die Sicherheitsgarantie des Nato-Artikels 5 gilt. Aber da auch sie das Szenario eines Angriffs auf das Baltikum schon bis zum bitteren Ende durchdacht hat, ist die Furcht vor dem Fall des Falles groß. Selbst Merkel weiß nicht, was für Putin wirklich noch tabu ist.
Das Ganze, so sagt einer aus dem Regierungslager, erinnere an die Höhepunkte der Euro-Krise im Jahr 2012. Damals galt das Auseinanderbrechen des Euro als so unwahrscheinlich wie jetzt ein militärischer Angriff Russlands auf das Baltikum. Dennoch rechnete das Bundesfinanzministerium vorbeugend durch, welche Folgen ein Ende des Euro hätte. Heute geht es um das westliche Verteidigungsbündnis. Der Unterschied: 2012 hatten es Regierungen und Euro-Zentralbank in der Hand, den Euro zu retten. In der Ukraine-Krise jedoch führt Russland Regie. Balten und Polen fühlen sich ausgeliefert.
Und Wladimir Putin zündelt in der Region bereits, so nimmt es zumindest die Bundesregierung wahr. Ein Abkommen zum Austausch militärischer Daten mit Lettland ließ der russische Präsident kündigen. Vor knapp zwei Wochen unterzeichnete er einen Erlass, den im Baltikum noch lebenden Weltkriegsveteranen der Roten Armee bis zu ihrem Tod eine Art Ehrensold aus seiner Staatskasse zu gewähren - allerdings nur jenen mit speziellen Pässen für die russischen Minderheiten in den Ländern. In Berlin erinnert man daran, wie Putin in der Krim-Krise den dortigen Beamten versprach, ihre Gehälter drastisch zu erhöhen, wenn die Halbinsel erst russisch sei.
Auch in Polen wächst die Verunsicherung, und der Unmut richtet sich gen Westen. Das eigene Land sei nur Mitglied zweiter Klasse in der Nato, ist in Warschau dieser Tage oft zu hören. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski fordert immer deutlicher eine Rückkehr zu alten Tugenden und Pflichten: "Die Nato muss in Polen das tun, was sie in allen anderen Ländern getan hat: Es gibt Basen in Großbritannien, Spanien, Deutschland, Italien und der Türkei. Das sind sichere Plätze. Doch da, wo Basen wirklich nötig wären, gibt es sie nicht." Es müsse noch viel getan werden, damit das Bündnis die Sicherheitsgarantien aus Artikel 5 auch wirklich geben könne. Es gehe darum, die Nato-Infrastruktur zu schaffen, die es auch im Westen gebe: Flughäfen, Häfen und Kommunikationseinrichtungen.
Tatsächlich hat die Nato nach Ende des Kalten Krieges etliche Jahre keine neuen Operationspläne für einen Angriff aus dem Osten auf einen der neuen Nato-Partner mehr erstellt. Auch wurden keine Truppen in den neuen Mitgliedstaaten stationiert, sondern die Beziehungen zu Moskau gepflegt. Russland sollte fortan Partner, nicht Gegner sein. "Out of area or out of business", so hieß das neue Leitmotiv, entweder engagiere sich das Bündnis außerhalb Europas, oder es könne zusperren.
Dieses Manöver weg von der Landesverteidigung hin zur Weltpolizei holt die Nato nun ein. Aus dem Ende des Kalten Krieges sei der Schluss gezogen worden, so das vertrauliche Nato-Papier für die Verteidigungsminister, "dass jene Fähigkeiten reduziert werden könnten, die dazu benötigt werden, in konventionellen, großangelegten, hoch-intensiven Konflikten in Europa zu kämpfen". In einigen Fällen seien "ganze Fähigkeitsbereiche aufgegeben oder umfangreich reduziert worden".
Zugleich haben viele Nato-Länder ihre Wehretats massiv und ohne nennenswerte Koordination untereinander gekürzt. Im Jahr 2010 hatten laut Nato-Bericht 16 Mitgliedstaaten ihre Ausgaben inflationsbereinigt unter das Niveau von 2008 gedrückt. Im Jahr 2011 galt das für 18 Staaten, und 2014 wird es absehbar für 21 Staaten gelten. Die deutschen Verteidigungsausgaben schrumpften zwischen 2009 und 2014 von 1,44 Prozent des Bruttosozialprodukts auf 1,29 Prozent. Der Durchschnitt aller europäischen Mitgliedstaaten beträgt weniger als 1,5 Prozent; zwei Prozent sind offizielles Ziel der Nato. In einigen Ländern liegt die Quote sogar unter einem Prozent. So könnten die schon jetzt lückenhaften Verteidigungsstrukturen nicht aufrechterhalten werden, heißt es in dem Bericht. Doch für ein Umdenken in Europa gebe es "trotz der Aktionen der Russischen Föderation in den vergangenen Monaten kaum Anzeichen".
Intern werden Nato-Militärs noch deutlicher: Es gebe Schwächen bei Panzertruppen und Infanterie. Die Minen- und U-Boot-Bekämpfung sei ebenso vernachlässigt worden wie die Flugabwehr mit Flak und "Patriot"-Raketen. Piloten würden kaum noch für den Luftkampf trainieren; Übungen mit großen Verbänden - Fehlanzeige. Stattdessen konzentrierten sich die Armeen der Nato-Staaten auf den Häuserkampf in kleinen Einheiten. Fazit: Die Nato hat von der Kraft für einen Bodenkrieg mit großen Truppenverbänden in Europa gefährlich viel eingebüßt.
Lediglich die Schnelle Eingreiftruppe der Nato (NRF) probte 2013 mit rund 6000 Mann bei der Übung "Steadfast Jazz" einen Einsatz in Polen und im Baltikum. "Die Übung zeigte, dass die NRF ihren Auftrag im Baltikum, in Polen oder an jedem anderen Ort in der Allianz erfüllen kann", erklärt eine Nato-Sprecherin.
Dem gegenüber steht eine massiv modernisierte russische Armee. Westliche Militärexperten beobachten seit Längerem, dass Russland seine militärischen Fähigkeiten ausbaut und trainiert. So fliegen russische Langstreckenbomber regelmäßig über die Ostsee in Richtung Großbritannien, russische Piloten absolvieren kontinuierlich mehr Flugstunden, einstmals marodes Militärgerät wird beständig modernisiert. Die Russen, heißt es unter westlichen Militärexperten, "haben inzwischen wieder Fähigkeiten und Systeme, über die man nicht mal eben hinweggehen kann".
Im Herbst 2013 rückten über 60 000 Mann zu einer großangelegten russisch-weißrussischen Militärübung aus. Dabei wurden westliche Radars gestört, sodass das Manöver nicht beobachtet werden konnte. Der Name der Übung: "Sapad-2013" (Westen-2013). Westliche Politiker hätten zu lange "eine gewisse Unterschätzung des russischen Modernisierungswillens gepflegt" und diesen nicht als Bedrohung empfunden, heißt es in Sicherheitskreisen.
Die Nato habe ihre Ostflanke sträflich "vernachlässigt", sagt Roman Kuzniar, Berater des polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski. "Auch wir in Polen haben geglaubt, dass Russland sich ändern und sich Europa annähern will. Dass es nicht mehr in Kategorien von militärischer Stärke und den Einflusszonen wie 19. Jahrhundert denkt. Wir haben uns getäuscht."